Bürgertum, ArbeiterInnen, Elitarismus – Was ist gemeint?

Quelle: http://www.autonomie-magazin.org/2017/04/03/die-radikale-linke-muss-mit-sich-selbst-brechen/

Im Vorfeld des „Selber machen“-Kongresses, der vom 28. bis 30.04. in Berlin stattfinden wird, scheint eine Diskussion über soziale Kämpfe in Gang zu kommen. Bereits 2015 beschäftigte sich die Antifa Kritik und Klassenkampf unter der Überschrift „Der kommende Aufprall“ mit der „Suche nach der Reißleine in Zeiten der Krise“ (Kurzfassung: dort); 2016 folgte ein Papier aus Bremen „Für eine grundlegende Neuausrichtung linksradikaler Politik“. Mitte März veröffent­lichte die Basisgruppe Antifa „Thesen zu sozialen Kämpfen“ (.pdf-Version), zu denen wir unse­rerseits ein paar Anmerkungen geschrieben und bei linksunten veröffentlicht hatten. Jetzt folg­te vom Autonomie Magazin ein Text zu „Basisorganisierung als Grundpfeiler eines revolutio­nären Aufbauprojekts“, und wir möchten noch einmal unseren Senf dazugeben.

 

1. Den drei Ausgangspunkten des neuesten Papiers dieser Reihe können wir vorbehaltlos zustimmen:

 

„Immer wieder ergeben sich in den Diskussionen der autonomen Linken drei grundsätzliche Proble­me: Erstens das Fehlen konkretisierter Ideen und linker gesellschaftlicher Alternativen. Zweitens die bewusste Nichtformulierung alltäglich und realistisch zu erreichender Ziele und drittens die fehlende Verankerung und Organisierung in Betrieb, Stadtteil, Schule, Uni etc.“

 

2. Bei der Schlußfolgerung aus den drei Ausgangspunkten sind wir allerdings schon etwas skeptischer:

 

„Wir brauchen einen Bruch mit der bisherigen linken Kultur der letzten Jahrzehnte, die getragen ist von Arroganz, Elitarismus und dem Hass auf ArbeiterInnen, wenn wir die Irrelevanz der radikalen Lin­ke überwinden wollen.“

 

Was ist mit „Arroganz, Elitarismus und dem Hass auf ArbeiterInnen“ genau gemeint? Uns scheint jedenfalls, daß „Elitarismus“ im Sinne von pauschaler und vor allem kulturell be­gründeter Abgrenzung von den „Normal@s“ in der autonomen Szene von Ende der 1980er Jahre deutlich ausgeprägter war als in dem, was heute aus ihr geworden bzw. von ihr übrig geblieben ist.

Gutes und Schlechtes scheint uns dabei zusammengekommen zu sein: Einsicht in die Nützlichkeit von offen auftretenden und bundesweit in Strömungsbündnissen1 (IL, UG, Perspektive Kommunismus, 3A) organisierten Gruppen und in die Notwendigkeit von Bündnissen mit ReformistInnen einerseits und die neoliberale Beseitigung von sozialstaat­lichen Nischen und Stadtteil-Umstrukturierungen andererseits, die die materielle Basis des subkulturellen Szene-Modells in Frage stellten. Eine alles andere als „elitäre“, aber nicht weniger problematische Begleiterscheinung vor allem bei der IL, aber auch Zusammen­hängen außerhalb der genannten vier bundesweiten Bündnisse ist die Rücknahme von eignen politischen Ansprüche, die Anpassung an BündnispartnerInnen und die Selbstre­duktion auf ‚lückenfüller‘ für funktionen, die kirchen, parteien, humanistische kräfte nicht mehr besetzen“. Insbesondere der Zerfall der Stadtguerillagruppen Rote Armee Fraktion, Revolutionäre Zellen und Rote Zora hat – ungeachtet dessen, was an deren militärischer, politischer und theoretischer Praxis im Einzelnen zu kritisieren sein mag – zu einem bis heute nicht wieder beseitigten Mangel an grundsätzlicher revolutionärer Orientierung ge­führt.2

 

3. Wir hatten bereits zu den Thesen der Basisgruppe Antifa (BA) angemerkt: „Bloß die ei­genen Lebensumstände zum Ausgangspunkt für Politik zu nehmen, scheint uns zu ‚kon­kretistisch’ zu sein. Gerade heute, wo die revolutionäre und radikale Linke so schwach ist, müsste die Priorität auf die programmatische (theoretische) Erarbeitung der sozialen Rea­lität und einer Strategie für einen Organisationsaufbau liegen, bevor man ‚vor Ort’ (Stadt­teil, Betriebsgruppen etc.) intervenieren könnte. Denn auch für Interventionen vor Ort be­darf es ja eines – auf Gesellschaftsanalyse sowie Hypothesen zu Relevanz und Wirksam­keit aufbauenden – Konzeptes/Plans.“

Wir konnten aber auch zustimmend aus dem Papier der BA zitieren: Soziale Kämpfe kön­nen „auch im Interesse der herrschenden Ordnung sein“ und, daß es deshalb wichtig ist, sie „bewusst zu führen.“

In dem jetzigen Papier des Autonomie Magazins scheint uns das Pendel nun noch mehr in Richtung eines blauäugigen Blicks auf soziale Kämpfe und Basisorganisierungen auszu­schlagen: „Zu unserem Glück fängt Basisorganisierung nicht in der eigenen politische Gruppe an, sondern im Alltag, dort wo wir arbeiten, wohnen, lernen und feiern. An all den Orten, an denen wir uns begegnen und uns gemeinsam arrangieren oder, besser gesagt, organisieren müssen. […]. Die Organisierung der Basis ist schon deshalb Hauptbestand­teil vernünftiger revolutionärer Politik, weil nur ein gesellschaftlicher Aufbau von Unten nach Oben (im Gegensatz zu Staats- und Klassenherrschaft) tatsächlich demokratisch und somit emanzipativ ist.“

Hier scheint uns dann doch allzu sehr übersehen zu werden, daß der bloße Umstand, daß eine Organisierung an der Basis stattfindet noch lange nicht garantiert, daß die Inhalte, um derentwillen die Organisierung stattfindet, auch emanzipatorisch sind.

 

4. Auch mit dem Ausdruck „tatsächlich demokratisch“ haben wir so unsere Probleme: Was unterscheidet „tatsächlich demokratisch“ von bloß „scheinbar“ oder „nicht ausreichend de­mokratisch“? Wenn „tatsächlich demokratisch“ nicht nur ein Leerformel sein soll, müsste diesbezüglich unseres Erachtens deutlich mehr begriffliche und theoretische Butter bei die Fische gegeben3 und reflektiert werden, daß Demokratie wörtlich „Volksherrschaft“ bedeu­tet, und der Kommunismus doch aber eine Gesellschaft ohne Herrschaft sein soll.

 

5. Auch der Ausdruck „Basis“ scheint uns in dem Papier etwas unterbestimmt zu sein: „Die Basis der Gesellschaft, das sind die Betriebe (Produktion von Gütern), die sozialen und medizinischen Einrichtungen (Bereitstellung von Dienstleistungen), Schulen und Unis (Er­ziehung und Bildung der Gesellschaft), Kulturstätten (Kulturelles Leben der Gesellschaft) und der öffentliche Raum. Zu diesen kommen die Orte der Pflege und Reproduktion hinzu, welche in der jetzigen Gesellschaft patriarchal bestimmt sind.“

Daran ist auf alle Fälle richtig, auch „die Orte der Pflege und Reproduktion“ zur „Basis“ (wir würden vorschlagen, präziser von „materieller Basis der Gesellschaft“ zu sprechen und diese bspw. von „politischer, personeller und soziologischer Basis“, die auch z.B. jede Par­lamentspartei hat, zu unterscheiden) zu zählen4; da Erziehung und Bildung der Reproduk­tion der Arbeitskraft dienen, mögen auch diese zur „Basis“ gezählt werden; des weiteren die Kulturindustrie und die kulturellen Apparate, insofern auch da einerseits Arbeit veraus­gabt und andererseits Arbeitskraft (durch Freizeit) reproduziert wird.

