Die Stadt, die keine ist

von-postzivilsiertem-Leben

Wie nennen wir eine Stadt, die keine ist? Keine Ahnung.

Aber das Label, das wir verwenden, ist nicht wirklich wichtig. Interessanter ist die Frage, wie eine Stadt, die keine ist, aussieht. Urbanisierung ist eines der Hauptmerkmale, welche die Zivilisation von anderen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens unterscheiden. Wenn wir versuchen, die Zivilisation hinter uns zu lassen, dann sollten wir uns das Phänomen der Urbanisierung genauer ansehen.

 

Mein Wörterbuch erklärt mir, dass eine Stadt eine "große Gemeinde" ist. Das allerdings wirft die Frage auf, was unter einer "Gemeinde" zu verstehen ist. Darauf hat mein Wörterbuch die folgende Antwort: "Eine Gemeinde ist ein menschlicher Siedlungsraum, der einen Namen, klar definierte Grenzen und eine Regierung hat." Diese Erklärung verdeutlicht unmittelbar, wo die Probleme der Städte liegen.

 

Das mit der Regierung ist für mich leicht abzufertigen. Ich bin Anarchist. Ich glaube nicht an den Staat oder an Regierungen. Ich wehre mich gegen die Idee eines zentralen Verwaltungsapparates, der alle Entscheidungen trifft. Und ich wehre mich dagegen, dass ich nicht mehr tun darf, als eine Person zu wählen, die alle Entscheidungen für mich trifft. Ich bin viel eher an individueller und kollektiver Selbstregierung interessiert. Ich nehme an, ihr kennt den alten Witz: Demokratie bedeutet, dass zwei Schafe und drei Wölfe entscheiden, was es am Abend zu essen gibt. Gut, zumindest in den Kreisen, in denen ich mich bewege, ist das ein beliebter Witz.

 

Es gibt haufenweise Literatur über Anarchismus, "horizontale Organisationsformen" und ähnliche Sachen, also werde ich mich hier nicht länger damit aufhalten.

Wenden wir uns lieber dem nächsten Problem der Stadt zu, das die Definition des New Oxford American Dictionary offenbart, nämlich den "klar definierten Grenzen". Diese Grenzen zählen, wenn ihr mich fragt, zu den deutlichsten Beweisen für den pathologischen Charakter der Zivilisation. Eine Gebirgskette hat keine klar definierten Grenzen, sie hat ein Hügelvorland. Auch ein Sturm hat keine klar definierten Grenzen und mein Geschlecht auch nicht.

 

Labels können als Beschreibungen nützlich sein, aber das heißt nicht, sich selbst oder Regionen in "klar definierten Grenzen" einzusperren. Abgesehen davon, dass das illusorisch ist (Grenzen sind immer durchlässiger als wir es glauben), führt es zu allen möglichen Arten von Horror, etwa zu Nationalismus. Nehmen wir ein Beispiel: Ich bin Veganer_in. Ich verwende den Begriff, weil das die einfachste Weise ist zu beschreiben, was ich esse. Ich fühle mich von dem Begriff jedoch nicht definiert. Ich habe keine nationalistischen Gefühle, wenn es um Veganismus geht. So ist mir beispielsweise völlig egal, was du isst (oder zumindest so ziemlich). Ich hasse nur industrielle Tierhaltung und will nichts mit ihr zu tun haben.

 

Städte haben also Regierungen und klar definierte Grenzen. Gut. Aber ohne mich!

 

Der Anti-Zivilisationstheoretiker Derrick Jensen hat Städte als Orte definiert, an denen Menschen in einer solchen Dichte leben, dass ein permanenter Import von Ressourcen notwendig ist (das ist meine Zusammenfassung). Jensen meint, dass das solange gut geht, solange es keinen Mangel gibt und alle Menschen zu tauschen haben. Wenn das nicht der Fall ist, kommt es zu Konflikt.

 

Für mich ist diese Überlegung das dritte Argument gegen die Stadt, wie wir sie kennen.

 

Allerdings können wir städtische Lebensformen nicht völlig aufgeben. Angesichts der heutigen Weltbevölkerung würde die Erde vollständig zerstört, wenn Menschen nicht an dicht besiedelten Orten lebten.

 

Und dann gibt es da noch etwas: Um ehrlich zu sein, ich lebe gerne in der Stadt. (Oder sagen wir: in vielen Städten, da ich nomadisch bin.) Natürlich mag ich auch die Wildnis, aber sie kann nur Wildnis bleiben, wenn es Städte gibt.

 

Städte sind ein Brennpunkt des Multikulturalismus, der unsere Welt so interessant macht. In Städten entstehen Ideen. In Städten finden Menschen zueinander.

