Interview von Stattweb zur Stuttgarter Kommunalwahl mit Ariane Raad
Auf Platz drei der offenen Liste der Linkspartei für den Stuttgarter Gemeinderat kandidiert die Studentin Ariane Raad. Sie kommt aus antikapitalistischen und außerparlamentarischen linken Strukturen in Stuttgart und ist nicht Mitglied der Linkspartei. Bekannt wurde sie durch ihr Tortenattentat auf Ministerpräsident Oettinger.
Du kandidierst für einen Sitz im Stuttgarter Gemeinderat, obwohl Du sonst in explizit außerparlamentarischen Zusammenhängen wie der „Initiative Sozialproteste Stuttgart“ aktiv bist. Kann aus deiner Kandidatur geschlossen werden, dass Du nun davon ausgehst, dass über den parlamentarischen Weg mehr zu erreichen ist als über Engagement außerhalb der Parlamente?
Nein. Ich beteilige mich auch weiterhin in erster Linie an
Organisierungen und Kampagnen, die von unten organisiert werden und
nicht Teil dieses politischen Systems sind, sondern es in Frage
stellen.
Gerade heute wird der Irrsinn dieses Systems durch die kapitalistische
Krise besonders deutlich: Die Möglichkeit einer Welt in der es genug
Nahrung für alle gibt, in der die notwendige Arbeit auf einen Bruchteil
dessen beschränkt wird, was heute durch das kapitalistische Chaos von
vielen geleistet werden muss, in der Umweltschutz und nachhaltige
Energiegewinnung Vorrang haben, ist längst gegeben. Statt einer
Entwicklung in diese Richtung erleben wir aber das genaue Gegenteil –
alle gesellschaftlichen Bereiche werden nach Profitinteressen
umstrukturiert, die Umwelt immer weiter zerstört, Kriege geführt und
die Armut vergrößert. Von denen die von diesem System profitieren wird
stets behauptet, es ginge nun mal nicht anders, viele glauben das oder
geben sich mit dem bisschen Wohlstand das sie ergattern konnten
zufrieden, viele sind aber auch einfach frustriert und denken sie
könnten ohnehin nichts ändern.
Für mich steht fest, dass es in dieser Situation nicht lediglich um
kleine Verbesserung gehen kann. Es muss darum gehen, dass ein
grundlegend anderes Gesellschaftssystem entwickelt wird, in dem nicht
wenige über viele bestimmen, ein Teil andere für sich arbeiten lässt
und über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen entscheidet, sowie Profite
wichtiger sind als die Interessen der Menschen. Es versteht sich von
selbst, dass die Grundlage hin zu einer solchen befreiten Gesellschaft
auf Strukturen und Aktivitäten außerhalb der Institutionen, die das
jetzige System verwalten und aufrechterhalten basieren muss. Es muss in
erster Linie darum gehen, dass die Menschen sich trotz aller
Schwierigkeiten zusammenschließen und selbstständig handeln statt sich
auf die bürgerlichen Parteien zu verlassen. Ansätze dazu gibt es selbst
in der dahingehend sehr rückständigen BRD ja schon einige – von den
Leuten an der Gewerkschaftsbasis und in Erwerbslosenvereinigungen über
Bürgerinitiativen, Umweltschutzgruppen oder Organisationen für die
Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen bis zu antifaschistischen und
linken Organisierungen.
Meine Kandidatur ist nicht der Versuch einen alternativen Weg dazu
einzuschlagen, sie soll einen kleinen Beitrag zur Unterstützung dieser
Initiativen außerhalb des politischen Mainstreams liefern.
Wie stellst Du dir das genau vor, was willst Du von dort aus tun?
Die Möglichkeiten werden natürlich beschränkt sein, auch weil die
Parteien von Grünen bis CDU sich in den wichtigsten Fragen einig sind
und die GenossInnen der Linkspartei und ich in der Minderheit sein
werden – sollte die Liste überhaupt Fraktionsstärke erreichen. Aber
auch unabhängig der Sitzverteilungen bieten die Institutionen die
direkt zum Kapitalismus gehören nur beschränkt Möglichkeiten für
wirklich oppositionelle Initiativen – sie sind schließlich in erster
Linie für das Gegenteil geschaffen worden.