Inwiefern der „öffentliche Raum“ zur „Basis“ gehört, erschließt sich uns allerdings – jeden­falls ohne nähere Erläuterungen – nicht.

 

6. Weiter unten heißt es dann in dem Papier:

 

„Das Ziel von Basisorganisierung ist also Selbstermächtigung im kollektiven Maßstab. In der Konse­quenz ist ein solcher revolutionärer Aufbau stets der Aufbau von Gegenmacht, die dazu dient, die Wi­dersprüche zu Gunsten der einen oder anderen Seite im Kampf um die Gesellschaft aufzulösen. Ziel autonomer Politik muss es sein, solche Basisinitiativen und widerständigen Regungen zu schaffen oder zu unterstützen und mit antikapitalistischer, feministischer und antirassistischer Theorie zu un­terfüttern und sie auszubauen.“5

 

Dem letzten Satz in dem Zitat können wir auf alle Fälle zustimmen – auch wenn wir uns nicht als „Autonome“, sondern als „KommunistInnen“ verstehen und deshalb von „kommu­nistischen“ und/oder „revolutionären“ Gruppen und Organisationen sprechen würden.

Aber wie entscheidend die „antikapitalistische, feministische und antirassistische Theorie“ ist, scheint in den beiden im Zitat davor stehenden Sätzen wiederum etwas unterzugehen:

  • Ist das „Ziel von Basisorganisierung“ wirklich immer „Selbstermächtigung“?! Kann Basisorganisierung nicht auch der Fremdermächtigung dienen, z.B. der Ermächti­gung des Vorstandes einer bürokratisierten Partei? Auch CDU und SPD haben Kreisverbände und führen jedenfalls auf ihren untersten Organisationsebenen Mit­gliederversammlungen durch. „Basisorganisierung“ scheint uns – so ähnlich wie die „Basisdemokratie“ der frühen Grünen – eine terminologische Wundertüte zu sein, bei der unklar bleibt, durch welche Formen und Mechanismen die versprochenen Wunder zustande kommen sollen.

    Und selbst wenn z.B. das Wunder „Selbstermächtigung“ zustande kommt: Ist „Selbstermächtigung“ wirklich immer so eine tolle Sache, z.B. wenn eine Nazi-Cli­que selbstermächtigt eine Geflüchteten-Unterkunft angreift?

  • Etwas unklar ist uns auch die Formulierung: „ein solcher revolutionärer Aufbau [ist] stets der Aufbau von Gegenmacht“. Auch wenn wir zustimmen würden, daß eine er­folgreiche Revolution den vorherigen Aufbau von Gegenmacht voraussetzt, ist doch eine erfolgreiche Revolution gerade mehr als bloße Gegenmacht.

  • Und schon gar nicht sind wir überzeugt, daß Basisiorganisierung auch immer gleich schon „revolutionärer Aufbau“ bedeutet.

 

7. Im darauf folgenden Abschnitt des Papiers wird dann die oben schon zitierte Schlußfol­gerung aus den drei Ausgangspunkten des Autonomie Magazins genauer erläutert:

 

„Die gezielt aus dem akademischen Diskurs vorangetriebene Entwicklung des Klassenhasses auf die ArbeiterInnen und die damit einhergehende elitäre, arrogante Kultur eben jener, welche diese Diskur­se fördern, zersetzen und lähmen die gesamte Linke. Der linke ArbeiterInnenhass ist die Suche nach dem Schulterschluss mit dem liberalen Bürgertum und macht damit rechte Scheinalternativen attrak­tiver. Diesem Problem kann nur entgegengetreten werden, indem sich die radikale Linke selbst rei­nigt von bürgerlichen akademischen Ideen, welche Klassenhass und elitäres Denken fördern.“

 

Trotzdem würden wir es gerne noch etwas genauer wissen:

  • Was ist Eure Definition von „Bürgertum“? Was für Leute fallen Eures Erachtens al­les unter den Begriff?

  • Und genauso auch in Bezug auf „ArbeiterInnen“: Wie definiert ihr dieses Wort? Ei­nerseits: Arbeiten nicht auch die meisten KapitalistInnen – und die meisten von ih­nen sogar ziemlich viel? Oder meint ihr ausschließlich Fabrik- und/oder Handarbei­terInnen? Kommt es also auf den Unterschied zwischen Hand- und Kopfarbeit oder auf die soziale Stellung an? Warum sprecht Ihr nicht von „Lohnabhängigen“? Ist Lohnabhängigkeit nicht gerade das entscheidende Merkmal der beherrschten und ausgebeuteten Klasse in der kapitalistischen Produktionsweise6?

    Wo konnte je und wo kann zumal heute ganz ohne Kopf und nur mit der Hand gear­beitet werden? Und was ist eine Hand, die einen Füllfederhalter oder eine Compu­tertastatur bedient – ist das Hand- oder Kopfarbeit?

  • Und was meint Ihr mit „Klassenhass und elitäres Denken“?

 

8. Wissbegierig, wie wir sind, haben wir uns deshalb auf Eurer Homepage umgesehen und dort Euren Text „Über die Wahlen, den Rechtsruck und eine linksradikale Gegenstrategie“ gefunden. Dort schreibt Ihr:

  • Es wäre falsch anzunehmen, dass tatsächlich alle AfD WählerInnen beinharte RassistInn­en sind.“

  • Viele Menschen [...] merken [...], dass sie von sozialem Abstieg bedroht sind, weil sich die Schere zwischen Arm und Reich munter weiter öffnet. Und wer es nicht nach oben schafft, landet logischerweise unten.“

  • Die Wahlen in einer parlamentarischen Demokratie wie der BRD sind, was die Durchset­zung der Interessen der unteren Klassen betrifft, ziemlich unwichtig. Es geht nur darum, von wem wir regiert werden. Niemand fragt uns, ob wir überhaupt regiert werden wollen und wie das Ganze aussehen soll. […]. Es gibt da draußen verdammt viele, die absolut nichts von dieser Art Demokratie halten, weil sie immer wieder enttäuscht wurden. Die Mei­nung, dass Wählen an sich nichts ändert ist doch total verbreitet. Und so tun viele das ein­zige, was ihnen ihrer Meinung nach noch übrig bleibt, nämlich aus Protest die anderen [ge­meint ist anscheinend wiederum die AfD] wählen oder gar nicht mehr wählen.“

  • Wir müssen antikapitalistische Perspektiven erarbeiten und sie genau da, wo die Leute vom System enttäuscht werden, anbieten.“ Aber die „radikale Linke […] schafft es kaum, diejenigen zu erreichen, die vom System enttäuscht sind. Sie sorgte in den letzten Jahren sogar noch eher dafür, dass diese sich von der Linken abwenden.“

  • Anstatt dieses Potential zu erkennen und zu versuchen es zu nutzen machen viele Linke aber etwas anderes: Sie verurteilen diese Menschen größtenteils moralisch: Rassismus ist ganz böse, zuerst an sich denken ist ganz böse, Angst vor Fremden haben ist ganz böse.“

 

Wir müssen leider sagen: Wir haben eine ganz andere Analyse der AfD, der AfD-WählerIn­nen und der gesellschaftlichen Lage; und das, was Ihr als Anti-AfD-Strategie vorschlagt, hört sich für uns nach Martin Schulz und Sahra Wagenknecht auf linksradikal an:

  • Wagenknecht7 und Schulz8 bieten an: Law and order und wieder ein bißchen mehr Sozialstaat.

 

  • Ihr bietet: Kleinere „moralisch[e]“ Fehlhaltungen9, wie Rassismus und Sexismus – Schwamm drüber; kämpft mit uns gegen den Kapitalismus.

