Es dürfte eher schwierig sein, den Speziesismus und die Konstruktion des Anderen/Tiers als herrschaftsförmiges Verhältnis und Praxis in Frage zu stellen. Die Frage nach der Art und Methode der Analyse dieses Verhältnisses ist damit aber nicht erledigt und ebenso wenig die Notwendigkeit verschiedene Anti-Speziesismus-Ansätze und -Darstellungen auf ihren emanzipatorischen Gehalt zu überprüfen. Der Text 'Die soziale Konstruktion des Anderen' von Birgit Mütherich zum Beispiel, nicht zuletzt gerade wegen seines expliziten Bezugs auf Kritische Theorie, wirft methodisch und inhaltlich mehr Fragen und Probleme auf, als dass er grundlegend Neues bringt und klärt. Dabei geht es im Folgenden nicht um die - m. E. auch nicht notwendige - Infragestellung des Anti-Speziesismus(/-men) im Allgemeinen, sondern im speziellen um diesen Text und diesen Ansatz. (1) Insofern verstehe ich diesen Beitrag als eine solidarische, aber pointierte Kritik.
Als den ganzen Ansatz durchziehende Problematik ist die praktisch ausschliessliche Fokussierung und damit Reduzierung der Analyse auf die Ebene der symbolischen Ordnung. Symptomatisch zeigt sich dies dann auch in einer geradezu radikalen Abstinenz der Thematisierung von ökonomisch-materiellen Herrschaftsverhältnissen und der fehlenden Analyse ihrer strukturellen Formen. (2) So sinnvoll die Thematisierung der sozialen Konstruktion des Anderen/Tiers für eine anti-speziesistische Kritik wohl ist, darf sich die Analyse nicht darauf reduzieren und soll schon gar nicht als monokausale Begründung für verschiedenste Herrschaftsverhältnisse herhalten. Aber nicht nur bei der Erklärung für diese Herrschaftsverhältnisse, so sie denn Erwähnung finden, argumentiert der Text ziemlich monokausal, sondern ebenso für die Beschreibung des Ursprungs des Dualismus in der sozialen Konstruktion des Anderen/Tiers selbst mit dem Verweis auf das "jüdisch-christliche und antike" "Tiefenbewusstsein". Die weiteren Beschreibungen der sozialen Konstruktion rekurrieren dann in variierender Form auf diese "Urbegründung". Eine solche monokausale Fundierung muss methodische Fragen aufwerfen, wenn - als Gegenthese - davon ausgegangen wird, dass gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse sich in einer komplexen Form von Widersprüchen und Kontingenzen entwickeln und es auch kein alleiniges Schlüsselelement zu deren "einfachen" Überwindung geben kann. Methodisch ist dann bezüglich der monokausalen Darstellung auch zu fragen, ob nun der Speziesismus der neue Hauptwiderspruch sein soll, nachdem der Feminismus in den siebziger Jahren dem Arbeiterbewegungsmarxismus bezüglich der Kapitalismuskritik dieses Privileg berechtigterweise (3) madig gemacht hatte.
