Abgeschoben ins Hinterland: Über Flüchtlingsproteste der HeimbewohnerInnen im Landkreis Leipzig

thräna

Boykott der Lebensmittelgutscheine

 Obwohl das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 18.07. die Geldleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes als zu niedrig und menschenunwürdig einstuft, hält der Landkreis Leipzig weiterhin an der bisherigen Regelung, 40,90€ monatliches Taschengeld1 + Gutscheine für Waren des täglichen Bedarfs, fest2. Daraufhin boykottieren AsylbewerberInnen in den Unterkünften Thräna, Hopfgarten und Elbisbach am 27.07. die Ausgabe der Lebensmittelgutscheine, um eine bessere Lebenssituation zu erkämpfen.

 

In einer Pressemitteilung vom 30.07. erläutern diese ihre prekäre Situation und fordern:

„1. Ein Gespräch mit dem Landrat Dr. Gey und den Fraktionsvorsitzenden des Kreistags
2. Die Abschaffung der Gutscheinversorgung und Einführung einer Bargeldversorgung
3. Eine schnelle Anpassung unserer Leistungen nach dem Urteil vom Bundesverfassungsgericht“3

Außerdem reichen viele beim Sozialgericht einen Antrag auf einstweilige Anordnung ein, um eine sofortige Angleichung der Leistungen und die Umstellung auf Barzahlungen zu erwirken.

 

Situation in den Heimen

Dem durch den Ausländerbeauftragten Martin Gillo (CDU) vorgestellten „Heim-TÜV“ zufolge, erhalten die Gemeinschaftsunterkünfte Thräna und Elbisbach die schlechtesten Bewertungen unter den Kriterien der Wahrung der Menschenrechte und Mitmenschlichkeit. Im Zusammenhang damit spricht sogar der CDU-Politiker von „kostengünstigen Kasernen“. 4

Was sich hinter dieser wenig greifbaren Formulierung verbirgt, offenbart sich bei einem Besuch der beiden Heime. Menschen unterschiedlicher Sozialisation müssen auf engstem Raum zusammenleben. Dies bedeutet eine für „deutsche Verhältnisse“ kaum mehr nachvollziehbare Zimmerbelegung von z.T. vier Menschen pro Zimmer. Sanitäre Einrichtungen müssen sich circa 40 BewohnerInnen teilen. Die Beheizbarkeit mancher Zimmer ist nicht möglich – defekte Fenster und fehlende Heizungsinstallationen stellen dabei keine Seltenheit dar. Zudem beklagen sich die Flüchtlinge über Ungeziefer.

Viele der AsylberwerberInnen leiden unter depressiven Zuständen oder Apathie. Die Gründe liegen neben der miserablen Wohnsituation vor allem in der sozialen Isolation, Rassismus, fehlenden Freizeit- und Bildungsangeboten, Perspektivlosigkeit und einem allgemeinen Freiheitsentzug aufgrund mangelnder finanzieller Möglichkeiten sowie gesetzlicher Restriktionen. Hinzu kommen psychische Belastungen in Form von Traumata und Angstzuständen resultierend aus den Ereignissen, vor denen sie einst flüchteten.

Die unterschiedlichen Sprachen befördern eine Barriere der Kommunikation unter den BewohnerInnen. Einen Sprachkurs zu besuchen stellt sich besonders für Erwachsene als schwierig dar. Die Realisierbarkeit wird durch die Abgeschiedenheit der Heime und somit die schlechte Erreichbarkeit der Lehreinrichtung verhindert. Die vom symbolischen Taschengeld, von dem auch Arztgebühren, Internetkosten, Anwaltskosten, Spielzeug etc. zu begleichen sind, kaum bezahlbaren Ticketpreise öffentlicher Verkehrsmittel - verbunden mit der Residenzpflicht - fesseln die Flüchtlinge an das Heim wie an ein Gefängnis. Aber auch aufgrund reservierten bis xenophoben Verhaltens der lokalen Bevölkerung gibt es wenig Anreiz außer zum Einkaufen das Heim zu verlassen. Der Tagesablauf beschränkt sich dadurch auf oft nicht mehr als das gemeinsame Essen, Fernsehen und Schlafen ohne die Möglichkeit zu Privatsphäre.