 

 

Wir würden unsere Analyse wie folgt zusammenfassen:

 

  • Bei den sechs letzten Landtagswahlen (Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Saarland) war das Thema „Flüchtlinge“ immer das Thema, das die meisten AfD-WählerInnen als für ihre Wahlentscheidung als wichtig nannten – und zwar zwischen 54 % in Mecklenburg-Vorpommern und 69 % in Baden-Württemberg. Diese Werte waren jeweils zwi­schen 30 Prozentpunkten (in Sachsen-Anhalt) und 46 Prozentpunkten (im Saar­land) höher als beim Durchschnitt aller WählerInnen.i Dabei ist zu berücksichtigen, daß die AfD-WählerInnen ja selbst in den Durchschnitt aller WählerInnen eingehen; der Unterschied also noch größer wäre, wenn die AfD-WählerInnen mit dem Durch­schnitt der WählerInnen der anderen Parteien verglichen würde (dazu liegen uns aber keine Zahlen vor).

 

  • Das Thema, bei dem sich bei den genannten Wahlen die zweitgrößten Unterschie­de zeigten, war das Thema „Innere Sicherheit“. Unter den AfD-WählerInnen war der Anteil derjenigen, die das Thema als wichtig für ihre Wahlentscheidung bezeich­neten, zwischen 9 Prozentpunkten (in Mecklenburg-Vorpommern) und 23 Prozent­punkten (in Berlin) höher als beim Durchschnitt der WählerInnen.ii

 

  • Wir geraten sicherlich nicht ins haltlose Spekulieren, wenn wir annehmen, daß sich diese AfD-WählerInnen von der AfD eine noch repressivere Politik in diesen Politik­bereichen erwarten. Ihr kritisiert zu Recht an manchen Linken: „Man nimmt die Leu­te schlichtweg nicht ernst.“10 Wenn die AfD-WählerInnen ernstzunehmen sind, dann sind sie doch wohl zuallererst mit dem, was sie selbst über ihre Wahlmotive sagen,11 und womit die AfD ihre Wahlkämpfe bestreitet, ernstzunehmen – anstatt den AfD-WählerInnen eine/n mit linken Vorstellungen kompatibele/n Antikapitalis­mus und ‚Systemkritik’ zu unterstellen.

 

  • Nun werdet Ihr Euch vielleicht – wie viele SozialreformistInnen auch – darauf beru­fen, daß dennoch in den meisten der genannten Bundesländer das Thema „sozia­le Gerechtigkeit“ das am zweithäufigsten – als wichtig für eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD bezeichnete – Thema war; und auch in Berlin und im Saarland war es immerhin noch das am dritthäufigsten genannte Thema.

    ++ Allerdings lagen diese Werte bei den AfD-WählerInnen in Berlin um 19,5 Pro­zentpunkte und im Saarland um 15 Prozentpunkte und in den anderen Bundeslän­dern um 4 bis 6 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt aller WählerInnen.12 Insbe­sondere von den Linkspartei- und SPD-WählerInnen und z.T. auch den WählerIn­nen der Grünen wurde das Thema „soziale Gerechtigkeit“ deutlich häufiger als wahlentscheidend benannt.

 

Tabelle 1: „soziale Gerechtigkeit“ war für x Prozent der WählerInnen folgender Parteien in fol­genden Bundesländern wichtig für die Wahlentscheidung

 

Linkspartei

SPD

Grüne

AfD

CDU

FDP

Mecklenburg-Vorpommerniii

75 %

60 %

60 %

48 %

35 %

42 %

Sachsen-Anhaltiv

67 %

54 %

45 %

42 %

37 %

32 %

Rheinland-Pfalzv

75 %

61 %

48 %

39 %

29 %

28 %

BaWüvi

79 %

61 %

47 %

37 %

28 %

24 %

Saarlandvii

78 %

66 %

38 %

34 %

32 %

23 %

Berlinviii

81 %

66 %

54 %

32 %

30 %

24 %

 

    ++ Hinzukommt noch, und unseres Erachtens wichtiger noch ist, daß „Gerechtig­keit“ ein äußerst vager Ausdruck ist; schon Marx bemängelte:

    „Behaupten die Bourgeois nicht, daß die heutige Verteilung ‚gerecht’ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige ‚gerechte’ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die verschiedensten Vorstellungen über ‚gerechte’ Verteilung?“ (MEW 19, 18)

    Der Ausdruck wird nur wenig präziser, wenn ihm noch das Adjektiv „sozial“ vorange­stellt wird; „sozialdemokratisch“ ist nicht „kommunistisch“13 und ein „Sozialstaat“ kei­ne „kommunistische Gesellschaft“. Zwar wird es schon kein Zufall sein, daß den CDU- und FDP-WählerInnen die „soziale Gerechtigkeit“ noch weniger wichtig war als den AfD-WählerInnen – aber während FDP- und CDU-WählerInnen einen mehr oder minder ‚reinen’ Kapitalismus wünschen, verlangen AfD-WählerInnen (zumeist sind es: Wähler) eine männliche und weiße Dividende.

    Was letztere als „ungerecht“ empfinden, ist nicht, daß – soweit sie Lohnabhängige sind – KapitalistInnen den Mehrwert ihrer Arbeit einstreichen, sondern es überhaupt Kapitalistinnen (mit kleinem „i“) gibt und daß Geflüchtete überhaupt ein paar Brosa­men vom Verteilungskuchen abgekommen.14

    Was die AfD-WählerInnen bemerken, ist nicht (oder jedenfalls weniger), daß „sie von sozialem Abstieg bedroht sind“, als vielmehr, daß die Klasse der Lohnabhängigen auch hier zunehmend multiethnisch wird und die „Arbeiteraristokratie“ (um nur der Geläufigkeit halber auf diese – unseres Erachtens ziemlich problematische – Meta­pher zurückzugreifen) nicht mehr rein weiß und rein männlich ist.

  • Ihr mögt außerdem argumentieren, daß in der Tat überproportional viel „Arbeiter“15 (im Unterschied zu „Angestellten“ etc.“) AfD wählen:

 

Tabelle 2: 2016/17 – Anteil der AfD an....ix

 

an allen WählerInnen

an den arbeitslosen WählerInnen

an den „Arbeiter[n]“

(im Unterschied zu „Angestellten“ etc.)

Sachsen-Anhalt

24,2 %

38 %

37 %

+ 52,9 %

Mecklenburg-Vorpommern

20,8 %

29 %

33 %

+ 58,7 %

Rheinland-Pfalz

12,6 %

27 %

24 %

+ 90,5 %

BaWü

15,1 %

32 %

30 %

+ 98,7 %

Berlin

14,2 %

22 %

28 %

+ 97,2 %

Saarland

6,2 %

7 %

9 %

+ 45,2 %

Anmerkung zur letzten Spalte:


Der Anteil der AfD-WählerInnen unter den „Arbeiter[n]“ lag um x % über dem AfD-Anteil an allen WählerInnen; berechnet nach der Formel: Wert in der vorletzten Spalte minus dem Wert in der zweiten Spalte mal 100 dividiert durch den Wert in der ersten Spalte.

Würden, da es sich in Spalte 3 und 4 augenscheinlich um gerundete Werte handelt, auch in Spalte 2 gerundete Zahlen verwendet, so würde sich in der letzten Spalte für zwei Bundesländer (MV und Rh.-Pf.) ein höherer und für vier Bundesländer ein niedrigerer Wert ergeben.

 

    Ein erster Punkt der GenossInnen mit emanzipatorischem Anspruch diesbezüglich nachdenklich machen sollte, ist, daß der AfD-Anteil unter den Wählern deutlich hö­her ist als unter den Wählerinnen. Es wäre also jedenfalls zu kurz gegriffen zu sagen, AfD-WählerInnen seien typischerweise WählerInnen in einer gesellschaftlich benachteiligten Position. Denn in Bezug auf das Geschlechterverhältnis trifft dies jedenfalls nicht zu.

