Vortrag: Piraten vor Somalia

In der Darstellung somalischer Piraten auch in linken Medien fehlen zwei der handelnden Subjekte in der Regel vollkommen: Die Piraten selbst und die Matrosen auf den piratisierten Schiffen. Der Vortrag nimmt eine andere Sichtweise ein. Er stellt die piratische Praxis vor, ihre sozialen, politischen und historischen Hintergründe und vertritt die These, dass die Armada vor Somalia im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung dazu beitragen wird, dass genau das geschehen wird, was angeblich bekämpft werden soll. Ob im Vortrag auch ein wenig auf die Situation des „maritimen Proletariats“, also der Matrosen auf den Container-Schiffen gesagt werden wird, wird sich zeigen.

 

Mo. 31. Jan. 2011, 20:00 Uhr, Trotz Allem, Witten, Augustrastraße 58


Quelle: http://trotzallem.blogsport.de/2011/01/05/2011-01-31-vortrag-piraten-vor-somalia/

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junge Welt - Freitag, 17. Februar 2012, Nr. 41
17.02.2012 / Thema / Seite 10 / Inhalt

Auf Piratenjagd Hintergrund. In Hamburg stehen zehn Somalis wegen eines angeblichen »gemeinschaftlichen Angriffs auf den Seeverkehr« vor Gericht Von Anita Friedetzky

»Die Piraten schaden Deutschland und seiner Wirtschaft«, empörte sich Florian Hahn in aller Offenheit für die CDU/CSU-Fraktion am 1.12.2011 im Bundestag, als mit den Stimmen sämtlicher Fraktionen außer jener der Linkspartei zum dritten Mal die Verlängerung des Mandats für die EU NAVFOR-Militärmission »Atalanta« beschlossen wurde. Und auf der Internetpräsenz des Auswärtigen Amtes heißt es: »Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten ist wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraterie.«

In Hamburg stehen seit November 2010 zehn Angeklagte aus Somalia, darunter drei Jugendliche, vor dem Landgericht, an denen diese Abschreckung offenbar beispielhaft vollzogen werden soll. Insgesamt 81 Jahre und sechs Monate Haft forderte die Oberstaatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer am 25.1.2012. »Gemeinschaftlicher Angriff auf den Seeverkehr – von langer Hand vorbereitet, arbeitsteilig und quasi militärisch« und »vollendeter Menschenraub«, liest Frau Dr. Friederike Dopke die Vorwürfe brav vom Blatt ab. Vergeblich hatte einer der Angeklagten zuvor noch einmal den Versuch gemacht, das Gericht zur Ladung eines Entlastungszeugen aus Somalia zu bewegen. Im ersten Prozeß seiner Art in Deutschland wurde zwar vom »Weltrecht« geredet. Dies bedeutete jedoch alles andere als »Weltoffenheit« und Berücksichtigung des Umstandes, daß »die Tat« 9000 Kilometer entfernt auf Hoher See vor der somalischen Küste stattgefunden hat.

Geheime Verhöre
Die ehemaligen Fischer und Gelegenheitsarbeiter sollen am 5.4.2010 das deutsche Containerschiff »Taipan« von einem sogenannten Mutterschiff aus (das seinerseits bereits gekapert gewesen sein soll) mit zwei kleinen Booten, sogenannten Skiffs, bewaffnet angegriffen haben. Einige der mutmaßlichen »Piraten« trugen Flip-Flops, andere waren barfuß. Die Waffen, mit denen sie die Mannschaft eingeschüchtert und die Brücke des Schiffes beschossen haben sollen, sind bei ihrer »Vorführung« verrostet. Spuren waren durch das Bundeskriminalamt (BKA) keine gesichert worden, da das niederländische Militär nach der Erstürmung der »Taipan« die Waffen einfach »an Deck liegen lassen und ungeschützt Wind und Wetter ausgesetzt« habe, bedauerten die BKA-Beamten.

