Eine Wut bis zum Himmel und ein Herz in tausend Stücken

Aufstand

Noch in der Nacht vom Mittwoch wurde auf einem anarchistischen Plenum in Athen folgende Stellungnahme diskutiert  und verabschiedet: Eine Wut bis zum Himmel und ein Herz in tausend Stücken
Im Begriffsapparat, der Kultur und der Sprache der Anarchisten gibt es die Worte „Unfall“,  „Kollateralschaden“  und „aus Versehen“ nicht. Der unfassbare Verlust dreier Menschen während einer für die Jahre nach der Junta einzigartigen Demonstration. Wie lässt sich der Widerspruch aushalten? Eine Wut bis zum Himmel und ein Herz in tausend Stücken. Erklärung aus einem offenen Plenum, das heute Nachmittag im besetzten Haus in der Patission 61 Ecke Skaramangas stattfand...

 

Die Mörder „betrauern“ ihre Opfer
(zum heutigen tragischen Tod dreier Menschen)

Die großartige Streikkundgebung und Demonstration von heute, Mittwoch 5. Mai verwandelte sich in eine gesellschaftlichen Strom der Wut. Mindestens 200000 Menschen jeden Alter auf der Straße (Arbeitende und Arbeitslose, im öffentlichen Dienst und der privaten Wirtschaft, Einheimische und Migranten) versuchten über Stunden in ununterbrochenen Wellen das Parlament zu umzingeln und zu besetzen. Die Repressionskräfte in voller Bereitschaft in ihrer bekannten Rolle, die des Schutzschilds der politischen und ökonomischen Herrschenden. Die Zusammenstöße langanhaltend und intensiv. Das politische System und seine Institutionen am Nullpunkt.

Inmitten all dessen ein tragisches Geschehen, das nicht mit Worten beschrieben werden kann: drei Menschen sterben durch Rauchvergiftung in einer Filiale der Marfin Bank in der Stadiou Strasse, die in Flammen aufging.

Der Staat und das journalistische Gesindel sprechen vereint und ohne jeden Scham gegenüber den Toten und ihren Familien vom ersten Moment an von Mörder-Vermummten, im Versuch das Geschehene für die Besänftigung des Stroms der ausgebrochenen gesellschaftlichen Wut zu nutzen, ihr eigenes zerlumptes Ansehen wieder herzustellen, den Polizeistaat auf den Straßen wieder aufzurichten, die Herde des gesellschaftlichen Widerstands und Ungehorsams gegenüber dem staatlichen Terror und der kapitalistischen Barbarei zu unterdrücken. Aus diesem Grund haben die Polizeikräfte in den vergangenen Stunden im Zentrum Athens angegriffen, Hunderte festgenommen und sind mit Schüssen und Schockgranaten in das anarchistische besetzte Haus „Ort geeinter vielfältiger Aktion“ in der Zaimi Strasse und in das „Zentrum für Migranten“ in der Tsamadou Strasse (beides Orte in Exarcheia) eingedrungen. Zur gleichen Zeit schwebt über den übrigen selbstverwalteten Räumen (Besetzungen und Zentren) die Drohung der gewalttätigen polizeilichen Räumung, nachdem der Ministerpräsident die Festnahme der „Mörder“ durch Räumungen angekündigt hat.

Die Regierenden, die Staatsfunktionäre, das politische Personal, die Journallie, und die bezahlten Amtsträger versuchen auf diese Weise das System reinzuwaschen und die Anarchisten und jede unbevormundete Stimme des Kampfes zu kriminalisieren. So als bestünde auch nur die geringste Möglichkeit dafür, dass diejenigen, die die Bank angriffen gewusst haben, dass sich darin Menschen befanden und sie trotzdem in Flammen setzten (wenn das offizielle Szenarium stimmt). Wahrscheinlich verwechseln sie die kämpfenden Menschen mit sich selbst, die ohne zu zögern die gesamte Gesellschaft der größten Plünderung und Versklavung ausliefern, die ihre Fußsoldaten anweisen ohne zu zögern zuzuschlagen und auf Menschen zu schießen, die drei Menschen in der letzten Woche in den Selbstmord wegen Überschuldung getrieben haben.

Die Wahrheit ist, dass der eigentliche Mörder, der eigentliche Anstifter des heutigen tragischen Geschehens, „Herr“ Vgenopoulos ist (Besitzer der Marfin Bank, Anm. d. Üb.), der mit der bekannten arbeitgeberischen Erpressung (Drohung mit Entlassung) die Angestellten gezwungen hat, am Streiktag zu arbeiten, noch dazu in einer Filiale in der Stadiou Straße, wo die Demonstration vorbeikommen würde. Eine Erpressung, die alle kennen, die den Terror der täglichen Lohnsklaverei durchleben. Wir warten schon darauf, welche Rechtfertigungen er heute den Familien der Opfer und der gesamten Gesellschaft auftischen wird (mit seinem bekannten ekligen honigtriefenden und ernsthaftem Gesichtsausdruck), dieser Großkapitalist, der von bestimmten Zirkeln der Herrschenden schon als neuer Ministerpräsident einer Regierung der „nationalen Einheit“ nach dem zu erwartenden vollständigen Zusammenbruch des politischen Systems gehandelt wird.