    Hinzukommt: Jedenfalls unter dem Gesichtspunkten des schichten-spezifischen Wahlverhaltens haben sich die Unterschiede gegenüber den Wahlen vor dem Sommer 2015 ver­stärkt (bei den Arbeitslosen erzielte die AfD bei den früheren Wahlen zum Teil so­gar unterdurchschnittliche Ergebnisse).16

    Während der AfD-Anteil unter den „Arbeitern“ bei den Landtagswahlen 2016 + Saarland 2017 in drei von sechs Fällen um mehr als 90 % über dem AfD-Anteil an allen WählerInnen lag (Rheinland-Pfalz, BaWü, Berlin), trat ein solch hoher Unter­schied bei den Wahlen von 2013 bis 2015 gar nicht auf. Gleichzeitig gab es damals bei vier von acht Wahlen einen Unterschied von weniger als 45 % (s. Tabelle 5 in der .pdf-Version dieses Artikels); ein solch relativ geringer Unterschied trat bei den späteren Wahlen gar nicht mehr auf.

    Nun mögt Ihr sagen, die Unterschieds-Verstärkung sei der Effekt davon, daß der of­fen neoliberale Flügel um Lucke und Henkel aus der AfD herausgedrängt wurde. – Aber zeichnet den anderen Flügel und das öffentliche Erscheinungsbild der AfD seitdem vor allem aus, daß sie ‚sozialer’, gar antikapitalistischer sind als Lucke und Henkel?19 Ist das vermehrte AfD-Wählen durch Männer im allgemeinen und „Arbei­ter“ insbesondere also eine Belohnung für diese Neuausrichtung? Oder ist es das Resultat des radikalisierter Rassismus der AfD?

    Gegen erstere Annahme spricht allein schon, daß die AfD in den bundesweiten Um­fragen der ersten acht Monate des Jahre 2015 zunächst zunehmend schlechter und dann zunehmend stärker abschnitt:

 

Quelle: https://www.wahlumfragen.org/bundestagswahl/2015/afd_wahlumfragen_2015.php

    Nichts spricht dafür, daß dieser Anstieg an etwas anderem als der Positionierung der AfD zu den Geflüchteten liegt:

    ++ Dies zeigen die oben schon zitierten Umfragen, nach denen 54 % bis 69 % der AfD-WählerInnen gerade die Geflüchtetenpolitik als wichtig für ihre Wahlentschei­dung benennen.

    ++ Es läßt sich außerdem daraus erschließen, daß es im fraglichen Zeitraum dage­gen keine weiteren Sozialkürzungen, Arbeitsmarkteinbrüche, Erhöhungen der Mas­sensteuern oder massiv gescheiterte Lohnkämpfe gab – also nichts, was für einen Bedeutungsgewinn des Themas „‚soziale Gerechtigkeit’ / Antikapitalismus“ und ei­ner daraus resultierenden Änderung des Wahlverhaltens spricht.

    ++ Gegen die Annahme, daß etwas anderes als die Positionierung zu den Geflüch­teten ausschlaggebend sei, spricht schließlich, daß bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg und Bremen 2014 das Thema „Ausländer/Zuwanderung“ bzw. „Flüchtlin­ge/Zuwanderung“ (wie es damals genannt wurde) zwar auch schon am häufigsten als für eine Wahlentscheidung zugunsten der AfD „wichtig“ genannt wurde, aber da­mals weniger häufig, als bei späteren Wahlen; auch das Thema „soziale Gerechtig­keit“ war den AfD-WählerInnen damals weniger wichtig. Wir könnten also schlußfolgern, daß für AfD-WählerInnen gerade der Zuzug von Geflüchteten eine „Gerechtigkeits“-Ver­letzung darstellt und dies die hohen AfD-Umfrage- und Wahlergebnisse seit Ende August 2016 erklärt.

 

Tabelle 4: Das jeweils genannte Thema war für x Prozent der WählerInnen der jeweils genannten Parteien wichtig für die Wahlentscheidung

 

AfD HH

SPD HH

FDP HH

alle HHxiv

AfD HB

FDP HB

alle HB

Ausländer / Zuwanderung

33 %

k.A.

k.A.

16 %

54 %

k.A.

14 %

Bildung

26 %

28 %

32 %

26 %

21 %

43 %

34 %

Verkehr / Infrastruktur

21 %

18 %

23 %

18 %

k.A.

k.A.

k.A.

Wirtschaft

k.A.

21 %

37 %

20 %

21 %

41 %

22 %

soziale Ge­rechtigkeit

k.A.

13 %

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

20 %

Wohnen / Mieten

k.A.

15 %

k.A

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

Hafen

k.A.

k.A.

15 %

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

Haushalt / Verschuldung

k.A.

k.A.

k.A.

k.A.

22 %

k.A.

k.A.

Anmerkung:

Zu den anderen Parteien und den noch früheren Wahlen konnten wir keine diesbzgl. Zahlen finden. Wir vermuten, daß „k.A.“ (keine Angabe) Werte betrifft, die jedenfalls unterhalb des für die jeweilige Partei niedrigsten, genannten Wertes liegen.

 

    Bleiben die Fragen: Warum haben gerade „Arbeiter“ und Arbeitslose auf die Zuwan­derung von Geflüchteten im Sommer/Herbst 2015 mit Rassismus und einer Wahl­entscheidung zugunsten der AfD reagiert? Und wie ließe sich das ändern? – Wir haben auf diese beiden Fragen auch keine Antwort, aber uns scheint, daß die Ant­wort auf die zweite Frage jedenfalls nicht darin liegt, ihnen eins vom Pferd „Antikapi­talismus“ zu erzählen.

  • Nun mag es des weiteren so sein (und auch uns scheint es so, daß es so ist), daß AfD-WählerInnen auf ‚das System’ schimpfen; aber wir hoffen doch zumindest, daß Linksradikale, die ebenfalls auf ‚das System’ schimpfen eine sowohl komplexere als auch präzisere Vorstellung von dem, was sie als ‚das System’ bezeichnen, haben als AfD-WählerInnen.

    Auch wenn auch einige AfD-WählerInnen nicht (nur) von „sozialer Gerechtigkeit“, sondern (auch) von Antikapitalismus sprechen mögen, so scheint uns nichts darauf hinzudeuten, daß sie mit „Kapitalismus“ auch nur annäherungsweise das meinen, was Karl Marx als „kapitalistische Produktionsweise“ bezeichnete. Und wenn es an­ders wäre, wäre es erstaunlich, warum sie die AfD wählen, anstatt sich einer der zahllosen linken Gruppen und Mini-Organisationen anzuschließen.

    ++ Sagt nicht gegen unsere These: „weil sie mini sind“ – denn die AfD hat ja auch mal klein angefangen.

    ++ Und sagt auch nicht gegen unsere These: wegen des „linke[n] ArbeiterInnen­hass[es]“ – denn außer der Szene-Linken gibt es auch noch eine ganze Reihe von stalinistischen, maoistischen und trotzkistischen Gruppen, die noch dem Proletkult (Workerismus; Ouvrierismus) – also dem Kult der „schwieligen Faust“ (vgl. LW 5, 478) – frönen und mit ‚Gender-Gedöns’ genauso wenig am Hut haben wie AfD-WählerInnen und Gerhard Schröder20.

 

  • Schließlich sind wir uns nicht einmal sicher, daß viele AfD-WählerInnen (wenn auch aus falschen Gründen und mit falschen Alternativen) die parlamentarische Demo­kratie ablehnen; jedenfalls die AfD selbst sagt es nicht (offen). Eher wahrscheinlich erscheint uns, daß sie eine parlamentarische Demokratie21 mit „formierter Gesell­schaft“ à la Ludwig Erhard bevorzugen. Es geht ihnen nicht um Antikapitalismus, sondern um 68er-Kritik; es geht ihnen auch um Neoliberalismus-Kritik, aber nur in­soweit, als der Neoliberalismus manchen 68er-Anliegen, denen noch Helmut Schmidt und Helmut Kohl im Wege standen, (insoweit erfreulicherweise) nicht mehr im Wege steht. Sie vermissen nicht einmal den Herz-Jesu-Sozialisten Norbert Blüm (schon gar nicht revolutionäre MarxistInnen oder Autonome), sondern Franz-Josef Strauß, Alfred Dregger und Heinrich Lummer.

