Vom Kurzschluss zum sozialen Blackout

Der untenstehende Text wurde anlässlich eines anarchistischen Treffens im Jahr 2012 verfasst, hat aber seitdem eher an Bedeutung gewonnen. Die Strukturen der Herrschaft und der Ausbeutung bleiben nicht immer gleich. Sie ändern sich und verwandeln sich im Laufe der Geschichte, aus Gründen, die mit ihrem Hang zur Selbsterhaltung zusammenhängen und folglich einem direkten und unbestreitbaren Verhältnis zur sozialen Konfliktualität stehen. Wenn man bis in die 70er Jahre starke Spannungen und bedeutende Turbulenzen im produktiven Bereich wahrnehmen konnte, die sich logischerweise auf dem Gebiet der grossen Fabriken konzentrierten, oder zumindest mit allen Blicken dahin gerichtet, so scheint sich die Konfliktualität heute, im alten Europa, in andere Bereiche „verschoben“ zu haben. Was nicht daran hindert, dass die Ausbeutung fortdauert, bei der Arbeit sowie anderswo, sicherlich aber auf andere Weise als zuvor, sicherlich auf „dezentralisiertere“ Weise, sicherlich besser gegen die eventuellen Infragestellungen aus dem „Innern“ geschützt.


Heute geht es im Grunde darum, die Analyse der Strukturen der Macht und der Ausbeutung weiterzuführen, sie zu aktualisieren und zu vertiefen. Die alten Modelle wurden bereits verlassen, auch wenn es noch immer Leute gibt, die weiterhin an die Konstituierung des „Proletariats“ als Kraft und an seine Bekräftigung innerhalb der produktiven Sphäre glauben. Eine solche „neue“ Analyse wurde bereits vor einigen Jahrzehnten begonnen, heute aber scheint es, dass sich ein zusätzlicher Schritt aufdrängt.
Die Grundlage der Ausbeutung, oder besser, ihrer Selbsterhaltung, liegt in der sozialen Reproduktion. Es gibt nicht nur die offensichtliche Suche nach Macht und Akkumulation, sonder auch die Konflikte, die im Innern ihrer Logik untergebracht sind, reproduzieren die Ordnung der Dinge. Festzustellen ist, dass der Arbeiter die Ausbeutung produziert und dass die Ausbeutung den Arbeiter reproduziert. Ebenso wie der Bürger die Macht produziert und die Macht den Bürger reproduziert. Die Möglichkeiten, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, befinden sich nicht mehr da, wo die alten Bücher der revolutionären Bewegung sie verorteten, und auch nicht in einer neuen Version eines langsamen und endlosen Prozesses der Bewusstwerdung, sondern anderswo. Und es ist dieses aufständische Anderswo, das wir analysieren und ausprobieren müssen.
Die Ausbeutung und folglich die soziale Reproduktion folgen nicht mehr konzentrationshaften Linien, wie sie es in der Vergangenheit tun konnten. Die grossen Industriekomplexe mit ihrer Kreierung von Arbeitern, die fähig sind, sich untereinander wiederzuerkennen, sind vorbei; die grossen Kampfverbände, die fähig sind, tausende Leute zu begeistern und zu mobilisieren, sind vorbei. Die Ausbeutung hat sich heute so sehr diversifiziert und dezentralisiert, dass sie das Aufkommen eines kollektiven Subjektes, eines „Proletariats“ verunmöglicht, selbstverständlich ohne dass dies bedeutet, dass es keine „Proletarier“ mehr gäbe. Die Ausbeutung strebt es nicht mehr an, sich in einer grossen Struktur zu konzentrieren, sondern, auf dem ganzen Gebiet kleine Strukturen zu verstreuen, die alle durch Energie- und Kommunikationsnetze verbunden sind, welche die Produktion unter ständigem Fluss und eine dichte Reproduktion der Herrschaft ermöglichen. Wenn die heutige Gesellschaft einem grossen Gefängnis unter offenem Himmel gleicht, dann wären seine Stacheldrähte aus Glasfaser und seine Wachtürme wären vielmehr Kommunikationsantennen.
Wenn wir diese Entwicklung unterstreichen, dann nicht aus blosser Neugierde und Lust daran, zu verstehen, wieso die soziale Konfliktualität heute nicht mehr dem alten, gut geordneten Schema des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie folgt, den beiden gut indentifizierbaren Blöcken, die sich um eine Festung streiten, sondern, um Interventionswege zu entdecken, Punkte, an denen es möglich ist, die Ausbeutung, und somit die soziale Reproduktion, anzugreifen. Diese Wege finden sich unserer Meinung nach unter anderem in den Infrastrukturen, von denen die Wirtschaft und die Macht abhängen. Diese dezentralisierte und höchst komplex gewordene Infrastruktur hat die neuen Formen der Ausbeutung ermöglicht (es genügt, an die heutige Notwendigkeit zu denken, in jedem Moment per Mobiltelefon erreichbar zu sein, in der Logik der Flexibilisierung der Arbeit), und in ihr ist es folglich, wo die Ausbeutung von heute angegriffen werden kann. Die Glasfaserkabel, die Transportnetze, die Energieversorgung, die Kommunikationsinfrastrukturen wie die Mobilfunkantennen: dies ist ein ganzer Interventionsbereich, der aufgrund seiner Natur unkontrollierbar ist, in dem es kein Zentrum mehr gibt, dass es zu erobern gilt, und keine Position mehr gibt, die es zu halten gilt, in dem die Dezentralisierung, durch die Logik der Dinge, eine dezentralisierte, informelle, aus kleinen Gruppen bestehende, auf den Angriff abzielende Organisation impliziert.