Die monokausale Erklärung in der sozialen Konstruktion des Anderen/Tiers für alle (erwähnten) Herrschaftsformen - selbst wenn dies nicht die Intention des Textes war, tut er dies faktisch - wird die Beschreibung jeglicher anderer Ursprünge dieser Herrschaftsformen ausgeklammert. Mindestens etwas ausführende Andeutungen dazu wären bei der Länge des Textes wohl möglich gewesen. So bleibt zum Beispiel die Betrachtung ökonomisch-materieller Verhältnisse des Kolonialrassismus analytisch ausgespart. (4) Anstatt eine historische Genealogie konkreter Herrschaftsformen vorzunehmen, scheint die soziale Konstruktion des Anderen/Tiers diese sämtlich zu begründen. Wie falsch das Überstülpen dieses Ansatzes in dieser Generalisierung wird, zeigt sich bei der Analyse von Antisemitismus. Diese Analyse verfehlt der Text vollständig. Er unterstellt, dass Antisemitismus in der Logik des Tier-Konstrukts "den Juden" als zurückgeblieben etc., wie es für "den Wilden" gemacht wird, charakterisiert. Das ist für den modernen Antisemitismus, jedenfalls in seinen Grundfiguren, schlichtwegs falsch und verfehlt auch den Antijudaismus. Dagegen sprechen auch nicht die Tiermetaphern ("Ungeziefer" u.ä.) der nazistischen Propaganda gegenüber JüdInnen. "Der Jude" wird im modernen Antisemitismus und dessen "verkürzten" Kapitalismuskritik gerade mit Moderne, Kosmopolitismus, Aufklärung, Kommunismus, Intellektualismus etc. identifiziert und nicht mit Rückständigkeit und Natur.
Nebst dem Methodischen stellt sich für die monokausale Erklärung zudem inhaltlich die Frage, warum dieser kultur-religiös verortete Ursprung des Dualismus und Naturverständnisses/-verhältnisses so exklusiv und zentral gestellt wird. Wenn dies zeitlich eingeordnet wird, wobei dazu die Verwendung des Wortes "jüdisch-christlich" irreleitend ist, liegen die zeitlich am weitesten zurückliegen Wurzeln im Judentum. Teile des spirituellen Feminismus machen für den Ursprung des Patriarchats (5) in einem ganz ähnlichen Bezug auf den jüdischen Monotheismus das Judentum für das Patriarchat verantwortlich. Die Diskussionen dort haben die Grenze zum offenen Antisemitismus teilweise bereits überschritten. (6) Damit möchte ich dem Text von Mütherich keinen Antisemitismus unterstellen, schon gar nicht einen beabsichtigten, aber deutlich darauf hinweisen, dass diese Verkürzung und Generalisierung eine "offene Flanke" zum Antisemitismus hat.
Wie brisant solche Bezüge werden, wird auch in dem Textabsatz deutlich, der darlegt, dass der Überlegenheitsanspruch des Menschen bereits auf dem Topos des (jüdischen) "auserwählten Volkes" basiere. In demselben(!) Absatz wird daraus dann die Opposition "ArierIn/NichtarierIn" hergeleitet. Der Topos des "auserwählten Volkes" ist ein gern bemühter Stereotyp im christlichen Antijudaismus und im Antisemitismus. Einiges mehr an Wohlüberlegtheit bei der Wahl und der Herleitung von Zusammenhängen ist spätestens an der Stelle wünschenswert. (7)
Ein ebenfalls inhaltliches, wie auch methodisches Problem ist der lange Zeitraum für den dieser Dualismus und dieses Naturverständnis mehr oder weniger unverändert existiert haben soll. Die unvermeidbare Generalisierung für solch lange Zeiträume ist nicht nur problematisch, was ihre "Archäologie-Poesie" betrifft, die meist mehr mit Rückprojektionen bürgerlicher Gesellschaftsverhältnisse auf vorhergehende Epochen zu tun hat, als mit den damaligen Verhältnissen selbst, sondern unterschlägt in holzschnittartiger Weise zum Beispiel auch die wesentlichen Veränderungen im Naturverhältnis und den Vorstellungen von Naturbeherrschung, wie sie ab der Aufklärung (8) und später nochmals radikal mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften ab dem 17./18. Jahrhundert erfolgten.
Die Konzentrierung bei der Darstellung des dualistischen Denkens auf die symbolische Ordnung und damit analytisch völligen Vernachlässigung materieller Verhältnisse hat aber auch einen inneren Widerspruch. Mit der Dethematisierung von materiellen Verhältnissen schlägt sich der Text auf die Seite des Idealismus und der Kultur als alleinige und ausschliessliche Begründung und Analysekategorie. Mütherich wiederholt damit methodisch den von ihr kritisierten Dualismus von Geist/Materie, Kultur/Natur etc. und setzt damit diese idealistische Tradition fort. Politisch mündet ein solcher Ansatz dann auch meist in Moral-, Bewusstseins- und Identitätspolitiken, wie sie im Anti-Spe nicht ganz selten anzutreffen sind.