 

  • Summa summarum: Uns scheint, bevor es gelingen könnte, AfD-WählerInnen mit einer vor die Nase gehaltenen Wurst „Antikapitalismus“ für linke Positionen zu ge­winnen, bedürfte es einer linken Strategie dafür, Menschen mit konkurrent-autoritär­er Einstellung für emanzipatorisch-solidarische Alternativen zu gewinnen.

 

 

Zum Weiterlesen:

 

Identitätspolitik“ vs „soziale Frage“?

https://systemcrash.wordpress.com/2017/02/04/identitaetspolitik-vs-soziale-frage/

 

Hinweis:

Die (hier mit römischen Ziffern gekennzeichneten) Endnoten befinden sich als Endnoten a - t ausschließlich (auf S. 16) in der .pdf-Version dieses Artikels; dort sind auch die Tabellen 3 sowie 5 - 7 zu finden.

 

 

1 Insofern in die ganz falsche Richtung zu führen, scheint unseres Erachtens der noch neuere Text von rascal: „Die politischen Gruppen sind nicht die Lösung, sie sind das Problem! Ein Plädoyer gegen politische Gruppen und für eine Organisierung und Politik mit Bezug zu Alltag, Betroffenheit und Bedürfnissen“; https://linksunten.indymedia.org/de/node/208524.

Ökonomismus (im weiten [und erst recht im engen] Sinne) ist unseres Erachtens jedenfalls keine revolutionäre Alternative zum Kulturalismus der Szene-Linke. (Unter „Ökonomismus“ verstehen wir an dieser Stelle jede Unterschätzung der Bedeutung des Politischen – sei es, daß sich tatsächlich auf Kämpfe um Lohnerhöhungen und höhere Sozialleistungen beschränkt wird; sei es, daß die eigenständige Bedeutung der Frage der politischen Macht gegenüber dem spontanen Selbstlauf der Kämpfe vernach­lässigt wird.)

Vielmehr bedarf es auch für den Bezug auf soziale Kämpfe eines politischen Planes:

  • Da es für politische AktivistInnen wohl nicht darum gehen kann, einfach nur abzuwarten, bis andere anfangen zu kämpfen und dann mitzumachen, sondern darum gehen sollte, selbst initiativ werden, müßte die erste Frage wohl die Frage nach der Gesellschaftsanalyse und konkreter und aktueller nach der Analyse der gegenwärtigen Lage sein. An welchen Punkten besteht aktuell Aussicht, objektive Widersprüche zu subjektiven Kämpfen zuzuspitzen? Was sind sinnvolle (und das heißt: sowohl durchsetzbare als auch weitergehende Perspektiven eröffnende) Kampfziele? Was soll durchgesetzt / was abgewehrt werden? Welchen Aktionsformen sind dafür geeigneter und welche weniger oder gar nicht geeignet?

  • Außerdem: Wenn von „Organisierung“ die Rede ist, kann es unseres Erachtens auch nicht darum gehen, alle, die ‚ir­gendetwas mit Basis machen’, bzw. alle Leute, die irgendwo für irgendetwas kämpfen zu sammeln – also, daß im Zweifel alle Beteiligten an der Organisierung / alle Mitglieder der Organisation die vorgenannten Fragen unterschied­lich beantworten. Das, was eine Organisation/Organisierung von einer Diskussionsrunde unterscheidet, ist, daß es nicht nur ein gemeinsames Thema, sondern auch gemeinsame Antworten gibt. Es bedarf also einer gemeinsamen Gesellschaftsanalyse (Was sind die strukturellen gesellschaftlichen Widersprüche? Was aktuelle Konfliktlinien? Wie ist das Kräfteverhältnisse? etc.), einer gemeinsamen Strategie (Wie läßt sich das Kräfteverhältnis zugunsten welcher Kräfte verändern?) und gemeinsamer Ziele (Für was soll eigentlich gekämpft werden?).

 

2 Etwas genauer gesagt:

Egal,

  • wie unmarxistisch – da teils spontaneistisch (Erklärung zur Befreiung von Andreas Baader), teils klassenindifferent-antiimperialistisch (alles ab der Erklärung zur Aktion des Schwarzen September)] – die Texte der RAF waren;

egal,

  • wie falsch, da personalisierend, es überhaupt war, einzelne Funktionäre von Staat und Kapital umzulegen;

egal,

  • was an der sozialrevolutionären Tendenz der Revolutionären Zellen zu operaistisch

  • und an deren internationalistischer Tendenz auch (wie im Falle der RAF) zu klassenindifferent-antiimperialistisch und an deren Aktionen falsch war

und egal,

  • welche kritischen Fußnoten zu den Texten der Roten Zora zu machen wären:

solange diese Gruppen noch alive waren, war in der Szene-Linken zumindest noch klar, daß es um mehr als Hausprojekte, De­mos sowie gelegentliche Entglasungen und Brandsätze gehen sollte, sondern daß es einer langfristigen Strategie bedarf, die auf so etwas wie die „Machtfrage“ (und sei es auch nur gradualistisch entschärft) zielt.

 

4 „Nach der materialistischen Auffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment der Geschichte: die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. Diese ist selbst wieder doppelter Art. Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andererseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung“ (MEW 21, 27 f.) Vgl. Lenins ironische Frage zu N.K. Michailowskis Nahelegung, die Kindererzeugung sei nicht Bestandteil der materiellen Basis (LW 1, 141 f.): „Wie denn, glaubt Herr Michailowski am Ende, die Verhältnisse bei der Kindererzeugung gehörten zu den ideologischen?“ (ebd., 143).

Leider haben die MarxistInnen, Engels und Lenin eingeschlossen, bisher in den seltensten Fällen die notwendigen Konsequen­zen aus diesen Einsichten gezogen.

 

5 Nur im Rande sei angemerkt, daß uns etwas flau im Magen wird, wenn wir von „zersetzen“ als negativem und „reinigen“ als positivem Begriff lesen.

 

6 Vgl. dazu unseren Text: Den Klassen-Begriff diskutieren!; https://linksunten.indymedia.org/en/node/163936.


7 „Wir haben in bestimmten Stadtvierteln längst Parallelwelten, aus denen sich der Staat mehr und mehr zurückgezogen hat und wo jetzt radikale Islamisten versuchen, die Freiräume zu besetzen. Diese Entwicklung verunsichert die Menschen. […]. Den Abbau von Polizeistellen haben wir schon immer kritisiert. Wir sind nicht die Partei des schwachen Staates, sondern wollen einen Staat, der so gut ausgestattet ist, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Dazu gehört die Gewährleistung der Sicherheit seiner Bürger, übrigens auch der sozialen Sicherheit.“ (http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sahra-wagenknecht-die-linke-ist-nicht-die-partei-des-schwachen-staates-14451342.html)

 

8 „Mir ist wichtig, dass die hart arbeitenden Menschen, die sich an die Regeln halten, die sich um ihre Kinder und oft auch um ihre Eltern kümmern, die manchmal trotz zweier Einkommen nur geradeso über die Runden kommen, dass wir diese Menschen in den Mittelpunkt unserer Politik stellen. […]. Wer in Deutschland straffällig wird und sich nicht an die Regeln hält, der wird die volle Härte deutscher Gesetze und der Sicherheitsbehörden spüren. Für eine solche Null-Toleranz Politik mit Augenmaß ste­hen die SPD-Innenminister in den Ländern genauso wie unsere Sicherheitspolitiker im Bund.“ (https://www.spd.de/fileadmin/Do­kumente/Reden/20170129_Rede_Schulz.pdf, S. 5, 11 – unsere Hv.)

 

9 Dabei seid Ihr es, die Rassismus und Sexismus zu einem moralischen Problem erklären. Vielmehr handelt es sich aber auch dabei um „Kämpfe um [...] Stellung[en] und Handlungsoptionen“ (BA-These 1) – in dem Falle: um Kämpfe von Weißen gegen Schwarze; von Männern gegen Frauen (vgl. ebd., These 5: „Die alltäglichen Auseinandersetzungen können aber auch reaktio­näre Deutungen und ‚Lösungsansätze’ fördern. Auch diese stellen eine Variante von sozialen Kämpfen dar.“).