Dabei sind die Gemeinschaftsunterkünfte für viele keineswegs eine temporäre Unannehmlichkeit sondern ein unsicherer Dauerzustand, der irgendwann durch Abschiebung oder die Genehmigung einer eigenen Wohnung endet. So mancher Flüchtling muss sich über zehn Jahre mit den prekären Zuständen arrangieren.

 

Der Ausgang der Proteste

Ein Stück mehr Selbstbestimmung im eigenen Leben und weniger Stigmatisierung in der Öffentlichkeit erhoffen sich die MigrantInnen von einer Auszahlung der ihnen zustehenden Leistungen in bar. Im Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes erscheint eine Erfüllung dieser Hoffnungen in greifbarer Nähe. Schließlich beharrt der Landkreis Leipzig als letzter in Sachsen weiterhin auf seinem Vorgehen und will die Praxis erst im Oktober neu verhandeln. Dennoch beenden die BewohnerInnen der drei Heime nach zwei Wochen den Boykott. Die Unterstützung externer Personen und Gruppen reicht nicht aus, um eine Ernährung der AsylbewerberInnen längere Zeit sicherzustellen, zumal in der lokalen Bevölkerung der Rückhalt für den Protest komplett fehlt.

Das geforderte Gespräch mit Landrat Gey findet zwar statt, liefert aber nicht die gewünschten Erfolge. Seine erkenntnisresistente Haltung bei diesem Thema eröffnete Gey bereits gegenüber der LVZ in dem Artikel „Aufregung in der Asylbwerberunterkunft Thräna“ vom 25.07., indem er Kritik an den Heimen des Kreises mit dem bürokratischen Kommentar „Die Verwaltungsvorschriften werden eingehalten" begegnet.5

Die oben genannte einstweilige Anordnung wird wegen vermeintlich fehlender Eile vom Sozialgericht abgewiesen.

Obwohl die Forderungen der Protestierenden bis jetzt nicht erkämpft werden konnten und der Kreis am Gutscheinmodell festhält, reagiert die Ausländerbehörde Ende August zumindest mit einer wesentlichen Erhöhung der Barauszahlungen. Somit ist für die Betroffenen bereits eine gewisse Erleichterung im alltäglichen Leben eingetreten. An der beschriebenen, untragbaren Grundsituation für MigrantInnen wird dies allerdings wenig ändern.

 

Besuch vor Ort

Die Geschehnisse im Landkreis Leipzig haben uns, Einzelpersonen aus Dresden, zu Besuchen vor Ort veranlasst um uns ein eigenes Bild der Lage zu verschaffen und Anknüpfungspunkte praktischer Solidarität zu finden. Wir fuhren dazu jeweils das Heim in Elbisbach und Thräna an. Schon beim ersten Besuch während des Boykotts übergaben wir dringend benötigte Grundnahrungsmittel.

Über den Boykott hinaus ergaben sich im Gespräch einige materielle Bedürfnisse, die sich mit externer Unterstützung und ohne Baufirma leicht befriedigen lassen. Dazu zählen Fahrräder, Lastkarren, Lastenräder, Sprachlehrbücher (insbesondere Deutsch), Spielzeug, Internetanschluss, Computer und Fernseher.

Viele BewohnerInnen müssen behördliche oder juristische Auseinandersetzungen mit der Ausländerbehörde oder anderen staatlichen Stellen führen, von denen nicht selten die Zukunft der Betroffenen abhängt. Häufig können ihnen zustehende Rechte nicht durchgesetzt werden, da Informationen zur Rechtslage ebenso fehlen wie Sprachkenntnisse. Zudem werden von den AsylbewerberInnen geltend gemachte Ansprüche häufig nicht ernst genommen, da sie diese kaum einklagen können. In einem Informationsblatt des Sozialgerichtes, das uns vorliegt, wird zum Beispiel ein Anwalt als nicht notwendig beschrieben, obwohl die Erfolgschancen einer Klage ohne anwaltliche Vertretung erfahrungsgemäß selbst für in der Bundesrepublik Aufgewachsene verschwindend gering ausfallen.

