Gedenken an Pirsûs

Gedenken an Pirsûs

Heute vor zwei Monaten explodierte in Pirsûs (Suruç) an der Grenze zu Syrien eine Bombe, die 33 Menschen in den Tod riss, über 100 wurden - teilweise schwer - verletzt. Die Opfer des Anschlags hatten sich zunächst hier getroffen, um sich danach gemeinsam am Wiederaufbau der durch den IS völlig zerstörten Stadt Kobané zu beteiligen. Da der Gouverneur der Provinz Şanlıurfa den Grenzübergang bis auf Weiteres behinderte, entschlossen sich die 300 grösstenteils jungen Revolutionär*innen, im Garten des Amara-Kulturzentrums eine Pressekonferenz abzuhalten.


Hier verübte ein türkischer Salafist und IS-Anhänger die blutige Tat.

 

Im Gedenken an die Opfer soll hier ein Überlebender zu Wort kommen. L. ist seit mehreren Jahren Mitglied im SGDF (Föderation Sozialistischer Jugendvereine) und berichtet über Hintergründe und Auswirkungen des Massakers.

 

Woher kam die Idee, euch nach Kobané aufzumachen? Wer war am 20. Juli anwesend?

Die Aktion wurde vom SGDF initiiert. Wie viele andere politische Jugendverbände auch, organisieren wir jedes Jahr ein Sommercamp, bei dem wir uns besser kennenlernen und Spass mit politischer Bildung verbinden können. In diesem Jahr haben wir beschlossen, auf das Camp zu verzichten, um nach dem zerstörerischen Krieg gegen den IS unseren Beitrag zu leisten, die Stadt Kobané wiederaufzubauen. Wir vom SGDF versuchen allgemein immer, dort zu helfen, wo Menschen viel gelitten haben. So haben wir zum Beispiel für die Opfer des Erdbebens in Van 2011 Spenden gesammelt. Auch das Erinnern und Verstehen von Menschen, die Schreckliches erlebt haben, ist uns sehr wichtig. Deshalb haben für uns Jahrestage, wie der Jahrestag des Roboski-Massakers am 28. Dezember eine besondere Bedeutung. Ähnlich ist es auch mit Kobané. Dem

Projekt Rojava fühlen wir uns ausserordentlich verbunden. Wir haben von Anfang an gesagt: “Diese Revolution ist auch unsere Revolution.” Mit unserer Hilfsaktion wollten wir unsere Solidarität ausdrücken und eine symbolische Brücke zwischen Südkurdistan und der Türkei schlagen. Mit unseren Prinzipien Frieden, Geschwisterlichkeit und Solidarität sollte auch in den Medien mehr Aufmerksamkeit für die Rojava-Revolution erregt werden. Diesem Ruf folgten viele Mitglieder des SGDF aus der gesamten Türkei. Aber auch Revolutionär*innen aus anderen Organisationen und Parteien sowie Anarchist*innen, FLTIQ* und Öko-Aktivist*innen waren gekommen. Deshalb halten uns faschistische Kräfte für so gefährlich - weil wir niemanden ausschliessen und einfach nur unseren positiven Beitrag leisten wollen.

 

Du meinst also, der Anschlag war ein Einschüchterungsversuch, weil ihr es geschafft habt, verschiedene Menschen (und eben nicht nur aus der kurdischen Bewegung)

für die Rojava-Revolution zu begeistern?

Aber selbstverständlich! Wir hatten Spielzeuge und kleine Bäume in unseren Taschen. Schon vor dem Anschlag hatten wir bereits im Flüchtlingslager in Pirsûs gearbeitet

und Hilfsgüter verpackt. In Kobané wollten wir Spielplätze bauen. Was kann es Beängstigenderes für eine brutale faschistische Bewegung geben als diese vereinte Menschlichkeit? Natürlich steckt dahinter auch der Versuch einer Art “Warnung” für alle türkischen und internationalen Revolutionär*innen, sich nicht mit der Rojava-Revolution zu solidarisieren. Mitglieder des SGDF haben wie gesagt von Anfang an ihre offene Unterstützung für den Kampf gegen den IS und eine autonome Selbstverwaltung ausgedrückt, einige haben sich sogar dem Kampf angeschlossen. Nicht nur dem IS, sondern auch der türkischen Regierung ist diese unverblümte Hilfestellung für ein

revolutionäres Projekt, dann auch noch ein kurdisch geleitetes, ein Dorn im Auge.

 

Du spielst darauf an, dass der Anschlag auch dem türkischen Staat gelegen kam?