10 „Da wird sich dann über den Mangel an Rechtschreibfähigkeiten oder Ausdrucksvermögen Rechter in den ‚sozialen’ Netz­werken lustig gemacht, anstatt die Aussagen richtig zu kritisieren. Da wird sich über die BewohnerInnen von Plattenbausiedlun­gen lustig gemacht, die pauschal als Rechte verschmäht werden (‚Nazistau im Plattenbau’). Man nimmt die Leute schlichtweg nicht ernst.“

 

11 Darüber hinaus lassen auch die AfD-WählerInnen, die nicht das Thema „Flüchtlinge“ als wichtig für ihre Wahlentscheidung zugunsten der AfD nennen, an ihrer diesbzgl. Einstellung keinen Zweifel – jeweils über 89 % aller AfD-WählerInnen gaben bei den genannten sechs Landtagswahlen an, sich „wegen des Flüchtlingszuzugs“ davor zu sorgen, „dass der Einfluss des Islam zu stark“ und „die Kriminaliät in Deutschland ansteigen wird“:

Die Schlußfolgerung, die sie daraus ziehen, ist auch eindeutig – und zwar mit noch größeren Mehrheiten (zu BaWü konnten wir allerdings keine Angabe finden): Sie finden gut, daß die AfD „den Zuzug von Ausländern und Flüchtlingen stärker begrenzen will“:

13 „Man wird bemerken, daß [...] ich mich durchweg nicht einen Sozialdemokraten nenne, sondern einen Kommunisten. Dies, weil damals in verschiednen Ländern Leute sich Sozialdemokraten nannten, die keineswegs die Übernahme sämtlicher Produk­tionsmittel durch die Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben hatten. […]. Für Marx und mich war es daher rein unmöglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts einen Ausdruck von solcher Dehnbarkeit zu wählen. [… Denn er] bleibt für eine Partei [unpassend], deren ökonomisches Programm nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch, und deren politisches letztes Endziel die Überwindung des ganzen Staates, also auch der Demokratie ist.“ (MEW 22, 417 , 418)

 

14 Dazu passt, daß bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin und der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern 99 bzw. 97 % der AfD-WählerInnen angaben, sich „wegen des Flüchtlingszuzugs“ davor zu sorgen, daß die „Sozialausgaben […] zu stark stei­gen werden“ (http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2016-09-18-LT-DE-BE/charts/umfrage-afd/chart_8991257.shtml und http://wahl.tagesschau.de/wahlen/2016-09-04-LT-DE-MV/charts/umfrage-afd/chart_8951832.shtml; für die anderen Wahlen konnten wir zu diesem Punkt keine Angaben finden).


15 „Arbeiter“ ist das generische Maskulinum von infratest-dimap und schließt Frauen mit ein. Wir setzten den Ausdruck wegen unserer oben dargestellten Bedenken in Anführungszeichen.

 

16 Nicht auszuschließen ist, daß es sich insoweit um regionale Unterschiede und nicht um Unterschiede im zeitlichen Verlauf handelt (was unseres Erachtens aber eher unwahrscheinlich ist).

 

17 2014/15 lag bei drei von sechs Wahlen der AfD-Anteil an den Wählern um mehr als 28 % über dem AfD-Anteil an allen WählerInnen; in drei Fällen betrug der Unterschied 23 oder weniger Prozent.

Für 2015/16 liegen bisher für vier Wahlen Zahlen der Repräsentativen Wahlstatistik vor. Daraus ergibt sich für zwei Wahlen ein Unterschied von mehr als 25 % und für zwei Wahlen ein Unterschied von weniger als 24 % (s. Tabelle 6 in der .pdf-Version dieses Artikels).

Für Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland liegen insoweit noch keine Zahlen vor; verwenden wir statt dessen für diese beiden Länder die Umfragedaten von infratest-dimap kommen, Unterschiede von 29 % (Saarland) und 20,2 % (MV) hinzu.

18 Die folgende Auflistung ist wie folgt zu lesen: Bei der Bundestagswahl 2013 war in Berlin der AfD-Anteil an den Wählern 1,59-mal so groß, wie an den Wählerinnen (mit kleinem „i“); bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 war er dann 1,71-mal so groß (also eine Erhöhung um 0,12) usw.:

  • Berlin – Bund (S. 44): 6,2 (AfD-Anteil an den Wählern) : 3,9 (AfD-Anteil an der WählerInnen) = 1,59;

19 Das Thema „Wirtschaft / Arbeit“ ist für AfD-WählerInnen jedenfalls kein herausragendes Motiv, diese Partei zu wählen (siehe Tabelle 7 in der .pdf-Version dieses Artikels).

Eine kühne These wäre, zu sagen: Dies liege daran, daß den AfD-WählerInnen ihre Partei nicht antikapitalistisch genug sei. Weit aus realistischer erscheint allerdings: Für AfD-WählerInnen macht sich „soziale Gerechtigkeit“ nicht (oder jedenfalls kaum) am Thema „Wirtschaft / Arbeit“ fest, sondern „gerecht“ geht es deren Erachtens dann zu, wenn Weiße besser dran sind als Schwarze und Männer besser dran als Frauen.

 

20 „Christine Bergmann startete für die SPD als ‚Fachfrau für Familie und das ganze Gedöns’ 1998 ins Amt. Mit diesem Satz bewarb Gerhard Schröder im Wahlkampf ihre Qualitäten als Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.“ (https://ww­w.tagesschau.de/multimedia/bilder/bundesfrauenministerium-101.html [unsere Hv.] – Bild 5; vgl.: http://www.sueddeutsche.de/politik/schroeders-sprueche-familie-und-das-ganze-gedoens-1.2658859-2 und: „Christine Berg­mann im Wahlkampf 1989 [recte: 1998] [von Gerhard Schröder] als ‚Fachfrau für Familie und das ganze Gedöns’ präsentiert“ [http://www.deutschlandfunk.de/von-gedoens-bis-gender.724.de.html?dram:article_id=97816]).

 

21 Darauf deutet jedenfalls hin, daß

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man könnte fast zu dem Schluss kommen, die vom Autonomie Magazin sind harte Ottos und keiner weiteren Betrachtung wert...?

Hey, TaP (mit Assistenz von systemcrash)! Beim Durchlesen eures Artikels stieß ich auf etliche Punkte, die ich problematisch finde. Leider so viele, dass ich nicht darauf antworten könnte, ohne mir dafür eine Woche Urlaub zu nehmen. (Das ist nicht polemisch gemeint. Ihr macht da einfach sehr viel auf) Auf das von euch Kritisierte einzugehen würde mich eine weitere Urlaubswoche kosten. Daher, recht pauschal: Bei den von euch kritisierten Artikeln ignoriert ihr teilweise den offensichtlichen Kontext. Dass etwa mit "Selbstermächtigung" emanzipatorische Selbstermächtigung gemeint ist, geht aus dem Artikel des Autonomie-Magazins klar hervor. Dass jedwede Basisorganisierung positiv zu bewerten sei steht dort auch  nirgends. Den, im übrigen "Streitet Euch!", übertitelten Beitrag kann ich gar nicht mit "AfD-Wählerschaft-entschuldigen oder als nur fehlgeleitetes Proletariat deuten" interpretieren. Doch aber mit einem: "Es lohnt sich oft mit Leuten zu reden auch dann, wenn die ein Patchwork-Bewußtsein haben und an manchen Punkten Scheiße labern." Zu einer adäquaten Replik fehlt mir, wie gesagt, der Urlaub, Die ganze Diskussion begrüße ich SEHR!