Offen gestanden habe ich kein großes Problem damit, wenn wir unsere urbanen Räume auch weiterhin als "Städte" bezeichnen und nur die Bedeutung des Wortes ändern. Natürlich könnte dasselbe Argument in Bezug auf das Wort "Zivilisation" gelten, aber meine persönliche Meinung ist, dass dieses Wort zu sehr in Blut getränkt ist, um es zu bewahren. Und ist es wirklich notwendig, ein Wort für die "am meisten fortgeschrittene Gesellschaft" zu haben? Mich persönlich interessiert dieses lineare Fortschrittsdenken nicht. Aber gut, das ist ein anderes Thema...

 

Die Nicht-Stadt


Wenn wir also keine Regierung, keine klar definierten Grenzen und keinen permanenten Import von Ressourcen wollen, dann lasst uns doch einfach versuchen, uns eine Stadt ohne diese Aspekte vorzustellen - eine aufregendere, nützlichere und freiere Stadt.

 

Je mehr ich über Stämme lerne (die sich sowohl von kleinen Gruppen als auch von Zivilisationen unterscheiden), desto attraktiver finde ich sie als Gesellschaftssystem. Ich dachte immer, dass ein Stamm eine Art ausgedehnte Familie sei, eine homogene Gruppe, in die du geboren wirst und der du nur durch Heirat oder Isolation entkommen kannst. Doch es zeigt sich, dass ich unrecht hatte.

 

Soweit ich die anthropologische Forschung verstehe, sind Stämme heterogen und haben offene Grenzen. Menschen und Ideen bewegen sich zwischen ihnen auf Weisen, die Nationalstaaten nie erlauben würden.

 

Ich sehe eine Stadt ohne Regierung oder klar definierte Grenzen als Raum, der von einer großen Anzahl sich überlappender Stämme (oder, wenn ihr wollt: Kulturen) geteilt wird.

 

Das ist es schließlich, was Städte unter der Fassade der von ihren Regierungen auferlegten Homogenität immer waren: sie ändern sich von Viertel zu Viertel, von Gebäude zu Gebäude, selbst von Zimmer zu Zimmer. Mein Bild von New York (oder Amsterdam oder wo auch immer ich gelebt habe) kann sich völlig von dem New-York-Bild anderer Menschen unterscheiden, auch wenn wir die gleichen Straßen entlangwandern – alles hängt davon ab, in welchen Kreisen wir uns bewegen. Abgesehen davon, dass wir eine gewisse Infrastruktur teilen – etwa die U-Bahn –, könnten wir genauso gut in unterschiedlichen Städten leben.

 

In der Geschichte wurde immer wieder mit egalitären Organisationsformen experimentiert, die sich gegen Regierungshierarchien richteten. Die Erfolge waren oft ermutigend, doch der Staat setzte sich dank seiner unbarmherzigen Gewalt immer wieder durch. Was mir vorschwebt, ist eine Föderation von Stämmen (oder Kulturen oder meinetwegen auch Gewerkschaften, wenn ihr so etwas mögt), die gemeinsam die Entscheidungen für die Stadtbevölkerung treffen.

 

Ich werde des Öfteren gefragt, was eine derart weitgehende Dezentralisierung für professionelle Spezialisierung und komplexe Wissenschaft bedeuten würde – sagen wir, die Weltraumforschung. Meine Antwort ist, dass wir alle unterschiedliche Prioritäten haben. Die Menschen, die in den Weltraum reisen wollen, können ihre diesbezügliche Forschung betreiben. Und wenn andere das unterstützen wollen, steht es ihnen frei, das zu tun.

 

Meine persönliche Ansicht ist, dass es schwierig sein wird, mich von ökologisch nachhaltigen Formen der Weltraumforschung zu überzeugen, aber unmöglich ist wohl nichts. Es gibt im Übrigen einen Roman dazu. In My Journey with Aristotle to the Anarchist Utopia erzählt Graham Purchase von ökologisch orientierten und gewerkschaftlich organisierten Weltraumpionieren, die an Satelliten aus Biokunststoff arbeiten. Verrückt? Natürlich. Das gilt für alle interessanten Ideen.

 

Nachhaltigkeit


Das Profitmotiv des Kapitalismus muss durch ein Nachhaltigkeitsmotiv ersetzt werden. Wir kennen den gewöhnlichen Einwand: "Kapitalismus, Profit und Eigennutz sind Teile der menschlichen Natur." Allerdings können wir alle, die das nach wie vor behaupten, schlicht auffordern, sich etwas genauer mit gegenwärtiger anthropologischer und biologischer Forschung auseinanderzusetzen. Der Rolle der Kooperation im Evolutionsprozess wird immer mehr Bedeutung beigemessen.

 

Was tatsächlich zur "menschlichen Natur" gehört, ist das Prinzip der Nachhaltigkeit: unser Überleben hängt davon ab, ob wir es schaffen, im Einklang mit unserer Umwelt zu leben. So einfach ist das.