Die Angeklagten waren von einem niederländischen Kriegsschiff, der »Tromp«, Teil der »Atalanta-Mission«, mit schweren Waffen angegriffen, »festgesetzt« und eine Woche lang, gefesselt an Bord, nach Dschibuti, von dort in die Niederlande und weiter nach Deutschland transportiert worden. Dabei sind sie u.a. höchst zweifelhaften Verhören ausgesetzt gewesen, die angeblich nur harmlose »Gespräche« waren. ­Einer der Angeklagten versuchte, sich mit einem Sprung ins Meer zu retten, wurde aber wieder an Bord geholt. Ein anderer gab an, bei den Verhören nackt an einen Stuhl gebunden gewesen zu sein. Marineoffizier Paul R. De Wind räumte ein, daß die Gefangen, wenn sie in irgendeiner Form Widerstand geleistet hätten – zum Beispiel das Essen wieder ausgespuckt haben – an den Stuhl gefesselt worden seien, aber selbstverständlich bekleidet. Und die Staatsanwaltschaft sagte im Plädoyer, daß es keinen Grund gäbe, ihm nicht zu glauben. Woran sie nicht mehr erinnerte: De Wind hatte auch zugegeben, Offizier des niederländischen Marinegeheimdienstes zu sein.

Die niederländische Staatsanwaltschaft verweigerte die Herausgabe der Filmprotokolle dieser Verhöre und weiterer Materialien, worum das Gericht sie im Rahmen mehrerer »Rechtshilfeersuchen« gebeten hatte. Die deutsche Staatsanwaltschaft sei mit den »freiwilligen Gesprächen« einverstanden gewesen, habe allerdings darauf bestanden, daß diese »for netherland eyes only« geführt werden. Der niederländische Geheimdienst dürfe sie gar nicht herausgeben.

Weil sich die »Taipan« außerhalb des Einsatzgebietes von »Atalanta« befand, mußte sich der Kapitän der »Tromp«, Hans Lodder, eine Extraerlaubnis für den Angriff holen. Er bekam später einen Orden für seine »besonderen Leistungen für die Seefahrt«. Vor Gericht brüstete er sich damit, anfangs »auf eigene Faust« das Gebiet der EU-NAVFOR-Mission verlassen, die Operation dann aber in Absprache mit den entsprechend zuständigen Stellen durchgeführt zu haben.

Die Mannschaft der »Taipan« hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits im »Saferoom« versteckt. Kapitän Dierk Eggers gibt an, sich nicht durch die »Piraten« lebensgefährlich bedroht gefühlt zu haben. Er hatte das Schiff übernommen, als es in die »Gefahrenzone« gekommen war. Er wirkt beeindruckend routiniert, versteht nicht, weshalb sich alle jetzt plötzlich über ein Phänomen aufregen, das es »immer schon« weltweit gegeben habe. Einer der Jugendlichen entschuldigt sich bei ihm. »Und Kapitän Eggers hat die Entschuldigung angenommen«, sagt die Frau Oberstaatsanwältin. Sie fordert deshalb »nur« vier Jahre für den jungen Mann. Daß er in der Jugendhaftanstalt von einem Mitgefangenen schwer zusammengeschlagen wurde, erwähnt sie nicht, auch nicht die Details seiner »sozioökonomisch schlechten Bedingungen in Somalia«.

Die »Tromp« setzte unter Feuerschutz einen ihrer zwei Bordhubschrauber ein und ließ auf die »Taipan« ein Spezialkommando herunter, dessen Mitglieder auch vor Gericht anonym blieben und dessen Leiter unter falschem Namen und »verkleidet« auftrat. Er hatte für einen SEK-Leiter auffallend große Gedächtnislücken und anscheinend Schwierigkeiten mit normalerweise üblichen Dokumentationen. So konnte er sich nicht mehr an den Namen des Beamten erinnern, der die »Festgesetzten« zu den »freiwilligen Gesprächen« führte, und die Liste mit dem Dienstplan, auf der dies rekonstruiert werden könnte, war plötzlich spurlos verschwunden.

Dafür erinnerte sich De Wind vor Gericht sehr gut an einen der Gefangenen, der zu ausgiebigen Informationsgesprächen mit ihm bereit gewesen sei, was dieser dann auch eingestand. Allerdings gab dieser auch an, daß ihm Anony­mität und Straffreiheit zugesichert worden sei. Das ist der Hamburger Staatsanwaltschaft immerhin einen unausgesprochenen »Bonus« von zwei Jahren wert: Statt zehn fordert sie acht Jahre Haft. Mildernd käme hinzu, daß der Halbbruder des Angeklagten nach Bekanntwerden der Information in Somalia ermordet worden sei – auch wenn das nicht sicher belegt werden könne.

