Im Zweifel für den Angeklagten, Herr Richter!

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„Ein menschliches Gedächtnis kann nicht alles aufnehmen.“

Hauptbelastungszeuge

 

Am 08.07.2010 fand am Reutlinger Amtsgericht in der Gartenstraße 40 ein Prozess gegen zwei Antifas statt. Den beiden Antifas, nennen wir sie einmal Clara und Max, wurde vom Staatsanwalt vorgeworfen während der großen Demonstration gegen den Nazi-Aufmarsch am 01.05.2009 in Ulm und Neu-Ulm angeblich vermummt Flaschen auf Polizeibeamten geworfen zu haben. Der den beiden konkret angelastet Flaschenwurf führte dazu, dass eine Flasche einen Meter neben einem Polizisten zu Bruch ging. Damit hätten die Angeklagten, so der Vorwurf, aber die Verletzung des Polizisten „billigend in Kauf genommen“. Die Anklage lautete auf „versuchte schwere Körperverletzung“.

 

Am Anfang der Verhandlung stellte sich heraus, dass es dem Gericht nicht möglich gewesen war mit der in Freiburg lebenden Angeklagten per Post zu kommunizieren. Es wurde lediglich per Email kommuniziert. Trotz der damit erschwerten Vorbereitung erklärte sich die Angeklagte bereit zu bleiben.

Beide Angeklagte machten keinerlei Angaben zur Sache.

 

Zu Beginn des Prozesses gab der Anwalt von Max eine Erklärung ab. Clara war übrigens ohne Anwalt. Er verwies darauf, dass am 01.05.2009 etwa 20.000 Menschen gegen 1.000 Neonazis demonstriert hätten. In der Folge seien 259 Verfahren gegen Linke und 7 Verfahren gegen Rechte erhoben wurde. In einem Freispruch in Ulm, den der Anwalt zitierte, gab der Richter an, dass die Beweisaufnahme fehlerhaft vonstatten gegangen wäre. Der zuständige Richter gab auf den Vorwurf, dass Schildmütze und Sonnenbrille eine Vermummung darstellen würden den Kommentar ab: „So laufe ich auch herum“. Nach der Durchsicht von Polizeivideos gab derselbe Richter an, dass die Polizei mit ihrer stundenlangen Einkesselung erst für die Aggression gesorgt hätte. Das Polizeiverhalten in Ulm sei „kein Lehrbeispiel für Deeskalation“ gewesen.

 

Nach dieser Erklärung wurde als erster Zeuge der Ulmer Kriminalbeamter Jautz befragt. Jautz war Leiter der Ermittlungsbehörde, die aus den Ereignissen vom 1. Mai in Ulm 270 Straftaten ableitete.

Vor Gericht gab er seine Einschätzung von damals wieder, dass „Krawallmacher in die Stadt“ gekommen seien „nicht um ihr Grundrecht auf Demonstration wahrzunehmen“. Aus überzeugten Antifaschist_innen wurden so Polit-Hooligans gemacht.

In seinem Bericht gab er auch wieder, dass ein „schwarzer Block“ sich versucht hätte an die Spitze eines DGB-Aufzuges zu setzen, was aber in Absprache mit den Verantwortlichen des DGB von der Polizei verhindert wurde!

In der Olgastraße seien Polizeibeamte angegriffen worden. Als der Nazi-Aufzug 14 Uhr startete seien dort Absperrgitter nach hinten gerissen worden und ein „regelrechter Flaschenhagel“ sei auf die Polizist_innen niedergegangen. Dadurch hätte es „zahlreiche verletzte Polizeibeamte“ gegeben, unter anderem durch „Knalltraumas“ durch Böller.

Später seien 14 „Straftäter“ in dieser Sache ermittelt worden, darunter auch die beiden Angeklagten. Er habe aber „selber nicht gesehen“ wie die Angeklagten etwas getan hätten.

Der befragte Kriminalbeamte bot dann noch einen 6-7minütigen Film der Geschehnisse in der Olgastraße an. Zuerst gab er noch an, die Angeklagten „mögen drauf sein“. Später korrigierte er sich: „die zwei selber speziell sind nicht drauf“.

Zum konkreten Vorwurf hatten also weder der Zeuge noch dessen Film etwas beizutragen. Er hatte nur die Situation aus Polizeisicht geschildert. Der Anwalt des Angeklagten fragte, warum seine Ermittlungsgruppe selbst einen Monat nach den Ereignissen noch keine Anzeige gegen seinen Mandanten gestellt hatte. Der Kriminalbeamte erklärte das mit der großen Zahl der Fälle.

Abschließend dankte der Richter dem Zeugen, dass dieser seinen „Kopf hingehalten“ hätte.

 

Der zweite Zeuge, der danach befragt wurde, war der 27jährige Oberpolizeimeister Schmidt. Er war damals in Ulm für die berüchtigte „Beweisnahme- und Festnahmeeinheit“ (BFE) Göppingen als Zivilpolizist vor Ort. Sein Auftrag sei das „Beobachten und Erkennen von Straftätern“ gewesen.

