Stuttgart21 Solierklärung aus HH

Stuttgart 21

Für Protestkultur in Stuttgart und anderswo - Gegen Innenminister und autoritäre Formierung!

Solidaritätserklärung gegen die Polizeigewalt in Stuttgart aus der Mobilisierung gegen die Innenministerkonferenz 2010

Am Donnerstag den 30.9. ist es im Zusammenhang der Räumung eines Parks zur Durchsetzung des umstrittenen Projektes Stuttgart 21 zu schweren Übergriffen der Polizei gekommen. Durch den Einsatz polizeilicher Gewalt sollen Protestierende abgeschreckt und Fakten geschaffen werden. Schwere Augenverletzungen durch Wasserwerfereinsätze und Knochenbrüche durch Tonfaschläge werden dabei bewusst in Kauf genommen. Wir, als ein Teil der  Mobilisierung gegen die diesjährige Innenministerkonferenz, verurteilen diese polizeiliche Gewalt und sind solidarisch mit den Betroffenen. 

 

Die polizeilichen Übergriffe von Stuttgart sind kein Einzelfall und auch keine persönliche Verfehlung einzelner Beamter, sie sind vielmehr eingebunden in die autoritäre Ideologie eines starken Staates, der nach Innen und Außen zunehmend aufrüstet. Brokdorf, Wackersdorf, Gorleben oder die Startbahn West in Frankfurt sind Synonym und Begriff für den Umgang des Staates mit Protestbewegungen. Die Räumung von Hüttendörfern, der Kampf um Baustellen von Großprojekten und milliardenschweren Bauruinen sah und sieht sich mit einer politisch gewollten Kriminalisierung konfrontiert. Protest soll hierdurch kontrollierbar werden, zu einem ungefährlichen Beiwerk und demokratischen Feigenblatt von Verhältnissen, in denen die Entscheidungen längst gefallen sind.

 

In ganz Europa werden Städte durchökonomisiert und Metropolen in gegenseitiger Standortkonkurrenz ausgebaut. Derselben Logik wie der Elbphilharmonie als Aushängeschild einer Marke Hamburg folgt auch Stuttgart 21. Städte sind darin kein Ort des öffentlichen Lebens mehr, sondern sollen vor allem ökonomisch verwertbar gemacht werden. Die Vertreibung störender, weil armer oder nonkonformer Menschen geht ebenso damit einher wie die Steigerung von Mieten und Gentrifizierung ganzer Stadtteile. 

 

Die Umwandlung des Stuttgarter Kopfbahnhofes ähnelt im stadtentwicklungspolitischen Sinne dem Umbau von Bahnhöfen in vielen anderen Städten. Gleise sollen unter die Erde. Neue Baugebiete erschlossen werden. Was folgt, sind nicht Sozialwohnungen oder wenigstens günstiger Nahverkehr, sondern Modernisierung als Motor einer weiteren Aufwertung, sprich Verteuerung des Umfeldes. Stadt entwickelt sich dabei nicht selbstbestimmt nach den Interessen der Bewohner_innen, als Verdichtung von Unterschiedlichkeit und sozialer Ort, sondern als Geldanlage und kapitalgerechter Standort. 

 

Das Städtische als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung wird dabei über Privatisierungen oder vermeintliche ökonomische Standortzwänge zunehmend abgeschafft. Proteste, die in immer mehr Städten gegen diese Entwicklung aufflammen, Recht auf Stadt in Hamburg, der Kampf um Freiräume und Projekte im Ruhrgebiet, in Berlin, Köln, Darmstadt oder Freiburg, teilen in allen ihren Unterschiedlichkeiten die Forderung nach Aneignung und Teilhabe im öffentlichen Raum.

 

Wir finden richtig, dass sich Bewegungen von Repression wie in Stuttgart nicht einschüchtern lassen und mit Demonstrationen, Besetzungen, Blockaden oder Sabotage versuchen, Widerstand zu leisten. Protest, der diesen Namen verdient, kann sich nur im Widerspruch entwickeln, nicht durch Vereinnahmung oder Versuche der Integration in runden Tischen, die diesen lediglich mundtot machen sollen. Verletzungen von Demonstrant_innen, Beschränkungen des Demonstrationsrechtes, vorübergehende Festnahmen und die Einschüchterung von Beteiligten an Protesten sind kein Betriebsunfall, sondern ein parteiübergreifendes politisches Konzept der Inneren Sicherheit. 