 

Du schreibst:

 

„Bei den von euch kritisierten Artikeln ignoriert ihr teilweise den offensichtlichen Kontext. Dass etwa mit ‚Selbstermächtigung’ emanzipatorische Selbstermächtigung gemeint ist, geht aus dem Artikel des Autonomie-Magazins klar hervor.“

 

Ja, daß emanzipatorische Selbstermächtigung gemeint ist, haben wir schon verstanden. Aber gut gemeint ist nicht immer gut ausdrückt – oder anders gesagt:

 

1. Wenn etwas gesagt wird, daß in Bezug auf emanzipatorische Selbstermächtigung / Basisorganisierung / soziale Kämpfe zutreffend ist, dann heißt das nicht, daß es in Bezug auf jede Selbstermächtigung und jede Basisorganisierung und alle sozialen Kämpfen zutreffend ist.

 

2. Unseres Erachtens gibt es diesbezüglich keinen automatischen (vollständigen) und nicht einmal einen tendenziellen Zusammenhang. Marx und Engels sagten im Kommunistischen Manifest alle bisherige Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen; wir würden allgemeiner sagen: von gesellschaftlichen und politischen Kämpfen – und dabei ist es nicht so, daß die Dynamik (Offensive) allein bei der ‚unteren’ oder ‚progressiven’ oder emanzipatorischen Seite und die Statik (Defensive) allein bei der ‚oberen’, konservativen oder reaktionären Seite liegt. Vielmehr haben wir es mit einem beständigen Wechselspiel von Offensive und Gegenoffensive sowie einem Wechsel von Offensive und Defensive zu tun; und die Offensive liegt dabei jedenfalls zunächst einmal bei den gesellschaftlichen und politischen Kräften, die ein neues (Herrschafts- und Ausbeutungs)Regime durchsetzen.

 

3. Wir haben (und zwar wegen solch generell-optimistischer Postulate wie, „Das Ziel von Basisorganisierung ist also Selbstermächtigung im kollektiven Maßstab.“) den Eindruck, daß in der aktuellen Debatte über soziale Kämpfe eine – in den verschiedenen Texten unterschiedlich stark ausgeprägte – Tendenz gibt, zu sehr auf die Eigendynamik der Kämpfe zu setzen, etwas das LeninistInnen als linksradikalen Spontaneismus kritisieren. Vielleicht hätten wir deshalb den Inhalt unserer Fußnote 1 etwas prominenter als bloß als Fußnote platzieren sollen; ergänzend sei noch auf eine Fußnote zu einem unserer anderen Texte verwiesen: https://linksunten.indymedia.org/de/node/167271#sdfootnote2sym.

 

4. Wir teilen die Kritik an Event- und Kampagnenpolitik als Freizeitpolitik und begrüßen deshalb, daß in der aktuellen Debatte Kämpfe in Erwerbs- und Nichterwerbsarbeit in den Vordergrund gerückt werden, aber auch für diese Kämpfe bedarf es unseres Erachtens politischer Orientierung und politischer Gruppen, die sie erarbeiten (vgl. dazu schon insb. die Anmerkungen ZWEI, SIEBEN, ZEHN und ELF unseres Textes vom 25.03. zu den Thesen der Basisgruppe Antifa). Das ist – kurz zusammengefaßt – vielleicht die Hauptbotschaft unserer beiden Texte.

 

Außerdem schreibst Du:

 

„Den, im übrigen ‚Streitet Euch!’, übertitelten Beitrag kann ich gar nicht mit ‚AfD-Wählerschaft-entschuldigen oder als nur fehlgeleitetes Proletariat deuten’ interpretieren.“

 

Tja, wir haben ja nun mehrere Zitate angeführt, die uns genau diese Interpretation naheliegend erscheinen ließen. Du führst leider kein Zitat an, das die gegenteilige Lesart stützt. Dies macht es leider etwas schwierig, diesen Punkt genauer zu klären.

...aber keine Antwort auf die nahliegende Frage gefunden, warum nämlich gerade Arbeiter und Arbeitslose nach der Flüchtlingswelle von 2015 mit einer Wahlentscheidung zugunsten der AFD reagiert hätten? Echt jetzt?

Kleine Anmerkung am Rande: Laut IW-Studie sind AFD Wähler trotzdem überdurchschnittlich vermögend und gebildet (damit ist der Schulabschluss gemeint)

 

Dieser Text unterstreicht nochmal die Richtigkeit der diesbezüglich getroffenen Aussagen des Autonomen Magazins, auch wenn ich nicht deren Meinung teile, das sich die Linke von "akademischen Ideen" lösen sollte, diese aber sehr wohl mit den praktischen Alltagserfahrungen von Menschen in ihrem Lebensumfeld abzugleichen hat.

 

Also mal ganz kurz zur Praxis: Hier in Hamburg gab es einen riesigen Bonzenaufstand weil eine Flüchtlingsunterkunft im Millionärsviertel Harvestehude mit 190 Personen geplant war. Das selbe im ebenso stinkreichen Blankenese, dort gibt es bis heute nichts(irgendwas mit Umweltschutz und Käfern oder so)

Die bekommen jetzt aber wohl auch noch ein Flüchtlingsheim mit 192 Personen, Wahnsinn!

Im armen Industriestadtteil Billbrook, (Migrationsanteil bei 74,4 Prozent)sind es dann halt 1360 Flüchtlinge die dort untergebracht wurden, bei gerademal 2176 Einwohnern.

Im Vergleich dazu; Blankenese hat 13.325 Einwohner, Harvestehude;17.497 Einwohner. Was fällt auf, da ihr anscheinend gerne Statisitken interpertiert? Mehr als jeder zweite Billbrooker ist nun also ein Flüchtling, im Verhältnis zu .....? Na, klingelts?

 

Dann werfen wir doch noch ein Blick auf das Wahlverhalten der einzelnen Stadteilbewohner_innen. Ich gehe jetzt übrigens von der Intention der Wähler aus und nicht von der tatsächlichen Realpolitik der Parteien.

 

Ja, in Billbrook gab es mit 13,3 Prozent die meisten AFD Wähler_innen. Zählt man aber die SPD, Linke, Piraten, Grüne als Linksliberale oder zumindest nicht-rechte Parteien zusammen(und wie gesagt, hier geht es um die unterstellte Intention des Wählers) dann haben in Billbrook 68.4 Prozent nicht rechts bis linksliberal gewählt,der Rest entfällt abzüglich "Sonstige" auf CDU und FDP mit 28.7 Prozent. Also haben 28.7 Prozent haben in Billbrook konservativ, rechtsliberal bis rechtsradikal gewählt, 68.4 Prozent Sozialdemoktratisch, Linksliberal oder Links.

 

Okay, in Blankenese haben "nur" 5.5 Prozent AFD gewählt. 51.9 Prozent gingen also an SPD, Grüne und Linke. An CDU, FDP und AFD gingen dort 45.5 Prozent der Stimmen. Aber wer braucht in Blankenese schon die AFD, wenn der Migrationsanteil nur bei 16.2 Prozent liegt und die FDP als Klientelpartei zur Besitzstandwahrung sagenhafte 19.6 Prozent der Stimmen erhält und findige Anwälte die Stadt wegen Flüchtlingsheimen verklagen?

 

Wenn nun ein Arbeiter die SPD oder die Linken und ein Vermögender Blankeneser_in die FDP oder CDU wählt; logisch erscheint beides aus der Sicht der jeweiligen Person(und innerhalb dieses Wirtschaft- und Wahlsystrems gedacht)

Warum aber wählen nun also Arbeiter_innen und Arbeitlose die neoliberale AFD , ausser irrationalem, vulgären Rassismus, wo sich doch angeblich dieses Wahlverhalten gegen ihr ökonomisches Eigeninteresse richtet?

Oder wird auch hier wie so oft, die Arbeiterklasse einfach nur massiv unterschätzt? Ich möchte übrigens nicht bestreiten, das es den rassistischen Ideologen noch gibt, ich bestreite nur das dieser häufiger in den unteren Schichten anzutreffen ist.

 

Ist für den einfachen, desilusionierten und utopielosen Arbeiter_in, Geringverdiener_in oder Erwerbslose wirklich so irrational die AFD zu wählen, oder drückt sich die Linke nicht eher um eine unbequeme Wahheit?