Unter Generalverdacht
Der Verhöroffizier De Wind zeigte noch auf einen weiteren Angeklagten, der erst zwei Wochen vor dem nun verhandelten Überfall als potentieller Pirat festgenommen und dann mangels Beweises wieder laufen gelassen, oder besser: in ein Schiffchen mit zu wenig Treibstoff und defektem Motor – so der Beschuldigte selbst – gesetzt worden sei. Der Angeklagte behauptete im Prozeß von Anfang an, zum Entern der »Taipan« gezwungen worden zu sein, weil sie einen Steuermann für das Skiff gebraucht hätten. Die Staatsanwaltschaft sagt, sie glaubt ihm nicht, fordert elf Jahre und sechs Monate wegen seiner »besonders hochwertigen Tätigkeit«.

Einem weiteren Angeklagten, der für sich geltend macht, zum Reparieren von Motoren angeheuert worden zu sein und offenbar erst auf See die Lage, in die er geraten war, begriff, wirft die Staatsanwaltschaft vor: »Zwar ist das nicht Absicht, aber bedingter Vorsatz. Angesichts der Situation des lokalen Fischfangs und der Lage in Somalia im Allgemeinen konnte nicht erwartet werden, daß Boote nur für Fischfang benutzt werden. Die Reparaturen von Booten unterstützten unmittelbar die Piraterie.« Für ihn fordert sie allerdings »nur« zehn Jahre.

Dieser Ansicht zufolge bliebe so gut wie keine Tätigkeit in Somalia, die nicht unter Generalverdacht stünde. »Unschuldig« könnten in dem Fall nur Menschen sein, die angesichts des Hungers ihrer Kinder die Hände in den Schoß legen und gemeinsam mit ihnen den Hungertod sterben – oder sich in die Flüchtlingslager an den Tropf der Hilfsorganisationen begeben. Deren Lebensmittellieferungen wiederum werden durch den Militäreinsatz »geschützt«. Und so schließt sich der für die Somalier ebenso bedrückende wie für die Europäer wirtschaftlich profitable Kreis. Früher wurde das einfach Kolonialismus und Ausbeutung der »Dritten Welt« genannt. Heute wird es für die sensiblen Seelen des sogenannten demokratischen Europas als »humanitäre Hilfe« oder »humanitäre Einsätze« verbrämt. Und der Zusammenhang zwischen dem »Piratenprozeß« und der »Militärmission Atalanta« wurde und wird denn auch konsequent verschwiegen. Bei ähnlichen Prozessen in Frankreich und den Niederlanden waren vier, bzw. fünf Jahre die Höchststrafen. In Hamburg sind dies die niedrigsten geforderten Strafen für die Jugendlichen! Will Deutschland auch hier seinen »Führungsanspruch« behaupten?

Während Oberstaatsanwältin Dopke das Plädoyer vorliest, verhaspelt sie sich manchmal. Ihr Kollege, Ronald Giesch-Rahlf, sitzt neben ihr, als hätte er nichts damit zu tun. Der Vorsitzende Richter, Bernd Steinmetz, hat zuvor noch erklärt, daß es ihm »wichtig« sei »darauf hinzuweisen«, daß »es keine Absprachen über die Höhe der Strafen gegeben« habe. Die Staatsanwaltschaft argumentiert mit der »Schwere der Schuld«, und damit, daß die Strafe »erheblich« sein müsse, wenn sie vor allem bei den Jugendlichen ihren erzieherischen Zweck erfüllen solle.

Die »Taipan«, ein Containerschiff mit 11000 Bruttoregistertonnen (BRT) im Besitz der Hamburger Reederei Komrowski, war zum Zeitpunkt des Geschehens an die israelische Slim-Lines ausgeliehen und soll einen Wert von 20 Millionen Euro gehabt haben – »ohne Ladung«, sagt die Staatsanwältin und vergißt hinzuzufügen, daß bis heute angeblich keiner, auch nicht das Gericht, weiß, was die »Taipan«, die auf dem Weg von Haifa nach Mombassa war, geladen hatte. Selbst der Zeuge der Versicherung beteuerte vor Gericht, es nicht zu wissen. Der Inhalt der Ladung müsse immer nur angegeben werden, wenn es sich um »Gefahrengut« handelte, klärte er auf. Das Gericht hat diesen weiteren dunklen Punkt in der Beweisaufnahme bis heute nicht wieder aufgegriffen. Trotz schwerer Beschädigungen schipperte die »Taipan« denn später auch die vermeintlich profane Fracht noch in den Zielhafen. »Den entstandenen Schaden von 1,06 Millionen (Beschädigungen des Schiffes und Ausfallsummen) könnten die Angeklagten nicht ersetzen«, sagt Dopke und vergißt zu erwähnen, daß die Versicherung den Schaden selbstverständlich bereits reguliert hat.