Ich gehe aber davon aus, dass es zumindest in ein paar Bereichen
Möglichkeiten gibt, von einer Stellung im Gemeinderat aus etwas zu
erreichen. Als meine Aufgaben sehe ich es vor allem an, eigenständige
Aktivitäten der Menschen außerhalb der gängigen politischen
Institutionen zu unterstützen. Konkret werde ich versuchen regelmäßig
über die Debatten und Beschlüsse im Gemeinderat zu informieren. Das
nicht nur in der Art wie alles auch der Presse oder den
Bekanntmachungen zu entnehmen ist, sondern kritisch, detailliert, mit
einer Darstellung der Bedeutung und wo notwendig auch mit der
Aufforderung dagegen aktiv zu werden.
Dazu werde ich versuchen über meine Stellung mehr Öffentlichkeit für
Initiativen zu schaffen, die in den Medien keine Erwähnung finden oder
dort diffamiert werden. Das können Streikaktionen und soziale Proteste
ebenso sein wie Volksentscheide oder politische Kampagnen – von allen
wird es in den nächsten Jahren ja hoffentlich viele geben.
Natürlich werde ich aber auch der Arbeit, die in diesem System dem
Gemeinderat zugedacht ist, nachkommen. Ich werde dafür eintreten, dass
die dort zu fassenden Beschlüsse sich möglichst weitgehend nach den
Interessen der Menschen richten, nicht nach Profitinteressen. Auch hier
gibt es in Stuttgart ja einiges zu tun: Viele soziale Projekte stehen
durch mangelnde Förderung vor großen Problemen, die Stadt verpulvert
Millionen für mehr als fragwürdige Prestigeprojekte wie Stuttgart 21,
das Verkehrsnetz ist viel zu stark auf den PKW-Verkehr ausgelegt,
Öffentliche Verkehrsmittel und Radwege kommen viel zu kurz usw. Erfolge
in dieser Hinsicht werden aber nicht zuletzt davon abhängen, wie stark
der Druck von Bewegungen auf der Straße ist.
Grundsätzlich hat das Ganze für mich aber auch den Charakter eines
Versuchs. Die konkrete Praxis kann erst zeigen was möglich ist und was
nicht, ob die positiven oder die negativen Folgen überwiegen. Während
die bürgerlichen Parteien im Wahlkampf das Blaue vom Himmel
versprechen, ohne auch nur daran zu denken ihren Versprechungen später
nachzukommen, will ich die Sache anders angehen: Ich werde keine großen
Wahlversprechungen in die Welt posaunen, sondern lege lediglich dar was
ich mir vorgenommen habe. Sollte ich in den Gemeinderat gewählt werden,
werde ich versuchen dem nachzukommen, aber die Situation immer wieder
auch selbstkritisch reflektieren.
Gibt es keinen Widerspruch zu linken oder antikapitalistischen Gruppen in Stuttgart, mit denen Du sonst vielleicht viel zu tun hast, die aber zu einem Wahlboykott oder zur Wahlsabotage, also dem Abgeben von ungültigen Wahlzetteln, aufrufen?
Widersprüche in dieser Hinsicht gibt es und ich kenne die Positionen die jegliche Beteiligung an Wahlen ablehnen. Argumente sind z.B. die generelle Ablehnung der parlamentarischen Demokratie, die tatsächlich ja nicht wirklich demokratisch ist, weil sich die Mitbestimmung auf ein Kreuz auf dem Wahlzettel beschränkt und obendrein die Parteienlandschaft davon bestimmt ist wer wieviele Wahlspenden bekommt, überhaupt in den Medien erwähnt wird usw. Ein weiteres Argument das gegen jegliche Wahlbeteiligung spricht, ist die damit verbundene symbolische Akzeptanz des Kapitalismus, an dessen Spielregeln man sich mit der Abgabe der Stimme erstmal hält. Auch die Betonung, dass ohnehin alle politischen Parteien in diesem System mehr oder weniger für die gleiche Politik stehen, zumindest was deren konkrete Umsetzung in den Parlamenten angeht, ist natürlich von Bedeutung.
Ich halte diese Argumente zunächst durchaus für richtiger als z.B. die
Position von denjenigen die die Bedeutung von Wahlen überbewerten oder
sie gar als wichtiger erachten als Selbstorganisierung und
außerparlamentarische Aktivitäten – ganz zu schweigen von denen die
sich tatsächlich darauf beschränken wollen über den Parlamentarismus
nur ein paar Nuancen zu verändern.