Wie emanzipativ und herrschaftskritisch kann eine Analyse sein, in der die kapitalistischen Verhältnisse nicht ansatzweise Miterwähnung finden? Dabei müssten die kapitalistischen Verhältnisse nicht als allein herrschaftsbildend und -strukturierend betrachtet werden, aber ohne eine solche Miterwähnung ist eine aktuelle Herrschaftskritik - so meine These - wohl auch nicht zu leisten. Kapitalismus nur als eine spezifische Form des seit angeblich 2000 bis 4000 Jahre immer währenden und gleichen Strebens nach Naturbeherrschung zu denken, greift dann für eine Analyse doch etwas arg kurz, wenn auch nur im Entferntesten daran gedacht wird, in aktuelle gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen.
Insgesamt fragt sich damit, welche sozialen Eliten, die sich nicht mit den sozialen und ökonomisch-materiellen Verhältnissen auseinandersetzen müssen und vielfach auch nicht wollen, mit diesem Ansatz adressiert werden. Damit einhergehend fehlt dann symptomatisch im Text auch die Nennung von Herrschaftsformen des Klassismus (9), der sich selbst in dieser Darstellung der sozialen Konstruktion des Anderen/Tiers als Beispiel für abwertende Tier-Metaphern, die gegenüber sozial Unterprivilegierten in Anschlag gebracht werden, anbieten würde.
Angesichts fundamentaler Probleme in diesem Ansatz muss sich die Anti-Spe-Szene die Frage stellen lassen, warum dieser Text/Ansatz immer wieder als Grundlagentext herumgeboten wird?!
Anmerkungen
(1) Ich konzentriere mich auf die Grundlinien des Textes und mache keine "philologische Textexegese". Im Einzelnen wären auch Begriffsverständnisse zu diskutieren, wie zum Beispiel der ziemlich positivistisch anklingende Biologie-Begriff am Ende des Mütherich-Texts.
(2) Vielleicht ist das Bild zu dem Text im Blog nicht ganz zufällig. Das Fehlen von "fight capitalism" in der Aufzählung reproduziert das Problem auch im Bildslogan.
(3) Daraus muss dann aber nicht folgen, dass eine fundamentale Kapitalismuskritik passé ist, wie das leider nicht unwesentliche Teile des Feminismus schlussfolgerten.
(4) Zum Zusammenspiel von symbolischer Ordnung und ökonomisch-materieller Verhältnisse finden sich im Buch von Eske Wollrad 'Weisssein im Widerspruch', erschienen im Ulrike Helmer-Verlag, als Beispiele die britische Kolonialpolitik gegenüber den Aborigines oder auch der "dunkle Teint" der deutschen EinwandererInnen in Amerika. Umfassender damit beschäftigt sich das schon etwas ältere und vergriffene, aber immer noch lesenswerte Buch 'Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem' von Albert Wirz.
(5) Zur Frage (und den "Untiefen" der Diskussion) über den Ursprung des Patriarchats in Viehzuchtgesellschaften etc. und der oft mitimplizierten Existenz eines Matriarchats in der vorhergehenden Zeitepoche gibt es eine Darstellung von Uwe Wesel mit dem Titel 'Der Mythos des Matriarchats', erschienen als suhrkamp-Taschenbuch.
(6) Dokumentiert und diskutiert wird dies z.B. von Birgit Schmidt in ihrem Bändchen 'Freundliche Frauen', erschienen im Alibri-Verlag.