 

Wer protestiert, muss damit rechnen, auf den Kopf zu bekommen, denn dies liegt offensichtlich im Selbstverständnis der Polizei. Entsprechend fallen die Reaktionen der Politik in Stuttgart aus. Polizeipräsident Stumpf gab die üblichen Floskeln aller Polizeipräsidenten in dieser Lage von sich und behauptete eine Aggressivität der Demonstrant_innen, wie es sie seit Jahrzehnten nicht mehr in Stuttgart gegeben habe. 

 

Auch die Gewerkschaft der Polizei rechtfertigt ihr Handeln. Der Einsatz sei legitim, aber hart gewesen, die Bilder zwar nicht schön. aber dazu sei die Polizei ja auch nicht da. Ist man dort in gewisser Weise wenigstens ehrlich, packt Innenminister Heribert Rech noch noch eins drauf. Die Eskalation ginge von den Protestierenden aus, der Skandal sei nicht, dass die Polizei Kinder und Jugendliche misshandelt, sondern, dass Eltern und Lehrer_innen diesen Beteiligung an grundgesetzlich verankerten Minimalstandards ermöglichen. 

 

Demonstrationsrecht bedeutet heutzutage das Recht, gefilmt, durchsucht und kontrolliert zu werden, in Polizeikesseln oder abgelegenen Orten zu laufen, sich verprügeln zu lassen oder von Wasserwerfern verletzt zu werden. Aber alles bitte recht friedlich und dankbar, dass man überhaupt auf die Straße darf. Wir setzen nicht auf Wahlen oder Parteienpolitik. wenn wir diese Verhältnisse kritisieren und angreifen. Wir setzen stattdessen auf Öffentlichkeit, Solidarität und unterschiedliche Protestformen als legitimen Ausdruck von gesellschaftlichem Leben. Kontinuität und Vernetzung sind ebenso wichtig wie die Entwicklung einer Kritik über den eigenen Tellerand hinaus. Repression gegen Flüchtlinge und die Abschottung Europas verstehen wir als Teil derselben Verhältnisse, welche uns als Schlagstock an den Bauzäunen im Inneren begegnen. 

 

Zeitgleich zu den Protesten in Stuttgart kam es zu heftigen Angriffen auf  Teilnehmer_innen des antirassistischen No Border Camps in Brüssel. Zum nächsten Castortransport werden sich diese Ereignisse ebenso wiederholen wie im Rahmen der Innenministerkonferenz in Hamburg im November. Denn überall dort, wo politischer Widerstand ist, findet sich auch staatliche Gewalt und Repression. Wir nehmen dies nicht zum Anlass, den Kopf einzuziehen und uns verängstigt ins Private zurückzuziehen. Im Gegenteil!  

 

Wir finden richtig und sinnvoll, den Protest an den Ort zu tragen, wo Jahr für Jahr Gesetze verschärft werden, die Gewalt der Polizei gerechtfertigt wird, mehr Überwachung beschlossen wird und die Bedrohung des Staates als apokalyptisches Szenario an die Wand gemalt wird. Dort, wo Heribert Rech über Jugendliche als Schutzschilder in Stuttgart dozieren wird, sich mit seinen Amtskollegen aller Parteien über eine neue Qualität der Gewalt gegen Polizeibeamte einig und auf der Suche nach einer Normalität ist, die sozialen Stillstand meint.

 

In Bewegung bleiben!

 

Wir laden alle ein, die Propagandashow der Innenminister zu stören und die bundesweiten Demonstrationen am 13.11. und 17.11 in Hamburg zu unterstützen. Solidarität gegen staatliche Gewalt ist ein wichtiger Bestandteil sozialer Bewegungen und Proteste. Die Angriffe auf Protestierende in Stuttgart treffen deshalb nicht nur jene, die sich dort organisieren und bewegen, sondern alle, denen Emanzipation, Kritik und andere Vorstellungen von Gesellschaft und Zusammenleben am Herzen liegen. Erteilen wir dem Versuch einer Illegalisierung und Überwachung im Alltag und der Kriminalisierung von Protest und Widerstand eine deutliche Absage. 

 

Für die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamt_innen und die Abschaffung von Wasserwerfereinsätzen!

Gegen Polizeigewalt, Repression und die Verschärfung der Inneren Sicherheit!