Keine Haftverschonung
25. Januar 2012: Es ist der 71. Verhandlungstag. Die »mutmaßlichen Piraten« sind inzwischen seit einem Jahr und neun Monaten gefangen – zuerst eine gute Woche auf der »Tromp«, danach im holländischen Knast und nunmehr schon seit 17 Monaten in Hamburg in U-Haft: Die Jugendlichen auf der Gefängnisinsel »Hahnöfersand« im Jugendknast, die Erwachsenen im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Vor allem für die drei jugendlichen Somalier ist der Prozeß eine Tortur. Wären sie Hamburger, wären sie schon seit elf Monaten nicht mehr inhaftiert, könnten Deutsch lernen und zur Schule gehen. Doch wen interessieren ihre bescheidenen Wünsche? Wen interessiert es, daß sie als Kinder zusehen mußten, wie ihre Mütter und Väter ermordet wurden, wie sie sich, alleingelassen, ohne lesen und schreiben zu können, durchs permanent bedrohte Leben schlagen mußten? Wen interessiert es, wenn sie zu Recht immer wiederholen, daß das Gericht und alle Anwesenden sich nicht vorstellen können, wie ihr »Leben« in Somalia war? Das Gericht spricht von »Fluchtgefahr«. »Wohin sollten sie fliehen?« fragten die Verteidiger, deren Anträge auf Haftverschonung abgelehnt wurden.

Zu den Verhandlungen werden die Jugendlichen, an Händen und Füßen gefesselt, in Transportern in die Stadt ins Untersuchungsgefängnis gebracht und dann mit den Erwachsenen zusammen, von jeweils einem Wärter begleitet, durch einen Kellergang in den großen Gerichtssaal geführt. Die Presse sitzt mit im Saal. Das bis zum Plädoyer der Staatsanwaltschaft nur noch spärlich vorhandene Publikum kann hinter einer Glasscheibe der Verhandlung beiwohnen: Auf den harten Holzbänken auch Reedereivertreter, die sich im Gegensatz zur Presse und dem übrigen interessierten Publikum keinen einzigen Verhandlungstag entgehen lassen.

Der Eindruck, hier handele es sich um Schwerstverbrecher ist gewollt. Trotz allem Verständnis für die Lage der Angeklagten dürfe nicht vergessen werden, daß es sich um ein »Kapitalverbrechen« handele, bekräftigt denn auch die Staatsanwaltschaft.

Flankiert von zwei Pflichtverteidigern verfolgen die Angeklagten den Prozeß mitunter sechs Stunden lang mit einer Stunde Unterbrechung in der Mittagspause. Drei Somali-Dolmetscher übersetzen jedes Wort. Spricht ein Zeuge in einer anderen Sprache, wird erst ins Deutsche, dann ins Somali übersetzt. Die Prozedur kostet Zeit und Konzentration. Wenn die Angeklagten Kopfschmerzen haben, dürfen sie dennoch den Kopfhörer nicht absetzen. Viele von ihnen, kriegstraumatisiert und gesundheitlich angeschlagen, können nur noch unter starken Medikamenten den Verhandlungen folgen.

Einige haben – im Vertrauen auf den »guten Willen« des Gerichts und auf »Gerechtigkeit« – ihre bedrückenden Lebensgeschichten erzählt, von Hunger, Gewalt, Krieg und Zerstörung, dem Verlust der Eltern, der Geschwister und dem der eigenen Kinder. Dennoch sind sämtliche Anträge auf Haftverschonung bislang abgelehnt worden. Schlimmer noch: Alles, was sie »zur Sache« sagen, wurde gegen sie verwandt. Die Staatsanwaltschaft fordert dementsprechend für die Erwachsenen Strafen zwischen zehn und elfeinhalb Jahren und für die Jugendlichen zweimal fünfeinhalb Jahre und vier Jahre Haft.