Wir sind aus unseren eigenen Beobachtungen davon überzeugt, dass die Polizei zumindest von dem geplanten Attentat wusste, wenn nicht sogar aktive Unterstützung geleistet hat. Du musst dir die Situation vor Ort vorstellen: Wir wurden ständig, auch an diesem Tag, alle intensiv von der Polizei durchsucht. Da ist es verwunderlich, dass jemand mit so einer Menge an explosivem Material nicht aufgefallen ist. Ausserdem sind wir hier in der Türkei, einem Land, das im Moment jede*n politische*n Gegner*in Repression spüren lässt. Wenn wir beide jetzt auf die Strasse gehen und einen Spruch rufen, ist in einer halben Minute die Polizei da, um uns Probleme zu machen. Am Tag der Pressekonferenz war jedoch ungewöhnlicherweise kein einziger Polizist in Reichweite der Bombe. Direkt nach der Explosion jedoch war sofort die Strasse abgesperrt, so dass Krankenwagen nicht zu den Verletzten gelangen konnten. Die Polizei griff sogar mit Tränengas an. Wir hatten den Eindruck, die Massnahmen hätten zum Ziel, dass noch mehr Menschen sterben. Diese Verkettung von Fakten macht es sehr wahrscheinlich, dass der türkische Staat sich einer Mitwisserschaft schuldig gemacht hat, wenn nicht sogar direkt Unterstützung geleistet - kann ein 20-Jähriger bei so einer dermassen “gesicherten” Veranstaltung tatsächlich so etwas durchführen, ohne Hilfe von offiziellen Organen zu bekommen?

 

Hast du das Gefühl, dass mit dem Anschlag die Angst vor einer Unterstützung der Rojava-Revolution gestiegen ist, dass also die Einschüchterung funktioniert hat?

Ich möchte unterstreichen, dass dem nicht so ist: Das Massaker hat die gegenseitige Unterstützung und Hilfe noch bestärkt! Heute wollen tausende Menschen nach Kobané gehen, um dort zu helfen. Es gibt eine neu gegründete Kampagne linker Organisationen, an der sogar die Jugendorganisation der CHP (Sozialdemokratische Partei) beteiligt ist, die sich dem Motto “Kobané’yi beraber savunduk, beraber inşa edeceğiz!” (“Wir haben Kobané zusammen verteidigt und werden es zusammen wieder aufbauen.”) anschliesst. Diesen Satz hatten wir vor dem Massaker zur Bewerbung der Hilfsaktion genutzt. An Gedenkveranstaltungen für die Opfer haben teilweise über 50.000 Menschen teilgenommen. Das zeigt, dass die Menschen sich nicht vor einer Bedrohung ihres eigenen Lebens durch weitere Anschläge fürchten. Auch die Betroffenen arbeiten direkt weiter und haben ihre politischen Tätigkeiten intensiviert.

 

Was waren konkrete Schritte, um das Massaker aufzuarbeiten? Wie geht es für euch weiter?

Wir haben verschiedene Arbeitsgruppen gegründet. Die Betroffenen treffen sich in der Suruç-Solidaritätsgruppe, um das Erlebte gemeinsam zu verarbeiten. Ausserdem gibt es eine juristische Gruppe, die sich mit der rechtlichen Begleitung beschäftigt. In dieser Arbeitsgruppe versuchen ca. 600 Anwält*innen, die genauen Umstände der Tat aufzuklären. Wie ich erwähnt habe, gibt es ja einige Zweifel an der offiziellen Version,

die die gesamte Schuld einem einzigen Attentäter einer Terrororganisation zuschreibt. Die Rechtsanwält*innen haben bereits eine öffentlichkeitswirksame Aktion vor dem Justizministerium in Ankara gemacht, wo sie forderten, dass ihnen die Akten zugänglich gemacht werden. Diese sind im Moment verschlossen, was einer Aufklärung eklatant im Wege steht. Eine dritte Gruppe ist ein Zusammenschluss von Künstler*innen, die sich der Verarbeitung des Massakers auf eine andere Art widmen.

 

Und wie geht es dir damit? Sicher hast auch du langfristige gesundheitliche Schäden erlitten?

Als gesundheitliche Schäden bleiben innere und aeussere Narben. Ich leide unter Schlafstörungen und nehme eine psychologische Beratung in Anspruch. Ausserdem habe ich durch den Knall einen guten Teil meines Hörvermögens eingebüsst. Ich persönlich fühle mich unruhig und rastlos. Nach meinen Verletzungen hätte ich nach ärztlicher Anweisung für zwei Wochen ruhen müssen. Ich bin aber schon am nächsten Tag zu einer Beerdigung gegangen. Weisst du, ich bin seit einigen Jahren politisch organisiert und habe mal mehr, mal weniger gearbeitet. Aber durch dieses Massaker habe ich erfahren, dass es den Tod tatsächlich und wirklich gibt. Um das Redner*innenpult auf der Kundgebung herum hatten wir festgelegte Kreise gebildet. Ich war im zweiten Kreis und wurde von meinen Freund*innen im ersten Kreis vor dem Tod bewahrt. Sie sind gestorben und ich lebe noch. Ich drücke das so aus: “Meine Freund*innen haben für mich ausgeatmet, deshalb atme ich jetzt für sie ein.” Ich nehme mein Leben von nun an als Atem für andere. Ich kann nicht nichts tun. Habe ich vorher ein paar Stunden, vielleicht 4, am Tag politisch gearbeitet, so sind es jetzt 11. Ich denke mir: Wenn so ein unmenschlicher Feind so viel Angst vor uns hat, dass er uns umbringen muss, dann haben wir wohl den richtigen Weg eingeschlagen. Und mit dieser Arbeit werde ich weitermachen, jetzt erst recht!

 

Vielen Dank, dass du dir die Zeit und auch die Kraft genommen hast, darüber zu sprechen!

Kein Problem. Mir ist nur wichtig, dass so viele Menschen wir möglich diese Hintergründe erfahren und sich auf unterschiedlichste Weise solidarisieren.

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