Bereits am Bahnhof, so der Zeuge, seien ihm die Beschuldigten aufgefallen. Ihm seien die beiden später erneut, jetzt angeblich mit Sonnenbrille und Kapuze über dem Kopf, aufgefallen. Er habe dann angeblich beobachtet, dass die beiden sich an Flaschenwürfen beteiligten. Dass geschah aus 50 Meter Entfernung bei einer Menge von cirka 400 ähnlich schwarz gekleideten Personen.

Später, gegen 17 Uhr, seien die beiden auf seinen Hinweis von Kollegen verhaftet worden, er selbst aber habe die Verhaftung nicht getätigt.

Auf die frage des Richters, ob er sich irren könnte, verneinte der Zeuge. Kurz zuvor hatte er noch eingeräumt: „Ein menschliches Gedächtnis kann nicht alles aufnehmen.“

Auch der Richter fand es „ungewöhnlich“ dass man „zwei einzelne aus der Menge“ einfach so „wiedererkennt“. Der Zeuge wiederholte seine Gewissheit („hundertpro“).

Bei der kurzen Einlassung des Staatsanwaltes, dass der Zeuge die Straftat für 13.30 Uhr notiert habe, widersprach der Zeuge, es sei aber 14.30 Uhr gewesen. Diesen Unterschied von immerhin einer Stunde tat der Staatsanwalt als unwichtig ab.

Die kritische Frage des Verteidigers von Max, ob der Zeuge die beiden Angeklagten durchgehend beobachtet hätte, beantwortete dieser mit der Feststellung, diese seien „auch irgendwo [gewesen] wo ich sie nicht mehr sehe“.

Woran er die Angeklagten dann immer wieder erkannt habe, wollte der Anwalt daraufhin wissen. Die lapidare Antwort: „Manchmal erkennt man sie einfach wieder.“ Nach genaueren Nachfragen, gab der Zeuge schließlich an, er habe die Angeklagte an ihrer Hautfarbe und ihrem Turnbeutel immer wieder identifizieren können. Später folgte noch der Hinweis auf den Spaghettiträger und eine Halskette.

Der Anwalt stellte danach fest, dass die Festgenommenen keinen Kapuzenpullover, wie beschrieben, bei sich gehabt hätten. Da die Festnahme sehr überraschend erfolgt sei, hätten die Angeklagten schwerlich etwas wegschmeißen können.

Auf das erneute Bestehen des Anwaltes dass der Zeuge doch einmal mehr Erkennungsmerkmale benennen sollte, kam die unbestimmte Antwort, es seien „verschiedene, auffällige Merkmale“ gewesen. Schließlich benannte er noch das weibliche Geschlecht der Angeklagten. Es seien ja sehr wenige weibliche Demonstranten unterwegs gewesen. Danach dankte der Richter, wie bereits dem Zeugen zuvor, auch diesem Polizisten, dass er „sich engagieren“ würde. Man habe es „auch nicht leicht wenn man dazwischen steht“.

 

Dann verkündete der Richter, dass er leider wenig über die Angeklagten wüsste. Er habe aber einmal den Namen der Angeklagten im Internet gegoogelt. Unklar ist, was irgendwelche ergoogelte Informationen oder Bilder eigentlich mit einem Richterspruch zu tun haben. Gerade bei Namen sind im Internet Verwechslungen leicht möglich. Es scheint also nicht nur bei Arbeitgebern Mode zu sein sich über das Internet vermeintliche Informationen über Personen zu beschaffen. Des weiteren gab der Richter an, dass er sich die Bankdaten der Angeklagten besorgt hätte und daher um deren niedrigen Kontostand wüsste. Fraglich, ob es legal ist, dass ein Richter einfach so Informationen über das Konto einer noch nicht verurteilten Person erhält.

Der Richter jedenfalls betonte, dass ihm der politische Hintergrund der vermeintlichen Tat egal sei. Es gehe um Mensch und Mensch und die Gewalt dazwischen. Er wolle aber eine „Brücke schlagen“ zwischen dem „staatlichen Strafanspruch“ und einer „Dummheit“.

 

Es folgten die Abschlussplädoyers. Zuerst der Staatsanwalt. Für Max, der zur „Tat“zeit 17 Jahre alt war und „Ersttäter“ sei, forderte er eine Arbeitsauflage von 120 Stunden. Da Max „sehr sozial orientiert“ sei, würden diese Arbeitsstunden für ihn sicher „keine Probleme“ darstellen.

Clara hingegen sei zu Tatzeit über 21 und vorbelastet gewesen. Deswegen plädiere er für eine Freiheitsstrafe von 3 Monaten, ausgesetzt auf Bewährung. Da Clara eine Ausbildung zur Erzieherin mache, hätte es für sie keinen Sinn „gemeinnützige Arbeit“ zu leisten. Merke: Wer sich schon gemeinnützig engagiert oder betätigt, soll nach Vorstellung des Staatsanwaltes lieber mit einer Gefängnisstrafe bedroht werden. Zudem solle sie 300 Euro an einen gemeinnützigen Verein spenden und die Kosten der Verhandlung tragen.