An diesem Missstand können externe UnterstützerInnen ansetzen und Kontakt zu solidarischen AnwältInnen organisieren, sowie bei der Übersetzung amtlicher Schreiben helfen oder bei Behördengängen begleiten. Die vielleicht stärkste Grundlage der Unterdrückung von Migranten liegt neben staatlichen Repressalien und gesellschaftlichen Ressentiments in der Nichtbeherrschung der deutschen Sprache. Somit ist Deutschlernen, das AsylbewerberInnen kaum ermöglicht wird, weniger eine Anpassung an eine „deutsche Leitkultur“ im Sinne der Integrationsdebatte, sondern vielmehr Teil einer möglichen Selbstermächtigung. Dabei hilft die Sprache nicht nur für eine Interaktion außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte. Auch innerhalb der Heime kann eine Selbstorganisation und mit ihr politischer Widerstand erst durch eine gemeinsame Kommunikationsmöglichkeit aufgebaut werden.

Bei unserem Besuch erfuhren wir von unzähligen Schikanen durch staatlichen Institutionen und Diskriminierungen durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Im Heim Thräna führte die Polizei eine Razzia durch. Die Einsatzkräfte stürmten nachts sämtliche Wohneinheiten bewaffnet und vermummt. Den BewohnerInnen zu Folge diente die Maßnahme lediglich einer Personalienkontrolle. Zu Durchsuchungen kam es wohl nicht.

Ein Bewohner berichtete von einer Polizeikontrolle mit anschließender Ingewahrsamnahme. Der Betroffene hatte lediglich über 100€ Bargeld dabei, welches die PolizistInnen sofort zu einem Verhör wegen Diebstahl veranlasste.

Bei Taxifahrten von den Heimen aus bestehen die Fahrer darauf vor der Fahrt bezahlt zu werden. Ein Asylbewerber berichtete von einem Taxiunternehmen, dass eine Beförderung mit der Begründung „Wir fahren nicht für Ausländer.“ verweigert.

Viele Bereiche des Ausländerrechts sind nicht genau geregelt, so dass häufig über Willkür der Ausländerbehörde berichtet wurde. Scheinbar wahllos werden BewohnerInnen eigene Wohnungen genehmigt, Urlaubsanträge angenommen oder abgelehnt. Auch die Residenzpflicht wird nicht einheitlich behandelt. Manche dürfen sich in ganz Sachsen andere nur im Landkreis Leipzig aufhalten. Diese Willkür verstärkt bei vielen die Angst vor Widerstand gegen den unerträglichen Zustand, da ihre Lage anscheinend von der Gnade der Ausländerbehörde abhängt.

Viele berichten davon, an der Kasse eines der Gutschein-akzeptierenden Supermärkte ausgelacht oder beleidigt worden zu sein. An der Kasse muss man sich für viele Waren rechtfertigen und dem Personal darlegen, dass es sich um „Waren des täglichen Bedarfs“ handelt. Dabei ist diese Situation bereits ein Fortschritt. Bis vor kurzen bereicherten sich die privaten Betreiberfirmen sogenannter Magazine mit überhöhten Preisen an den Flüchtlingen6. Nur sie akzeptierten die Gutscheine und konnten so in einer Monopolstellung die Preise diktieren.

Besonders ein Zitat bleibt uns im Ohr: „Wir sterben hier jeden Tag“, sagt uns ein Flüchtling, der sich seit über zehn Jahren ein Zimmer im Heim Elbisbach teilen muss. Er leidet unter Schlafstörungen und Gewichtsverlust, da er kaum noch etwas essen mag. Im Gegensatz zu vielen Anderen hat er jedoch durch politischer Verfolgung, Flucht und deutsches Lagerleben eines nicht verloren – den Mut für die Rechte der Migranten zu kämpfen.