 

Wenn nämlich vor der Moral das Fressen kommt, oder meinetwegen auch die Sicherheit und die Menschen der unteren Gesellschaftschichten in Zukunft noch  mit geflüchteten, vom Krieg traumatisierten, armen Menschen um Wohnraum und Arbeit in ihrem Stadtteil konkurrieren müssen; ist es da wirklich irrational gedacht, ein paar Abstriche im sozialen Bereich zu machen?(wenn das überhaupt wirklich so wäre?)

 

Die A-moralische aber auch nicht unlogischere Rechnung von Bauarbeiter Stefan geht in etwa so:"Es gibt nur eine begrenzte Menge an Arbeit, Ali und Harkan sind meine Konkurrenten,werden die abgeschoben, habe ich weniger Konkurrenz und kann deshalb mehr fordern und mir aussuchen wo ich arbeite, der Lohn wird weniger gedrückt weil wir Deutsche mehr Gehalt gewöhnt sind, selbst wenn der Lohn gleich bleibt weil weniger gebaut wird, kostet die Mietohnung weniger, weil weniger Menschen hier leben. Die Sozialausgaben sinken, also kann ich irgendwann auch wieder mehr fordern, wenn die Ausländer und die Flüchtlinge weg sind, aber erstmal wähle ich AFD das die weg kommen....usw"

 

^^Nun könnte man natürlich eine volkswirtschaftliche Prognose in die eine oder andere Richtung wagen, tatsächlich ist es halt so, das die momentan sinkenden Immobilienpreise in London nach dem Brexit, die Wirtschaft angeblich voll "schocken", dem Geringverdiener aber eher nutzen, dafür steigen die Lebensmittelpreise usw. + und - und eben nicht so einfach wie viele Experten immer behaupten.

 

Also warum bloss wäre es auch für die Antirassistische Sache hilfreich, wenn Bauarbeiter Stefan nun etwas Kapitalismuskritik verinnerlichen und gewisse Zusammenhänge verstehen würde?

Warum macht es Sinn auf zb. die Verteilung von Flüchtlingsheimen in Städten hinzuweisen?

 

Leider kommen wir erst jetzt zum gemeinsam Antworten.

 

 

1.

 

"Laut IW-Studie sind AFD Wähler trotzdem überdurchschnittlich vermögend und gebildet (damit ist der Schulabschluss gemeint)"

 

 

Ja, auf diese Studie waren wir bei den Recherchen für unseren Text auch gestoßen.


Die Studie bezieht sich aber auf das Jahr 2014, als sich die AfD noch in erster Linie europapolitisch im Sinne einer kleinkapitalistisch, binnenmarkt-orientierten Strategie (anti-südeuropäischer Chauvinismus eingeschlossen) positionierte und die Geflüchteten des Jahres 2015 noch nicht angekommen und im Zentrum der öffentlichen Debatte standen.

 

Es kann also sein, daß sich die Zusammensetzung der AfD-WählerInnenschaft insoweit geändert hat - und AfD-WählerInnen heute nicht mehr überdurchschnittlich vermögend und ausgebildet sind.

 

Vgl. https://www.iwkoeln.de/studien/iw-kurzberichte/beitrag/monika-koeppl-turyna-mara-grunewald-gruende-fuer-die-wahl-zugunsten-rechtspopulistischer-parteien-323321:


"Die Daten aus dem Jahr 2014 zeigen für Deutschland, [...]. Die Wahrnehmung einer Partei hängt auch von den Parteivorsitzenden ab. Im Jahr 2015 übernahmen Frauke Petry und Jörg Meuthen den Parteivorsitz der AfD. Dadurch könnte sich das öffentliche Bild und die Gründe für die Wahl der AfD verändert haben."

 

 

2.

 

"Hier in Hamburg gab es einen riesigen Bonzenaufstand weil eine Flüchtlingsunterkunft im Millionärsviertel Harvestehude mit 190 Personen geplant war. Das selbe im ebenso stinkreichen Blankenese, dort gibt es bis heute nichts(irgendwas mit Umweltschutz und Käfern oder so)
Die bekommen jetzt aber wohl auch noch ein Flüchtlingsheim mit 192 Personen, Wahnsinn!
Im armen Industriestadtteil Billbrook, (Migrationsanteil bei 74,4 Prozent)sind es dann halt 1360 Flüchtlinge die dort untergebracht wurden, bei gerademal 2176 Einwohnern.
Im Vergleich dazu; Blankenese hat 13.325 Einwohner, Harvestehude;17.497 Einwohner. Was fällt auf, da ihr anscheinend gerne Statisitken interpertiert? Mehr als jeder zweite Billbrooker ist nun also ein Flüchtling, im Verhältnis zu .....? Na, klingelts?"

 

 

Ja, die Statistik verstehen wir schon; trotzdem muss ja deshalb nicht AfD gewählt werden, sondern könnte auch "Villen für Geflüchtete" o.ä. gefordert werden.

 

 

3.

 

"aber wählen nun also Arbeiter_innen und Arbeitlose die neoliberale AFD , ausser irrationalem, vulgären Rassismus, wo sich doch angeblich dieses Wahlverhalten gegen ihr ökonomisches Eigeninteresse richtet? [...]. Die A-moralische aber auch nicht unlogischere Rechnung von Bauarbeiter Stefan geht in etwa so: 'Es gibt nur eine begrenzte Menge an Arbeit, Ali und Harkan sind meine Konkurrenten,werden die abgeschoben, habe ich weniger Konkurrenz'"

 

 

a) Wir haben ja gar nicht gesagt, dass Rassismus und Sexismus "irrational" seien. Vielmehr hatten wir gesagt:

 

"während FDP- und CDU-WählerInnen einen mehr oder minder ‚reinen’ Kapitalismus wünschen, verlangen AfD-WählerInnen (zumeist sind es: Wähler) eine männliche und weiße Dividende."

 

Das ist zwar nicht emanzipatorisch, aber gewissermaßen "rational" schon.

 

 

b) Ob dieses rationale Kalkül aufgeht oder sich Stefan verrechnet, ist allerdings eine offene Frage. Denn:

 

Wenn die Bevölkerungszahl wächst, werden auch mehr BauarbeiterInnen benötigt; und wenn unter der hinzukommenden Bevölkerung viele Alis und Harkans sind, kann Stefan - unter gegebenen Verhältnissen - damit rechnen, deren Vorarbeiter zu werden und entsprechend besser dazustehen.

 

Zwar mag es so sein, dass es auch so etwas wie eine volkswirtschaftlich 'sinnvolle' Obergrenze für die Bevölkerungszahl gibt, aber wo die genau liegt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden; jedenfalls dürfte Deutschland von dieser Grenze sehr weit entfernt sein (wenn wir Deutschland mit [Klein-]Staaten mit größerer Bevölkerungsdichte aber jedenfalls nicht entscheidend geringerem BIP/EinwohnerIn vergleichen).

 

Aber zurück zur "Rationalität" des Rassismus: Ja, die imperialistischen Metropolen - einschließlich vieler der dortigen Lohnabhängigen - profitieren von dem imperialistischen Metropolen-Peripherie-Verhältnis - und das gleich in mehrfacher Hinsicht:

 

++ Geringerer Reproduktionsaufwand und Reproduktionskosten - und entsprechende geringere Lohnkosten - in der Peripherie - und entsprechende imperiale Dividenden in globalen Produktionsketten, die wiederum die LebenshaltungsKOSTEN der Lohnabhängigen in den imperialistischen Metropolen reduzieren, ohne deshalb deren LebensSTANDARD zu senken.

 

++ (Wegen rechtlicher und informeller Diskriminierung) billige und u.U. sogar gut ausgebildete migrierte Arbeitskräfte, was die Lohnstückkosten in den imperialistischen Metropolen reduziert und damit gleichzeitig die Integrationsmöglichkeiten des Kapitals gegenüber den nicht-migrierten Lohnabhängigen in den imperialistischen Metropolen erhöht.