(7) Warum im dem Text tatsächlich auch noch der Begriff "Zigeuner" oder auch "Naturvölker" unkritisch verwendet wird, ist mir allerdings auch nicht so recht erklärlich. Aber lassen wir das.
(8) Meist wird hier stellvertretend René Descartes genannt. Mit dieser Nennung wird natürlich (auch hier) die idealistische Vorstellung reproduziert, Epochen würden von Genies und "grossen Idden"/Männern geprägt und geformt.
(9) Eine Einführung zu diesem Begriff gibt das gleichnamige Bändchen von Andreas Kemper und Heike Weinbach, erschienen im Unrast-Verlag.
* Der folgende Beitrag bezieht sich auf den Text 'Die soziale Konstruktion des Anderen - ein Beitrag zur Diskussion um Antispeziesismustheorie' von Birgit Mütherich (linksunten.indymedia.org/de/node/31429) und gehörte exakter Weise in den dortigen Kommentarteil. Allerdings möchte ich den Beitrag wegen seiner Länge und aus anderen Gründen nicht dort platzieren. Deshalb hier als neuer selbständiger Eintrag.
zum weiterlesen
http://translationcollective.wordpress.com/2010/02/25/vom-ernten-toter-e...
Eine neue politische Agenda der Befreiung von Mensch und Tier
Es tut sich ja durchaus etwas in der Tierbefreiungsbewegung, was den oben kritisierten Ansätzen entgegensteuert. Am 27. August etwa lud die ehemalige Tierrechts Aktion Nord (TAN) nach Hamburg zu einer Diskussionsveranstaltung, um ihre Umbenennung und ihre neue politische Agenda bekannt zu geben. Hierbei wurde auch betont, dass als historisch real gewordene, gemachte Differenz der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht einfach in poststrukturalistischer Manier, etwa durch den Hinweis, man müsse dualistische Ideologien überwinden oder einen nicht-speziesistischen Sprachgebrauch erfinden, zu „dekonstruieren“ ist. Der Mensch-Tier-Dualismus ist eben nicht die Grundlage der Ausbeutung – das wäre idealistisch gedacht –, sondern ein nachträgliches Konstrukt zur Legitimierung der Ausbeutung. Speziesismus bezeichne eine Ideologie, die eine bestimmte Phase der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet und sollte nicht auf frühere Zeiten zurückprojiziert werden. Speziesismus, wie wir ihn heute verstehen, sei erst mit der bürgerlichen Aufklärung entstanden und setze bestimmte mit ihr verbundene Ideen wie etwa die der Freiheit des Individuums voraus. Beim Speziesismus handelt es sich also um eine klassische Ideologie: Speziesimus ist notwendig falsches Bewusstsein, dessen Ursache in den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen liegt und das den Blick auf die kapitalistische Gesellschaft verschleiert und verstellt. Wesentliche Grundlage der Tierausbeutung in der momentanen gesellschaftlichen Formation sei nicht der Speziesismus, sondern die kapitalistische Produktionsweise. Antispeziesismus auf der Höhe der Zeit müsse deshalb notwendig antikapitalistisch sein bzw. Teil des Klassenkampfs.
Mehr dazu: http://www.assoziation-daemmerung.de/ und http://asatue.blogsport.de/2011/09/19/assoziation-daemmerung-gesellschaftstheorie-ideologiekritik-und-klassenkampf/
Re: Eine neue politische Agenda der Befreiung...