 

Aktivist_innen aus Hamburg 

 

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Sehr guter Text und scharfsinnige Analyse! In diesem Kontext sollte man auch noch die Niederlande einbeziehen, wo seit 01.10 Hausbesetzung eine Straftat darstellt, die mit mehreren Jahren Knast bestraft werden kann. Heute fand in Amsterdam eine scheinbar ziemlich kämpferische Demo statt, an der ebenfalls etliche Leute verprügelt wurden.

Bericht/Bilder

https://ch.indymedia.org/de/2010/10/77825.shtml

http://indymedia.nl/nl/2010/10/69874.shtml

 

Auch in Weissrussland scheint's ziemlich zu brodeln. Unsere GenossenInnen sind mit willkürlichen Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen konfrontiert.

Bericht:

https://ch.indymedia.org/de/2010/09/77766.shtml

Der Sprecher des Polizeipräsidiums Stuttgart Stefan Keilbach, der von der Räumung am Donnerstag im Park so begeistert war, wohnt übrigens:

Stefan Keilbach
Schmollerstraße 131
70378 Stuttgart

U2 -> Ausstieg Steinhaldenfeld.

Er freut sich bestimmt über Post und aufmunternden Besuch und Zuspruch. Waren ja ziemlich anstrengende Tage für ihn, so viele Verletzte zu befeiern...

Mehrere hundert zum Teil schwer Verletzte durch Knüppel, Wasserwerfer und Reizgas, viele davon SeniorInnen und Jugendliche, und zahlreiche Festnahmen, das ist die Bilanz der staatlich angeordneten Eskalationsstrategie bei der Demonstration gegen das milliardenschwere Renommierprojekt "Stuttgart 21" vom Donnerstag, den 30.09.2010.

Der Zynismus, mit dem die baden-württembergische Regierung auf die exzessive Polizeigewalt gegen Stuttgart-21-GegnerInnen reagiert, ruft mittlerweile allgemeine Fassungslosigkeit hervor. Ministerpräsident Stefan
Mappus offenbart ein vordemokratisches obrigkeitsstaatliches
Rechtsverständnis, wenn er verkündet: "Wer sich nicht an die Anweisungen der Polizeibeamten hält, handelt rechtswidrig. Auf solche Situationen
mussten die Polizeibeamten reagieren." Und der Pressesprecher der Stuttgarter Polizei erklärte: "Wenn Demonstranten sich nicht einwandfrei verhalten, dann kann die Polizei auch mal hinlangen".
Ganz nebenbei machen Mappus und sein Polizeisprecher damit Gehorsam und "einwandfreies Verhalten" zur Vorbedingung für das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Eine von Innenminister Heribert Rech sofort in den Medien lancierte Falschmeldung über angebliche Steinewerfer unter den DemonstrantInnen, durch die der Polizeieinsatz nötig geworden sei, musste sein Ministerium schon am nächsten Tag zurückziehen.

So berechtigt und notwendig die momentanen Proteste gegen die Polizeigewalt in Stuttgart sind - das wirklich Außergewöhnliche am Polizeieinsatz vom vergangenen Donnerstag war, dass seine Opfer auch mit erhöhtem propagandistischen Aufwand nicht pauschal als Linksextremisten" diffamiert werden konnten. Sie bestanden zum Großteil aus gut bürgerlichen älteren Damen und Herren, Schülerinnen und Schülern aus der so genannten Mitte der Gesellschaft. Für Linke dagegen ist das Vorgehen der Polizei keine Neuigkeit. Die restriktive Auslegung des Versammlungsrechts, die Eskalationsstrategie, die Konfrontation mit einer hochgerüsteten Polizeiarmada, die Diffamierungs- und Desinformationspolitik im Anschluss
an die polizeiliche Gewalt - all das ist für Linke nicht nur in Baden-Württemberg Alltag, wenn sie von ihrem Recht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit Gebrauch machen wollen.

Es steht zu befürchten, dass die Polizei versucht, in Strafverfahren gegen die am 30.09. festgenommenen Stuttgart-21-GegnerInnen eine nachträgliche Legitimation für ihre Prügelorgien zu konstruieren.

Die Rote Hilfe e.V. wird alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, dass diese Strategie nicht aufgeht und die Angeklagten finanziell und politisch unterstützen.

Für den Bundesvorstand der Roten Hilfe e.V.

Mathias Krause

http://systemausfall.org/rhhh/?q=node/75