Von der Bühne Rechtspopulismus aus dem Lehrbuch, aus dem Publikum Bibelzitate und Homophobie: Für queer.de war ein junger Stuttgarter erstmals bei dem homophoben Protest.
Erneut hat es am Samstag in Stuttgart eine von der AfD-nahen "Initiative
Familienschutz" organisierte "Demo für Alle" gegen Schulaufklärung über
sexuelle Vielfalt gegeben, zusätzlich angeheizt durch eine Kampagne
gegen einen ebenfalls geplanten Aktionsplan der Landesregierung gegen
LGBT-Diskriminierung (queer.de berichtete).
Nach Polizeiangaben nahmen daran weniger als 1.000 Menschen teil, ein
von einem bunten Aktionsbündnis organisierter Gegenprotest kam demnach
auf rund 500 Personen.
Insgesamt blieb der Nachmittag größtenteils friedlich: Die Polizei
erteilte fünf Platzverweise, auch gab es ein paar Anzeigen wegen eines
Verstoßes gegen das Vermummungsverbot, einer Polizistenbeleidigung und
dem Versuch, einem Teilnehmer der "Demo für Alle" eine Fahne zu
entreißen. Queer.de hat einen jungen Stuttgarter gebeten, uns seine
Eindrücke von dem homophoben Protest zu schildern.
Von Andreas Zinßer
Nach einigen schön warmen Tagen ist es heute wieder kalt in Stuttgart.
Der Himmel ist bewölkt, ein kühler Wind verursacht Gänsehaut. Vielleicht
sind es aber auch die Worte von Birgit Kelle, die über den
Schillerplatz tönen. So genau kann man es an diesem Samstag nicht
zuordnen. Ich stehe mitten in einer Menschenmenge, die zur "Demo für
Alle" gekommen ist, und frage mich, was sie dazu gebracht hat, hier zu
sein. Warum finden die Demos der Gegner von "Gendermainstreaming" und
einer offenen, zur Vielfalt des Lebens stehenden Bildung gerade in
unserer Landeshauptstadt so viel Zuspruch?
Als ich ankomme, weht mir ein kalter Wind entgegen. Die Gesichter der
Menschen sind grau, man sieht ihnen den Unmut über das Wetter an. Gleich
die ersten beiden Damen, deren mit Bibelsprüchen verzierte Plakate ich
fotografiere, verdächtigen mich, dem gegnerischen Lager anzugehören. Ich
kontere: "Gibt es denn zwei Lager? Das ist doch die 'Demo für Alle'."
Das stimmt sie so zufrieden, dass mir gleich auch ihr Pamphlet "5 Ziele
der Gender-Lobby" in die Hand drücken. Ich Glücklicher…
Von der Bühne indes schallt die Begrüßung der 27 Gruppen des
Protestbündnisses. Ausdrücklich werden auch die "Homosexuellen unter
uns" herzlich begrüßt – was die versammelte Menge mit Pfiffen quittiert.
Ich sehe mich um, Menschen jeden Alters sind da: Kinder, Jugendliche,
Erwachsene und Senioren. Was sie vereint, erschließt sich nicht
unmittelbar. Erstaunt stelle ich fest, dass man nur sehr wenige Menschen
eindeutig dem rechten Spektrum zuordnen kann. Hier und da eine
Deutschlandfahne, einmal auch der Spruch "Rot-Grün will den Volkstod".
Ansonsten dominieren die von den Organisatoren herausgegebenen
rosa-blauen Plakate. Interessant, denke ich, dass gerade die, die sich
gegen Indoktrination wehren, selbst gemachte Plakate in ihren
Demo-Regeln untersagen. Trotzdem fallen "hübsche" Transparente ins Auge.
"Keine sexuellen Experimente mit Dildos, Pornos, Sadomaso und 'Puff für
alle' im Schulunterricht" steht auf einem, "Selige Schwester Ulrika,
bitte für uns" auf einem anderen.
Die etwa 800 Menschen lauschen den rechtspopulistischen Aussagen von der
Bühne. Überall am Rand erhasche ich Gesprächsfetzen, bei denen
engagierte Passanten mit den Demonstranten in Diskussionen kommen
wollen. Sie blitzen jedoch samt und sonders ab. Wer anderer Meinung sei,
solle doch bitte zu der "anderen Demo da drüben" gehen. Gemeint ist die
Pro-Vielfalt-Demo "Stuttgart ist und bleibt bunt" auf dem Schlossplatz.