Auf dem Rückweg erscheinen im Vergleich zu den unfassbaren Einzelschicksalen der Heiminsassen unsere eigenen prekären Leben seltsam leicht und frei. Es wird sicher nicht unser letzter Besuch gewesen sein.

 

Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten!

Als libertär eingestellte Menschen geben wir uns nicht mit einer wahllos definierten „menschenwürdigen Unterbringung“ zufrieden. Wir wollen nicht das Leben anderer Menschen verwalten und ihnen als gnädige Mitglieder der deutschen Gesellschaft Almosen übergeben.

Wir akzeptieren keine Hierarchien zwischen Menschen aufgrund ihrer Herkunft. Was laut Grundgesetz für deutsche Bürger gilt, die freie Wahl des Wohnorts sowie der Schutz vor Diskriminierungen aufgrund von Herkunft, Religion, etc., muss für alle Menschen gelten. Daher erkämpfen wir Menschenrechte und keine Bürgerrechte.

Der demokratische Rechtsstaat agiert konsequent rassistisch, wenn er mittels Ausländergesetzgebung Menschen zweiter Klasse schafft, wenn er die Außengrenzen für Nicht-Bürger schließt oder nur verwertbares „Humankapital“ einreisen lässt. So befördert und reproduziert er die rassistischen, diskriminierenden Einstellungen vieler BürgerInnen, wobei seine VertreterInnen bei rassistischen Übergriffen Betroffenheit heucheln, jedoch nichts an den Zuständen ändern. Während de facto das Asylrecht abgeschafft wurde, während AsylbewerberInnen weiterhin ausgegrenzt und stigmatisiert werden, pflanzt der Staat in Rostock Versöhnungseichen7. Solange in der BRD Menschen Ausländergesetzen unterstehen, solange um Europa eine Mauer verläuft, gehören solche Eichen gefällt!

Wir wollen eine Solidarität praktizieren, die nationale und kulturelle Grenzen überwindet und den universellen Charakter der Unterdrückung aufzeigt. Das Wesen libertären Denkens liegt in der ständigen Analyse und Kritik der Unterdrückungsmechanismen und im Erarbeiten von Alternativen.

Trotz dieser radikalen Position erkennen wir die Notwendigkeit reformistischer Kämpfe, die Lebenserleichterungen bewirken, an. Es wäre menschenverachtend und aus einer privilegierten Stellung heraus gedacht, das alltägliche Elend zugunsten radikaler Forderungen in Kauf zu nehmen. Überhaupt kämpfen wir nicht für eine Befreiung der MigrantInnen, sondern versuchen mit ihnen gemeinsam diese Gesellschaft ein Stück weniger hierarchisch und ungerecht zu gestalten. Zur Erreichung dieses Zieles müssen wir lernen uns besser selbst, außerstaatlich zu organisieren – in den AsylbewerberInnenheimen und außerhalb, in den Betrieben, Schulen, Universitäten und Knästen, mit unseren FreundInnen und unserer Nachbarschaft.


Solidarität mit den Kämpfen um Gleichberechtigung der AsylbewerberInnen im Landkreis Leipzig und anders wo!

2 http://www.boncourage.de/index.php5?go=landkreis-leipzig-verweigert-die-erhoehu

3 http://www.boncourage.de/index.php5?go=pressemitteilung-der-bewohnerinnen-und

4 http://www.mdr.de/sachsen/asylheime100.html

5 http://www.lvz-online.de/region/borna/aufregung-in-der-asylbewerberunterkunft-thraena/r-borna-a-147553.html

6 http://www.mdr.de/exakt/download234-download.pdf

7 https://linksunten.indymedia.org/de/node/66240, http://taz.de/Friedenseiche-in-Lichtenhagen-abgesaegt/!100583/

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