Auch wenn ich die Einschätzung teile, dass der Kapitalismus zumindest auf Makroebene für aktuelle Gesellschaftsstrukturen die hegemoniale Herrschaftsform ist, möchte ich nicht wieder hinter die feministische Kritik am "Hauptwiderspruch-Denken" zurückfallen. Und auch wenn den kapitalistischen Produktionsverhältnissen diese dominante Rolle zufällt (eine generelle Präferierung wirft aber immer Probleme auf, die mich an die "Opferkonkurrenz" in anderen Diskussionen erinnern), determiniert diese nicht einfach alle anderen Herrschaftsverhältnisse und erklärt diese auch nicht in der Form einer "einfachen" Ableitung. Eine solche Analyse wäre eben auch eine monokausale Verkürzung und verkennt bzw. erschwert damit auch das Verstehen widersprüchlicher Verflechtungen zwischen diesen Herrschaftsverhältnissen. Verschiedene historische Genealogien, die einander nicht widersprechen müssen, schliessen sich bei der Beschreibung von verschiedenen Herrschaftsverhältnissen nicht a priori aus. Marx Begriff und Beschreibung der "ursprünglichen Akkumulation" als Beispiel einer solchen Genealogie muss der Beschreibung der Entwicklung verschiedener Geschlechterbilder wie das z.B. Thomas Laqueur anhand des Ein- und Zwei-Geschlechtermodells als Element einer solchen Genealogie bzgl. den Geschlechterverhältnissen getan hat, nicht entgegenstehen. Und das eine kann auch nicht vollständig aus dem anderen heraus erklärt werden bzw. lässt sich durch Überwinden des einen nicht automatisch das andere Herrschaftsverhältnis überwinden. Natürlich sind das Herrschaftsverhältnisse derselben "einen" Gesellschaft und das analytische Teilen und "Ausbeinen" der gesellschaftlichen Verhältnisse in dieses und jenes Herrschaftsverhältnis bleibt eine auf Kategorien- und Begriffsbildungen genötigte Analyse und ist in diesem Sinne "hilflos". Allerdings ist mir unklar, was mit einer behaupteten Gleichursprünglichkeit gewonnen sein soll. Herrschaftsverhältnisse können auch ohne eine solche in ihren Gemeinsamkeiten analysiert werden und ebenso schliessen verschiedene Ursprünglichkeiten politisch und strategisch nicht aus, dass ich mich auf ein einzelnes solches Verhältnis konzentriere oder es als hegemonial bezeichne. Einen intersektionaler Ansatz verstehe ich in diesem Sinne und nicht im Sinne einer Einursprünglichkeit. Allerdings finde ich den Begriff Intersektionalität mehrfach missglückt. Nicht nur, dass mich seine Unverständlichkeit arg an akademisches Elite-Abgrenzungsgebaren erinnert, mit dieser Wortwahl - gegenüber "tripple oppression" u.ä. - findet (gezielt?) eine Entnennung statt, dass es dabei um Herrschaftsverhältnisse - Foucault'scher Machtbegriff hin oder her - geht. Zudem werden mit diesem Begriff öfters - bewusst oder unbewusst - frühere Diskussionen, wie eben tripple oppression, ausgeblendet und nicht weitergeführt (passiert bei Andre Gammerschlag http://linksunten.indymedia.org/de/node/48913 nicht, worauf ich diese Kritik explizit nicht beziehe).
Zwei Beispiele, die sich allerdings beide nicht auf den Speziesismus beziehen, bei denen für die Erklärung eine kapitalistische Ursache für die Analyse wenig dienlich oder sogar falsch wird: Aus kapitalistischen Verhältnissen kann m.E. nicht ausreichend erklärt werden, warum in Deutschland "Weiss(sein)" so stark mit "Deutsch(sein)" in Verbindung gebracht wird. Auch Verweise auf internationale Arbeitsteilung, in der koloniale Strukturen nachhallen, oder auf "billige Arbeitskräfte" etc. etc. erklären nicht ausreichend, warum Rassismus in Deutschland diese(!) Form annimmt. Oder, als zweites Beispiel, eine allein auf Kapitalismuskritik konzentrierte Erklärung wird den Widerspruch zwischen patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft nicht befriedigend beantworten, warum Frauen, als durchschnittlich minder entlohnte Arbeitskräfte gegenüber Männern, lange Zeit nicht oder nur in ganz bestimmten Phasen für den kapitalistischen Arbeitsprozess rekrutiert wurden. Aus der Logik der (absoluten) Mehrwertsteigerung hätten mindestens einige Betriebe auf die Idee kommen müssen, Billiglöhne von Frauen als Konkurrenzvorteil einzusetzen und Männer zur Gratisarbeit an den Herd aufzufordern. Offenbar war die patriarchale Bande zwischen "männlicher" Arbeit und Kapital stärker als (evtl. auch nur kurzfristige) Surplusprofite.