Die Begrüßung aller dunkelhäutigen und behinderten Menschen von der
Bühne lässt mich aufhorchen. Unter den Beteuerungen, man sei gegen
Rassismus und Extremismus, blicke ich mich um. Es sind keine
dunkelhäutigen Menschen da, keine Menschen mit arabischem Hintergrund
und keine Menschen mit Behinderung. Es ist nicht das letzte Mal an
diesem Nachmittag, dass mir die Wirklichkeit von der Bühne mit denen vor
meinen Augen unvereinbar scheint: Die erste Rednerin ist eine Frau aus
Sri Lanka, die sich freut, seit sieben Jahren in deutscher Freiheit
leben zu dürfen. Nun fordert sie in ganzen drei Sätzen die Einschränkung
der Freiheit anderer. Und erhält Applaus.
Während der nächste Redner von der Indoktrination der Kinder an den
Schulen und der ganzen deutschen Gesellschaft an sich schwadroniert,
sinniere ich darüber nach, warum gerade im weltoffenen Stuttgart, in dem
Menschen aus 194 Nationen friedlich zusammenleben, doch wieder so viele
Menschen gegen die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe aufbegehren
wollen. Sind das die Nachwirkungen von 58 Jahren CDU-Herrschaft? Die
Menschen hier sind so unterschiedlich, dass es fast die ganze
Veranstaltung dauert, bis mir klar wird: Die Demonstranten kommen aus
ganz Deutschland. Es sind auch etliche Franzosen dabei, die ihrem Idol
Ludovine de la Rochère von "La Manif Pour Tous" zujubeln wollen. Man hat
sich aus dem württembergischen "Bible Belt" um Tübingen genauso auf den
Weg gemacht wie aus dem Osten Deutschlands.
Dann betritt der Stargast der Demo den Bühnenwagen: Birgit Kelle ruft in
wenigen Worten, mit wenigen Allgemeinplätzen und ihren sattsam
bekannten Scheinargumenten den Menschen genau das zu, was sie hören
wollen. Mir fällt auf, dass die von manchen mitgebrachten Hunde winseln.
So ist mir dann auch zumute. Ich fühle mich sehr einsam in dieser
kalten Masse. Meine Versuche, mit Demonstranten ins Gespräch zu kommen,
scheitern allesamt. Man will mich hier nicht.
Neben vielen Allgemeinheiten und Populismen, denen man gelegentlich fast
zustimmen könnte, wenn man nicht aufpasst und den Kontext außer Acht
lässt, werden auch einige Verschwörungstheorien ausgebreitet, deren
Verworrenheit mich verblüffen. Glücklicherweise ist die Masse hier nicht
so tumb, wie man vermuten könnte. Die Schlussfolgerung der
französischen Dame, dass "Genderideologie" dazu führen wird, dass in
Zukunft nur noch Kinder aus dem Labor geboren würden, quittiert ein
älterer Herr in Soutane neben mir mit: "Absoluter Schwachsinn!"
Von diesem gibt es dann auch mehr als genug. So wird ein Grußwort des
AfD-Landesvorsitzenden Baden-Württemberg verlesen. Von der Vorleserin
wird dann hinzugefügt, dass man sich einig sei, keine Vertreter
politischer Parteien sprechen zu lassen. Das hat Methode: Parteilogos
und ähnliches sollen überklebt werden; die Schüler-Union, mit einem
Plakat "Kein Shades of Grey im Unterricht" erschienen, muss sich dem
etwa fügen. Zugleich lassen sich viele Plakate auch so der AfD zuordnen.
Dann wird es lauter: Im Rücken nehme ich wahr, dass der Platz jetzt
nicht mehr nur von martialischen Polizeihundertschaften, sondern auch
von der Antifa umstellt ist. Ich fühle mich jetzt mehrfach bedrängt. Die
wirren Theorien der Rednerinnen und Redner, die plötzlich in der Luft
liegende Aggressivität, die Rufe der vermeintlich Deutschnationalen, die
Sprechchöre der Antifa, das alles vermischt sich zu einem einzigen
Gedanken: "Genug! Jetzt reicht's".
Man steht einsam da bei der "Demo für Alle", es wird bewölkt und kalt.
So kalt, wie es einem werden muss, wenn man bedenkt, dass die Aussage
aller Sprecherinnen und Sprecher sinngemäß verkürzt werden kann auf die
Formel "Aufklärung = Verwirrung" – ergo: "Selber denken verwirrt den
Menschen bloß!"
Einstellung des Bürgertums
Damals wurde ich mir bis ins Innerste bewußt, daß das deutsche Bürgertum am Ende einer Mission steht und zu keiner weiteren Aufgabe mehr berufen ist.