Einer der Angeklagten fordert zum wiederholten Male durch seinen Anwalt, der am 31. Januar die Reihe der Plädoyers eröffnete, den Vorsitzenden Richter auf, ihn hinzurichten, weil er, seelisch und körperlich zerrüttet, für sich keinerlei Lebensperspektive mehr sieht. Er hatte davon berichtet, daß er nicht mehr die Schulden seiner Familie bezahlen konnte, weil er monatelang mit leeren Händen vom Fischen zurückgekommen war. Daraufhin nahm der Gläubiger den fünfjährigen Sohn des Angeklagten als Geisel »in Zahlung«. Es ging und geht um gut 1000 Dollar. Er habe keinen anderen Ausweg gesehen, als bei der Kaperung mitzumachen. Die Staatsanwaltschaft behauptet, dafür »Verständnis« zu haben. Weshalb das Geständnis jedoch nicht als solches anerkannt werden und er zehn Jahre Haft bekommen soll, bleibt ihr Geheimnis.

Kein einziger Entlastungszeuge
Nachdem sich zu Beginn des Prozesses ungefähr drei Monate Zeit genommen wurde, um mehr als fragwürdige Altersbestimmungsgutachten durch bei vielen Flüchtlingen in der Hansestadt einschlägig bekannte Experten des Universitätskrankenhauses Eppendorf erstellen zu lassen, nachdem Vertreter der Schiffsmannschaft gehört worden waren und die niederländischen Militärs samt Marinegeheimdienstmitarbeitern ausführlich ihre »Heldentat« schildern konnten, nachdem BKA-Spezialisten ihre Spurensuche und die ausschließlich weißen Gutachter die »Lage in Somalia« geschildert hatten, erklärte die Staatsanwaltschaft, sie könne ihr Plädoyer halten, weil die Beweisaufnahme abgeschlossen sei. Zu diesem Zeitpunkt waren noch nicht einmal die Stellungnahmen der Jugendgerichtshilfe vorgetragen worden – und es war kein einziger Entlastungszeuge gehört worden! Auch nur einen einzigen ausfindig zu machen, hatten Staatsanwaltschaft und Gericht sich erst gar nicht die Mühe gemacht. Die aufwendigen Recherchen der Verteidigung, um Zeugen in Somalia zu finden, die belegen könnten, daß Angeklagte gegen ihren Willen zwangsrekrutiert wurden, wurden allesamt ignoriert. Weil es kein intaktes Meldewesen und keine funktionierende Post in Somalia gebe, die deutsche Botschaft technisch angeblich nicht skypen kann, weil nicht eingeschätzt werden könne, wie lange einer braucht, um aus dem Bürgerkriegsgebiet von Somalia nach Hamburg zu kommen, wurden alle diesbezüglichen Anträge abgelehnt. Dabei geht es auch im Fall von Zwangsrekrutierung um Schuld oder Unschuld, Verurteilung oder Freispruch, was selbst der Vorsitzende Richter konzedierte.

Man bekam spätestens an diesem Punkt des Prozesses den Eindruck, daß, wäre es nach der Staatsanwaltschaft gegangen, sich der Prozeß hätte gespart werden können – abgesehen vom medienwirksamen Auftakt und der Verlesung der Anklage. Das Urteil schien von Anfang an festzustehen. Da kann das »Leben« in dem weit entfernten Land noch so unmöglich und können die Interessen am Schutz der europäischen Handelsflotte, illegalem Fischfang und Müllentsorgung noch so aggressiv und kolonialistisch sein. Das ignorante Verhalten der Staatsanwaltschaft und bislang auch des Gerichts entlarvt den Prozeß als rechtsstaatliche Farce. Nur noch die Höhe der Strafe scheint zu interessieren. Es soll ein Exempel statuiert, Abschreckung praktiziert, und der politische Auftrag, wie bei solchen Prozessen üblich, offenbar erfüllt werden.

Dabei hätte das Gericht die einmalige Chance, in die Geschichte der Rechtsprechung mit einem Freispruch einzugehen, der die wirklichen Gewaltverhältnisse bei der »Piraterie« vor der Küste Somalias benennen würde. Es wäre schon ausreichend, die eigene Inkompetenz bei der Beurteilung der Umstände einzugestehen. Aber Anträge auf »Befangenheit des Gerichts« wurden ebenfalls serienmäßig abgelehnt.