 

Nachhaltigkeit in urbanen Räumen zu verwirklichen, ist eine besondere Herausforderung. Doch es ist machbar. Wir müssen uns nur ansehen, was Menschen in Bereichen der vertikalen Landwirtschaft, Hydrokultur und Permakultur bereits geleistet haben. Die Landwirtschaft (genauer: die Monokultur) hat uns ursprünglich in den Wahnsinn der Zivilisation getrieben – aber diese innovativen Techniken können uns dort wieder herausholen.

 

Lässt sich im urbanen Raum genug Nahrung anbauen, um den ständigen Import von Ressourcen zu vermeiden? Klar. Warum nicht? Es gibt Dächer und Abertausende von sonnendurchfluteten Zimmern. Dazu kommen schier unmessbare vertikale Flächen.

 

Die Produktion von Gemüse und Obst ist einfach. Das mit dem Getreide und den Proteinen ist schwieriger, aber auch das werden wir hinkriegen.

Bestimmte Aspekte nachhaltigen Lebens lassen sich in dicht besiedelten Räumen sogar leichter einrichten. So braucht in der Stadt nicht jeder Haushalt einen eigenen Kompost. Mehrere Wohnhäuser können zusammenarbeiten. Auch Autos sind nicht notwendig, solange die Stadtplanung vernünftig (das heißt, ökologisch) ist. Wir können zu Fuß gehen und nachhaltige Formen öffentlichen Verkehrs verwenden.

 

Die städtischen Wilden


Die Stadt kann so wild sein wie der Wald. Gebäude kommen und gehen, je nachdem, wie sehr sie gebraucht werden. Eine zentrale Planung ist dafür nicht notwendig. Es gibt eine natürliche Entwicklung und die biologische Vielfalt ist enorm. Die Stadt – oder die Nicht-Stadt oder wie auch immer – kann leicht das Zuhause der Menschen sein, die wieder zur Wildheit gefunden haben: das Zuhause der Post-Zivilisierten.

 

 

Text von Margaret Killjoy

Übersetzung vom AAP-Kollektiv

Gedruckt erschienen in der Broschüre "Von post-zivilisiertem Leben und Städten, die keine sind. Visionen einer anarchistischen zukunft", erhältlich via Black Mosquito

 

Text 1 der Broschüre: Eine Einführung in post-zivilisiertes Denken

Text 2 der Broschüre: Kooperatives Sammeln

Text 3 der Broschüre: Post-Zivilisiertes Leben

Text 4 der Broschüre: Wie überlebe ich den Kollaps?

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Aus diesem Text spricht der pure Hass auf alles, was die Menschheit in den vergangenen Jahrhunderten erfunden und entwickelt hat. Mir ist unbegreiflich, wie die Autorin sich einen vorzivilisatorischen Zustand (zurück-)wünschen kann. Außerdem frage ich mich, was bspw. mit den sechs Milliarden Menschen passieren soll, für die kein Essen mehr übrig wäre, wenn wir auf die moderne Landwirtschaft verzichten würden.

Und "ökologisch orientierte und gewerkschaftlich organisierte Weltraumpioniere, die an Satelliten aus Biokunststoff arbeiten"? Soll das ein Witz sein? Für einen Satelliten ist nichts unbedeutender als die Frage, ob einige seiner Teile aus gutem oder aus bösem Kunststoff bestehen. Und dieser Satellit soll von einer Gesellschaft gebaut werden, die sich ein Leben in "Stämmen" zurückwünscht?

Steinzeit-Anarchisten raus aus der radikalen Linken!

... die "Dialektik der Aufklärung" lesen, das wäre mal was. Dann würde man auch verstehen, wieso sowolhl besinnungslose Fortschrittsgläubigkeit als auch Primitivismus abzulehnen sind.

dieser obige textteil hinterfragt leider nicht die herrschaftsverhältnisse, die notwendigerweise mit forgeschrittenem technologischem ent-wicklungsstand einhergehen. dieser textteil hat nichts mit "steinzeit-anarchismus" oder antizivilisation zu tun.

derrick jensen, auch wenn er zum teil wertvolle impulse gegeben hat, sollte nicht ohne den hinweis auf seine transphobie und autoritarismus erwähnt werden.

den rausschmiss von anarchist*innen aus strukturen zu fordern zeigt, wie autoritär und vor allem unsolidarisch der anarchismus ist.

ein weiterer ismus, eine festgefahrene ideologie, vorwiegend unkritisch mit der europäisch-weißen, genozidalen vergangenheit und gegenwart umgehend! eine ablehnung der aufklärung, des rationalen denkens, des wahrheitsanspruches, der objektifizierung, usw. ist notwendig, (eine kritik reicht nicht aus) um der fortlaufenden zerstörung von (u.a. menschlichem) leben widerstand zu leisten, das sich aus freiem willen gegen die assimilierung weigert. die linke hat sich zum ausführenden arm der zerstörerischen produktivistischen ideologie gemacht, und der anarchismus läuft ihr hinterher.

nieder mit dem anarchismus. es lebe die anarchie!

https://linksunten.indymedia.org/de/node/89393