Zehntausende Demonstranten füllen schon den ganzen Tag über die Strassen Kairos.
Schon in den Mittagstunden hatte sich eine grosse Menschenmenge auf dem Tahrir versammelt. Später setzten sich Demonstrationszüge in Richtung Bullenhauptquartier und Innenministerium in Bewegung, wo es seit Stunden zu heftigen Zusammenstössen mit den „Sicherheitskräften“ kommt.
Beteiligt sind Ultras der beiden Kairoer Vereine Al-Ahly und Zamalek,
die sonst traditionell nicht „gut aufeinander zu sprechen sind“ (um es
vorsichtig auszudrücken), die aber seit dem Beginn des Aufstandes vor
einem Jahr immer wieder Seite an Seite gegen die Bullen und das Militär
kämpfen.
Ihnen haben sich die jungen Revolutionäre des Tahrir und
viele weitere aufgebrachte Menschen angeschlossen. Teilweise ist es
ihnen gelungen, massive Bullenabsperrungen zu durchbrechen, woraufhin
jetzt massiv Tränengas gegen sie eingesetzt wird.
Bereits in der Nacht hatten sich tausende von Ultras beider Vereine, Fanilienangehörige, Freunde und Gefährten des Fans des Fußballvereins Al-Ahly auf dem Kairoer Ramsis-Bahnhof versammelt, um die in Züge aus Port Said zurückkehrenden Fans in Empfang zu nehmen.
Dabei wurden Parolen gegen die Bullen gerufen und erneut, wie so oft in den letzten Monaten, der Kopf des Vorsitzenden des Militärrats SCAF Tantawi, gefordert.
Strategie der Spannung
Kaum jemand in Ägypten glaubt, dass das Massaker im Stadion von Port Said nur die Folge eines Unvermögens der „Sicherheitskräfte“war.
Zuviel deutet auf eine geplante Inszenierung.
Der Gouvernour von Port Said war, entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, garnicht erst im Stadion erschien, der örtliche Bullenchef verliess es zur Halbzeit.
Fans von Al- Ahly berichteten, die Bullen hätten den angreifenden Anhängern des Heimclubs Al-Masry die Tore geöffnet, um ihnen den Angriff auf den Gästeblock zu ermöglichen. Bereitstehende Bulleneinheiten wurden vor dem Angriff zurückgezogen, andere Bulleneinheiten schauten dem Geschehen tatenlos zu.
Die Ultras und auch die Spieler von Al-Ahly gehen davon aus, dass sie Opfer eines gezielten Angriffes des regierenden Militärrates geworden sind, der damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will.
Auf der einen Seite sollen die Ultras der beiden grossen Kairo Vereine massiv eingeschüchtert werden. Sie haben in den „Schlachten um den Tahrir“ eine bedeutende Rolle gespielt (1), ihre gut organisierte Militanz stellt ein erstzunehmendes Gegengewicht zu den „Sicherheitskräften“ dar.
Auf der anderen Seite will die Militärjunta sich gegenüber der „schweigende Mehrheit“ als Ordnungsfaktor positionieren. Wie schon bei dem Massaker an demonstrierenden Kopten im Oktober durch die „Sicherheitskräfte“, für die dann angebliche „Islamisten“ verantwortlich gemacht wurden, versucht der SCAF mit der Angst grosser Teile der Bevölkerung vor einer weiteren Zuspitzung der Situation zu spielen.
Ob diese Strategie aufgehen wird, erscheint fraglich.
Selbst die Moslembrüder, die noch letzten Freitag auf einer Grosskundgebung auf dem Tahrir mit ihren Parolen und Spruchbanner die „Einheit des Volks und des Militärs“ hochleben liessen, woraufhin es zu handfesten Auseinandersetzungen mit den revolutionären Gruppen kam, machten heute im Parlament das Militär direkt mitverantwortlich für das Geschehen in Port Said.
Die „Bewegung“, die seit dem Jahrestag am 25. Januar wieder täglich Kundgebungen und Demonstrationen durchführt, hatte bereits gestern nachmittag (vor dem Geschehen in Port Said) Tausende vor das Parlament mobilisiert, wo bei Zusammenstössen mit den Bullen Dutzende verletzt wurden.