Der Staatsanwalt bat zuletzt den Anwalt des Angeklagten keine „politisches Spektakel zu machen“.

Der Anwalt des Angeklagten verwies wie am Anfang darauf, dass in vorangegangenen Prozessen zum 1. Mai in Ulm vom Gericht das Verhalten der Polizei problematisiert wurde, so dass sogar der Oberstaatsanwalt die Polizei in Schutz nehmen musste.

Der einzige Zeuge habe kaum benennen können woran konkret er die Angeklagten wiedererkannt habe. Ein Eindruck sei nun mal schwierig zu beweisen. Die drei vor allem genannten Erkennungsmerkmale bezüglich der Angeklagten seien: schwarze Kleidung, weibliches Geschlecht und dunkle Hautfarbe. Personen mit diesen Merkmal seien vor Ort viele gewesen, sie führen nicht zur Angeklagten speziell hin. Aus dreimal Null werde eben immer noch Null.

Zudem seien bei der Festnahme nicht die beschriebenen Kapuzen-Kleidungsgegenstände gefunden worden.

Für den Angeklagten habe der Zeuge überhaupt kein Erkennungsmerkmal benennen können.

Daher plädierte der Anwalt auf einen Freispruch.

 

Nach einer fünfzehminütigen Pause verkündete der Richter sein Urteil: Beide seien schuldig. Die Angeklagte wird zu 90 Tagessätzen a 10 Euro verurteilt (und ist damit vorbestraft, ein Hindernis im Beruf). Der Angeklagte muss 40 Arbeitsstunden ableisten und einen Aufsatz von vier Seiten über die Lektüre des Buches „Die Angst ist dein größter Feind“ verfassen. In dem Buch geht es laut Richter um Polizisten, die „im Niemandsland ihren Kopf hinhalten“.

In seiner Begründung des Urteils meinte der Richter, dass der einzige Zeuge die Angeklagte erkannt habe, weil diese ein „freundliches Wesen ausgestrahlt“ habe. Die Anmerkungen des Verteidigers, dass in Ulm auf Polizeiseite einiges schief gelaufen sei, tat der Richter damit ab, er habe keinen „Anlass Manöverkritik zu üben“.

Die Angeklagten hätten sich zu einer „Dummheit hinreißen lassen“. Dass der Polizist sich an die Angeklagte an Hand ihrer Hautfarbe erinnere, verstehe er. Er würde sie als „kaffeebraun“ einordnen. Der Angeklagte hingegen hätte ein „0815-Gesicht“, an dass sich niemand so einfach erinnern könne.

Die Tat jedenfalls sei ein „stark jugendtypisches Verhalten“, aber die Strafe würde „ihnen nicht ihre bürgerliche Zukunft“ verbauen. Besonders beim damals noch minderjährigen Angeklagten sei die Tat eine „jugendtypische Blödheit“ gewesen, „ein bisserl pubertär“.

Zum Schluss berief sich der Richter noch mal auf den angeblichen bürgerlichen Anti-Gewalt-Konsens und betonte: „Wir sind die Guten!“ Dass es mit der Gewaltfreiheit nicht so weit her ist, zeigen beispielsweise Polizeirepression, strukturelle Gewalt (z.B. Dauergängelung sozial schwacher Menschen), zwei aktiv mit geführte Kriege (Kosovo, Afghanistan), Rüstungsexporte in alle Welt oder, der Umgang mit Flüchtlingen (Abschottung EU-Europas, Beschränkung der Bewegungsfreiheit, Zwangsdeportation zurück zu Armut, Folter und Krieg).

 

Erinnert sei der Richter an den (selbstgestellten) Anspruch des bürgerlichen Rechtsstaates: In dubio pro reo. Zu Deutsch: Im Zweifel für die Sache bzw. für den Angeklagten. Ist die Schuld des Angeklagten nicht zweifelsfrei erwiesen, so muss er freigesprochen werden. Eigentlich ...

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Einspruch einlegen? Btw, da der Richter offen rassistische Wörter benutzt, könntet ihr euch auch an Gruppen von Schwarzen oder PoCs wenden, wie z. B. die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland oder den braunen Mob. Die sind zwar linksbürgerlich, dafür aber ziemlich einflussreich. Auch allgemein für weiße sind deren Seiten übrigens anzuraten, um sich mal mit den eigenen, verinnerlichten Rassismen auseinander zu setzen.

Gibt es das Urteil bezüglich der Vermummung mti Sonnenbrille und Mütze irgendwo online? Ich habe eine Verhandlung im Sebtember in Ulm wegen mitführen von Gegenständen die dazu geeignet sind sich zu vermummen(Sonnenbrille,Mütze,Kapuze, Halstuch), der Richterspruch würde mir sicherlich sehr helfen.

 

 

Solidarische Grüße an die Angeklagten.