Viele Personen haben die Verletzlichkeit dieser Infrastrukturen aufgezeigt, aber es gibt noch viel Klärungs- und Aufzeigearbeit zu machen. Man könnte nur schon damit beginnen, die praktischen Ratschläge zu empfangen und zu vertiefen, die aus der zeitgenössischen Konfliktualität hervorkommen. Anstatt sich auf die Konfrontationen mit der Polizei zu fokussieren, würde man besser daran tun, zu betrachten, wie in gewissen Aufruhren in den Metropolen und ihren Peripherien die Infrastruktur angegriffen wird: Sabotage der öffentlichen Beleuchtung, Brandstiftungen von Generatoren und Elektrotransformatoren, Sabotagen der Transportachsen der Eisenbahn oder des öffentlichen Verkehrsnetzes. Eine aktuelle Analyse der Metropole könnte beispielsweise die Wichtigkeit der Transporte  (von Menschen, von Waren, von Informationen) nicht unbeachtet lassen. Aber die Aufklärungsarbeit kann sich nicht darauf beschränken. Wir brauchen präzise Angaben, präzise Analysen und präzise technische Kenntnisse.
Selbstverständlich hat die Möglichkeit und die Notwendigkeit des verstreuten Angriffs gegen die Infrastrukturen der Macht wenig Sinn, wenn sie nicht in eine breitere Projektualität eingeschrieben ist. Auch wenn es bestimmt immer gut und angebracht ist, zu sabotieren, darf man nicht vergessen, dass es bei allem ein Vorher, ein Während und ein Nachher gibt. Wenn Brüche in der Normalität, in der sozialen Reproduktion, Möglichkeiten bieten, dann müssen diese bereits im Voraus erdacht werden. Was tun im Falle einer Kappung der Elektrizität? Was tun, wenn die öffentlichen Transportmittel nicht mehr funktionieren und inmitten einer Stadt ein unglaubliches Chaos erzeugen? Abgesehen davon, dürfte diese ganze Frage der Infrastruktur nicht als etwas betrachtet werden, das von den anderen Konfrontationsbereichen getrennt ist. Sie kann freilich in jedes beliebige Kampfprojekt integriert werden. Wenn die Konfliktualität heute ungleich und verstreut ist, ohne ein „zentrales“ Terrain, dann geht es nicht darum, wieder eine Zentralität zu finden oder zu konstruieren, die die verstreuten Feindlichkeiten in einem einzigen revolutionären Projekt vereinigen würde, sondern darum, zwischen den verschiedenen Konfliktualitäten Brücken aufzubauen und zu schlagen. Ein präziser Angriff gegen die Infrastrukturen hat beispielsweise immer Konsequenzen, die breiter sind als ein Aspekt der Macht. In einem Aufruhr die Beleuchtung eines Viertels zu kappen, ist nicht nur eine Frage davon, die Vorstosse der Ordnungskräfte zu erschweren, sondern wird Echos haben, die weit über jede technische Erwägung des Moments hinausgehen. Man lebt nicht gleich, wenn es dunkel ist. Dieser Aspekt ist noch viel eklatanter im Bezug auf das Energienetz; wo die Konsequenzen oft weit über das erste, vorgestellte Ziel hinausgehen werden.
Zweitens geht es nicht darum, diese Überlegungen und Vorschläge als Vorwände für eine grosse Technikerverschwörung zu nehmen, die die Städte ins Dunkel, oder vielmehr, wie es heute der Fall wäre, in ein Informations- und Kommunikations-Blackout tauchen würde. Was es auszuarbeiten gilt, das sind Projektualitäten, und seien es auch bescheidene, die all jenen diese Angriffsmöglichkeit aufzeigen, die auf einer radikalen Grundlage kämpfen wollen, und somit nicht nur den Revolutionären. Die Frage auf eine militaristische Weise anzugehen, erneut die Zentralisierung gegenüber der Verstreuung zu preisen, über alles in Sachen „Effizienz“ nachzudenken, zeugt davon, von dem, was gesagt wurde, rein gar nichts verstanden zu haben. Was heute „neu“ ist, das ist beispielsweise nicht die Möglichkeit, eine Elektrozentrale in Angriff zu nehmen, um die Stadt ins Dunkel zu tauchen, sondern die Möglichkeit, überall das integrierte und verstreute Stromnetzwerk in Angriff zu nehmen. Diese Möglichkeit erfordert keine grossen Organisationen, und auch keine Formalisierungen der subversiven Spannung, sie ermöglicht direkte, einfache und leicht zu reproduzierende Angriffe.
Wenn es stimmt, dass die Stabilität der etablierten Ordnung seit einigen Jahren am bröckeln ist, wenn es stimmt, dass das Verschwinden der alten Kampfmodelle und der Vermittlungsorganisationen von neuen Formen der sozialen Konfliktualität gefolgt wird, die viel weniger kontrollierbar und viel wilder sind, dann müssten wir unsere theoretische und praktische Aufmerksamkeit auf das richten, was dazu beitragen könnte, diesen unkontrollierbaren Sumpf auszuweiten. In diesem Sumpf kann uns nichts garantieren, dass es die anarchistischen Ideen und die Freiheit sein werden, die den Sieg davon tragen, was aber sicher ist, das ist, dass er für diese Wünsche bereits einen viel fruchtbareren Boden bietet.

Einige Untergraber des sozialen Gebäudes

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