Was die allgemeine Kritik an der Analyseebene der symbolischen Ordnung betrifft, glaube ich, dass ein einfaches Poststrukturalismus-Bashing - ausser "den Eingeweihten und den Gläubigen" - wenig zur Klärung beiträgt, um was es bei der Kritik an einigen Ansätzen im Anti-Speziesiemus - eine Intention, die wir offenbar teilen - gehen könnte. Meine Kritik am Ansatz von Birgit Mütherich habe ich deshalb vor allem als immanente Kritik formulieren wollen, auch wenn poststrukturalistische Fundis beim Begriff "ökonomisch-materiell" vermutlich Zuckungen bekämen. Mütherich bezieht sich zudem offener auf die Kritische Theorie als auf den Poststrukturalismus, von dem sie sich aber sicherlich auch oder vielleicht sogar mehr bedient.
Ich halte es nicht für kategorisch falsch und politisch in jedem Fall für problematisch die symbolische Ordnung als eine unter anderen Analyseebenen mitzuberücksichtigen. Wie meine in diesem Sinne immanente Kritik an Mütherich zeigen soll, ist damit noch nicht geklärt, wie eine Analyse auf dieser Ebene aussieht, welche Elemente aus dem Poststrukturalismus als Werkzeuge brauchbar und wie sie materialistisch gewendet werden können, oder wo dies nicht sinnvoll möglich ist. Wenn es z.B. in linken Strukturen um die Diskussion linken Mackertums geht, hilft mir eine solche Analyseebene konkret öfters weiter, als eine (abstrakte) Zurückführung auf eine Kapitalismuskritik. Aber auch die aktuellen Kritiken am modernen Subjekt und dem bürgerlichen Individuum verdanken einiges den poststrukturalistischen Diskussionen, auch wenn diese Kritiken - vor allem in "Konkurrenz" mit der Kritischen Theorie - nicht deren einziges Verdienst sind. Ich sehe nicht ein, warum dies immer gegeneinander ausgespielt werden muss, auch wenn unter dem Label Poststrukturalismus viel "Quark verbraten" wird. Ganz ehrlich - wäre das "Quark verbraten" das Kriterium, würde ich auch auf eine marxistische Analyse verzichten.
Ergänzungen
Der Text von Mütherich verspricht ja viel – vielleicht etwas zuviel. Grundsätzlich scheint es mir sinnvoll nach Konstruktionen zu fragen, statt in einem abstrakten Raum und metaphysischer Manier die Grenze zwischen Tier und Mensch bestimmen zu wollen. Gerade poststrukturalistische Ansätze eigenen sich in meinem Verständnis gut dazu herauszuarbeiten, wie in Gesellschaften diskursiv das Verhältnis von Mensch und Tier hergestellt und gestaltet wurde und gelebt wird (das ist das, was Foucault im Blick hat). Damit verstehe ich diskursiv nicht im Sinne von ‚sprachlich’, sondern in einem umfassenderen Sinne: Als Praktiken von Institutionen, als eine Art und Weise die Welt wahrzunehmen und zu strukturieren, als Handlungsweise und als Existenzweise (Maihofer). Damit würde sich ein Gegensatz von ‚symbolisch’ und ‚materiell’ auch nicht so krass eröffnen, wie das nun hier in dieser Diskussion der Fall ist. Zudem widerspricht in meinen Augen ein so verstandener konstruktivitische Ansatz einer Annahme einer „Tiefenkultur“, wodurch alle Phänomene bloss Spielformen dieser einen unantastbaren Konstellation sein sollen.