Nächster Prozeßtermin 20.2.2012, Strafjustizgebäude Holstenglacis, 8 bis 17 Uhr: Entscheidung über die eventuelle Abtrennung von Verfahren und die Fortsetzung der Plädoyers der Verteidigerinnen und Verteidiger

Weitere Informationen: www.reclaim-the-seas.blogspot.com »Krieg ohne Kriegserklärung« – Die »Mission Atalanta«

Die EU-NAVFOR (European Navy Forces)-»Mission Atalanta«, der erste gemeinsame europäische Militäreinsatz, soll seit Dezember 2008 am Horn von Afrika in erster Linie »humanitäre Lieferungen an Somalia« schützen und dabei Piraten aufbringen. Möglich machte einen derartigen Eingriff in die Hoheitsrechte eines Staates eine entsprechende Resolution des UN-Sicherheitsrates vom Juni 2008. Für das zerstörte und entmachtete Somalia stimmte eine sogenannte Übergangsregierung, deren Mitglieder immer nur kurz ins Land kommen und in Kenia leben, zu.

Außer den Niederlanden sind an »Atalanta« im direkten Militäreinsatz noch Frankreich, Spanien, Griechenland, Schweden, Italien, Belgien, Großbritannien und die BRD beteiligt. Ein deutsches Aufklärungsflugzeug filmte am 5.4.2010 sowohl das Kapern des Containerschiffs »Taipan« als auch die Aktion der Niederländer aus großer Höhe. An »Atalanta« sind auch deutsche Kriegsschiffe beteiligt, bis Dezember 2011 hatte Deutschland die Führung des Kommandos inne. Seit Dezember 2011 ist ein Deutscher stellvertretender Kommandeur. Bei der Logistik im Hauptquartier der »Mission« in Dschibuti »helfen« noch Portugal, Luxemburg und Estland, und zu den weiteren »Ausrüstern« zählen Zypern, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Polen, Irland und Finnland. Selbstredend kooperiert »Atalanta« auch mit der NATO. Von den 213 Millionen Euro, die eine »Geberkonferenz« in Brüssel im April 2009 für Somalia bewilligte, sollen nur zwei Prozent für nicht militärische Zwecke verwandt worden sein. Die europäische Rüstungsindustrie steht also schon mal als Gewinner fest. Das EU-Parlament hat den ursprünglich zeitlich begrenzten Einsatz inzwischen bis Dezember 2012 verlängert, Deutschland macht weiterhin mit, obwohl der verkappte Kriegseinsatz allein 2009 die Steuerzahler 43,1 Millionen Euro gekostet hat.

Kritiker der Mission, wie z.B. der Bremer Professor für Seerecht, Peter Irminger, oder der ehemalige »Coordinateur Maritime« beim Internationalen Roten Kreuz, Michel Diot, selbst ehemaliger Schiffsoffizier, bezweifeln ihre Effizienz. Um die Piraterie am Horn von Afrika wirklich zu bekämpfen, bräuchte es den zivilen Aufbau einer funktionsfähigen Gesellschaft in Somalia, sagen sie. Der »Atalanta«-Einsatz koste »nur viel Geld und bringt nichts«. Hat die Mission andere »wichtigere« Ziele, für die Somalia offensichtlich gar nicht kaputt genug sein kann? Trotz lockender Reichtümer und Machtanteile hat das Schweizer Parlament übrigens einen entsprechenden Beteiligungsantrag, mit der Begründung abgelehnt, die »Atalanta«-Mission sei ein »Krieg ohne Kriegserklärung« und die Schweiz immer noch neutral. Im Bundestag sieht dies jedoch nur die Partei Die Linke ähnlich. »Die Bundesmarine hat haufenweise Boote versenkt«, sagte Jan van Aken für seine Fraktion bei der Bundestagsdebatte am 1.12.2011 und forderte zum wiederholten Mal den Stopp von Rüstungsgütern, denn »mit diesen Waffen führt die NATO jetzt Krieg, nicht nur in Afghanistan oder im Irak, sondern auch vor Somalia im Rahmen von ›Atalanta‹«.


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http://www.jungewelt.de/aktuell/pdf/index.php