Die Aktivisten scheinen entschlossen, an der Parole „Das Volk will den Sturz des Systems“ festzuhalten, es bleibt zu hoffen, dass sich ihnen erneut eben jenes erneut anschliesen wird.
(1) Die Bedeutung der Ultras für den Aufstand in Ägypten ist in den deutschprachigen Medien bis gestern nur selten gewürdigt worden. Eine sehr gut geschriebene Ausnahme ist der Artikel „Ultras gegen Kamele“ von James M. Dorsey in le monde diplomatique, den ihr auch im Pressearchiv von linksunten findet, ansonsten unter:
Artikel gepostet von recherchegruppe aufstand
Strategie der Spannung
Interessantes Thema (war ja auf auf einigen Veranstaltungen zum Thema schon angeklungen, dass Militärs/ Polizei in diese richtung etwas unternehmen werden, um sich als "ordnungsmacht" aufzuspielen und möglichst wenig Macht abzugeben...)
Dran bleiben.
Zur Ergänzung
Junge Welt: 03.02.2012
Militäraufmarsch nach Stadionkatastrophe Ägypten: Mindestens 74 Tote nach Krawallen. Sicherheitskräfte griffen nicht ein
Nach den tödlichen Ausschreitungen nach einem Fußballspiel hat die ägyptische Regierung mehrere Verantwortliche entlassen. Wie Regierungschef Kamal Al-Gansuri am Donnerstag mitteilte, wurden der Sicherheitschef von Port Said und die Führung des Fußballverbands ihrer Ämter enthoben, der Gouverneur der Stadt trat zurück.
Nach der Begegnung zwischen Al-Masri und Al-Ahly Kairo in Port Said waren Hunderte Anhänger der Gastgeber auf den Platz gestürmt. Sie warfen Steine und Flaschen auf die Gästefans und schossen mit Feuerwerkskörpern, Panik brach aus. Mindestens 74 Menschen wurde getötet, außerdem gab es um die 250 Verletzte. Nach Angaben von Innenminister Mohammed Ibrahim wurden die meisten der Opfer erdrückt. Rettungskräfte sagten, einige der Getöteten hätten Stichwunden gehabt, andere schwere Kopfverletzungen. Auf der Straße nach Kairo waren Schüsse zu hören. Die Polizei nahm 47 Menschen fest. Am Donnerstag marschierte in Port Said das Militär auf. Die größte Ausfahrtsstraße wurde abgeriegelt, die Regierung ordnete drei Tage Staatstrauer an.
Unmittelbar nach den Ausschreitungen wurden Vorwürfe laut, daß die Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig eingegriffen hätten. Im Fernsehen war zu sehen, wie Reihen von Polizisten inmitten des Chaos tatenlos herumstanden und die Jagdszenen auf dem Rasen verfolgten. Die bei der Parlamentswahl siegreichen Muslimbrüder sprachen von »geplanten« Ausschreitungen. Sie seien eine »Botschaft der Anhänger des alten Regimes«.
Viele Ultras von Al-Ahly Kairo hatten sich an den Protesten gegen Hosni Mubarak beteiligt. Das Spiel in Port Said war bereits im Vorfeld von regionalen Zeitungen als »Treffen der Vergeltung« bezeichnet worden. »Noch kann man nur spekulieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß die Katastrophe politische Hintgeründe hat, ist sehr groß«, sagte Christian Wolf vom Institut für Politische Wissenschaft an der Uni Erlangen-Nürnberg gegenüber der Nachrichtenagentur sid. (AFP/sid/jW)
Spiegel online
..."In Port Said soll ein Großteil der Polizisten bereits vor dem Schlusspfiff abgezogen worden sein. Die übrig gebliebenen Sicherheitskräfte, teils auf Klappstühlen sitzend, eilten niemandem zur Hilfe. Der Gouverneur von Port Said war bei dem Spiel nicht anwesend - zum ersten Mal in der Geschichte"...
http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,812907,00.html