Es scheint mir nicht auf der Höhe der Diskussion der Gender Studies und Rassismusforschung zu sein, wenn nun die ontologische Kluft zwischen Mensch und Tier als Ausgangspunkt jeglicher Unterdrückungsformen genommen wird – das hast du ja schon deutlich gemacht. Ich würde da noch präszisieren, dass damit auch vieles unter den Tisch fällt, was diskutiert und analysiert werden müsste: Wie denn das genaue Zusammenspiel zwischen verschiedenen Herrschaftsformen funktioniert. Nimmt man die Mensch-Tier Dichotomie als Grundlage, muss man bspw. nicht mehr Fragen, wie denn gerade mit dieser Kritik rassistische Äusserungen gemacht werden können – was sich zur Zeit in Bezug auf Geschlecht in den letzten Jahren sehr schön beobachten lässt: Die anti-islamische Stimmung läuft wesentlich darüber, dass die arme Muslima offensichtlich von den Männern unterdrückt wird. Ein solch unaufgeklärtes Geschlechterverständnis können wir in unserer Gesellschaft nicht akzeptieren, das legitimiert eine Verschärfung von Einwanderungsbedingungen. Mit solchen Argumenten lassen nehmen Feministinnen aktiv an der rasstischen Auseinandersetzung teil. Die Anti-Spe Bewegunge sollte sich davor hüten, in die gleichen Fallen zu tappen.
Zusätzlich zu deiner Kritik bin ich der Meinung, dass der Text von Mütherich gerade eine Art von Herrschaft nicht in den Blick bekommt und fortschreibt: den Eurozentrismus. Von der Rhetorik her könnte man meinen, dass hier ein bestimmtes Bewusstsein vorhanden ist, wenn explizit das okzidentale Europa genannt wird. Aber leider werden einige altbekannte Figuren unreflektiert wiederholt und kommen als einfache Setzungen daher. Die westliche Kultur soll eine Sonderstellung haben – das wird nicht weiter begründet. Diese ins Negative gedrehte teleologische Annahme wiederholt bloss die Vormachtstellung Europas unter einem anderen Vorzeichen. Das wird spätestens dort hoch problematisch, wo von dieser westlichen Sonderstellung ohne Probleme auf ein menschliches Problem geschlossen wird. Das teleologische Moment wird auch mit der Art und Weise, wie in diesem Text Geschichte geschrieben wird, schön wiederholt. Ich finde es ziemlich müssig, Griechenland und die Antike als Ursprung des Westens anzusehen (was übrigens eine Errungenschaft des 18. Jh. ist) und es wäre einiges spannender, nach kolonialen und postkolonialen Einflüssen zu fragen. Immerhin hat sich das instrumentelle Verhältnis zur Natur zu einem Zeitpunkt durchgesetzt, als Frankreich und England dabei waren, weite Teile der Welt zu unterwerfen und den Sklavenhandel aufzubauen. Die Einsichten Mütherichs bleiben damit ein Teil der ‚okzidentalen Selbstvergewisserung’ (Brunner).
Als letzte Ergänzung: Es ist schade, dass Mütherich letztlich in der Dualität Mensch-Tier hängen bleibt. Das wird so nur als Opfer diskutiert, sie schreibt den Tieren explizit mangelnde Wehrhaftigkeit zu (damit schreibt sie in meinen Augen gerade die ontologische Kluft fest, die sie kritisiert). Die spannende Frage wäre ja, wie eine solche Binarität durchbrochen werden kann und ein erster Ansatzpunkt wäre zu kucken, wie sich denn die Tiere wehren oder auch, welche Art von Kommunikationen zwischen Mensch und Tier existieren, ob es Formen des Zusammenlebens von Mensch und Tier gibt, die nicht hierarchisch ist.