Es hat sich aber in vielen politischen Kreisen die Erkenntnis
durchgesetzt, dass eine generelle und grundsätzliche Ablehnung der
Wahlen nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ich denke, dass es
durchaus möglich ist, in konkreten Fällen zur Beteiligung an den Wahlen
aufzurufen, ohne damit die grundlegende Haltung gegen mangelnde
demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten und allgemein gegen das
kapitalistische Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem aufzugeben.
Kannst
Du deine genauen Gründe dafür, dass Du dich dafür entschieden hast, bei
den Gemeinderatswahlen zu kandidieren und damit zur Wahlbeteiligung
aufzurufen noch etwas konkretisieren?
Ich
denke, dass es auf verschiedene Faktoren und die konkrete Situation
ankommt was bei den Wahlen zu tun ist. In ein paar Stichpunkten
zusammengefasst ist meine Position im konkreten Fall folgende: Ich
halte es für richtig, wenn die politischen Kräfte die langfristig eine
Perspektive jenseits des Kapitalismus anstreben, in möglichst vielen
Bereichen sichtbar und aktiv sind – nicht zuletzt dort wo sie
ausgeschlossen werden sollen und die bürgerlichen Parteien lieber unter
sich bleiben. Gerade in Zeiten, in denen Positionen die sich
grundsätzlich gegen den Kapitalismus und für eine befreite
Gesellschaftsordnung aussprechen durch die weitgehende Gleichschaltung
der bürgerlichen Medien kaum oder völlig verfälscht in der öffentlichen
Wahrnehmung präsent sind, ist es wichtig sie mehr in die Öffentlichkeit
zu bringen. Eine klare Positionierung und das wirkliche Eintreten für
soziale Fortschritte und echte Veränderungen von einem Sitz im
Gemeinderat aus, bewerte ich im konkreten Fall höher als den
Symbolcharakter einer Ablehnung der Beteiligung.
Auch sind viele der GenossInnen der Linkspartei in Stuttgart vor allem
außerhalb des Parlamentarismus aktiv, sind langjährige und aktive
Gewerkschaftsaktivisten die sich auch in Opposition zur Linie der
Gewerkschaftsspitze befinden, Aktive aus der Antikriegsbewegung und aus
anderen fortschrittlichen Zusammenhängen. Ich habe durchaus das
Vertrauen, dass es ihnen ebenfalls um wirkliche Veränderungen geht, sie
die parlamentarische Arbeit nicht als Allheilmittel betrachten und so
fest verankert sind, dass sie wirklich versuchen im Interesse der
Menschen zu handeln. Mit ihnen zusammenzuarbeiten und dazu beizutragen,
dass die Linke mit möglichst vielen Abgeordneten in den Gemeinderat
einzieht, halte ich daher erstmal für sinnvoll.
Die konkreten, sich mir hoffentlich mehr oder weniger bietenden
Möglichkeiten die ich oben bei meinen Plänen im Fall eines Einzuges in
den Gemeinderat benannt habe, spielen natürlich auch eine Rolle. Ich
gehe davon aus, dass es aktuell fortschrittlichen und linken Bewegungen
durchaus nutzt hier und da einen Fuß in den Parlamenten zu haben und
diesen Raum nicht den bürgerlichen Parteien zu überlassen.
Positionen, die sich auch im konkreten Fall grundsätzlich gegen
Wahlbeteiligungen aussprechen, resultieren meiner Meinung nach vielfach
aus einer verkürzten Analyse oder einer Herangehensweise die es sich
sehr einfach macht und nicht aus einem sinnvollen politischen Konzept.
Es ist bekanntlich recht einfach eine besonders radikale Kritik zu
äußern ohne zu versuchen durch das eigene Handeln gerade in schwierigen
Bereichen auf Veränderungen hinzuwirken. Komplizierter aber eben auch
sinnvoller ist es beides miteinander zu entwickeln.
Wie schon gesagt, werde ich die Erfahrungen immer wieder reflektieren
und wenn mich die Praxis eines besseren belehrt natürlich auch die
Konsequenzen ziehen.
Quelle: StattWeb Interview
AutorIn: Trueten, Thomas
Mehr Informationen...
zur Kandidatur von Ariane Raad finen sich unter http://www.ariane-raad.de
Anarchie ist machbar
hier der Link zu einem super Redebeitrag der Libertären Initative Stuttgart auf der revolutionären Maidemo in Stuttgart
http://list.blogsport.de/textematerialien/wahlen-und-demokratie-redebeit...