Wenn ein Streik ohnegleichen für einen Mörder gehalten werden kann...

Wenn eine Demonstration ohnegleichen, in einer sozialen Krise ohnegleichen für einen Mörder gehalten werden kann...

Wenn offene gesellschaftliche, lebendige und öffentliche Räume für Mörder gehalten werden können...

Wenn der Staat den Ausnahmezustand verhängen und Demonstranten angreifen kann, unter dem Vorwand es ginge um die Festnahme von Mördern...

Wenn Vgenopoulos Angestellte in einer Bank festhalten kann, Symbol für den gesellschaftlichen Feind und Angriffsziel der Demonstranten....

...dann weil die Herrschenden, die mordenden Wiederholungstäter, die Geburt eines Aufstands unterdrücken wollen, der eine Lösung durch einen noch brutaleren Angriffs auf die Gesellschaft, eine noch größere gesellschaftliche Plünderung durch das Kapital, ein noch durstigeres Blutsaugen an uns anzweifelt.

... dann weil außer der vielgepriesenen „einzigen Lösung“ von ihnen eine Lösung existiert, die nicht von Wachstumsraten und Arbeitslosigkeit sondern von Solidarität, Selbstorganisation und menschlichen Beziehungen spricht.

 

Sollen doch die Kaliber der Herrschaft und des Kapitals, ihre Anhänger und Lakaien unter sich selbst schauen, wer die Mörder des Lebens, der Freiheit und der Würde sind. Heute und immer.

 

Hände weg von den freien selbstverwalteten Räumen
Mörder, Terroristen, Verbrecher und Räuber sind der Staat und die Kapitalisten
Alle auf die Straße
Aufstand

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Drei Menschen sterben nach einem Angriff mit Molotow-Cocktails auf eine Bank

Einst hatte es der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, erklärt, eine innere Abwertung in Griechenland geht nur über die "Absenkung von Preisen und Löhnen" und das führe zu sozialen Unruhen. Deshalb bezeichnete er drastische Sparpläne, wie man gerade einen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission beschlossen hat, als ein "Rezept für Mord und Totschlag"

Und schneller als Sinn wohl erwartet hat, ist der Fall eingetreten. Der gestrige Generalstreik war der bisher größte und massivste Protest gegen den Sparplan, mit dem vor allem die einfache Bevölkerung für die Krise zur Kasse zu gebeten wird. In allen Städten des Landes kam es zu großen Demonstrationen und es wurden zum Teil auch Amtsgebäude besetzt. Vor dem Parlament in Athen kam es zu Straßenschlachten, als Demonstranten in das Gebäude eindringen wollen. In der Hauptstadt starben zwei Frauen und ein Mann, Angestellte einer Filiale der Marfin-Bank, an Rauchvergiftung, weil sie nicht rechtzeitig von der Feuerwehr evakuiert werden konnten, die andere Beschäftigte über einen Balkon in Sicherheit bringen konnte. Die Bank war aus einer Demonstration heraus mit Molotow-Cocktails angegriffen worden und brannte vollständig aus. Die Angestellten hatten sich in den ersten Stock über der Bank geflüchtet.

Dieser Anschlag mit drei Toten sorgte zunächst dafür, dass Journalisten den Streik abbrachen, um über die Geschehnisse zu berichten. Es kursieren in griechischen Medien Gerüchte darüber, dass die Brandanschläge nichts mit den Streiks und Protesten zu tun haben könnten. So berichtet auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Österreich, dass es sich um gezielte Anschläge auf die Bank und das Finanzamt gehandelt haben könnte, um Akten über Steuerhinterziehung zu vernichten, die dort lagerten. 

Ein Mitarbeiter der Bank kritisiert auch die Direktion scharf. In einem Schreiben, dessen grobe Übersetzung hier zu finden ist greift er an, dass es in der Bank keinerlei Brandschutzvorrichtungen gegeben habe. Die Feuerwehr habe das Gebäude nicht abgenommen. Es habe weder Sprinkler, Notausgänge noch Feuerwehrschläuche gegeben, nur einige tragbare Feuerlöscher, an deren Benutzung die Beschäftigten niemals unterwiesen worden seien. Besonders drastisch ist der Vorwurf, dass Management haben den Beschäftigten verboten die Bank zu verlassen, obwohl sie hartnäckig darum gebeten hatten und die Türen seien verriegelt worden. 

Allerdings nehmen auch fehlende Schutzmaßnahmen nichts von der Unverantwortlichkeit, Brandflaschen in eine Bank zu werfen, in der sich Menschen aufhalten. Allerdings müssen die Hintergründe der Vorgänge noch geklärt werden. Klar ist, dass die Möglichkeit, dass Demonstranten für den Tod von drei Bankangestellten verantwortlich sein könnten, für einen Schock gesorgt hat. In der Nacht blieb es nach diesem Generalstreik auffällig ruhig. Streiks gehen heute derweil weiter, bevor das griechische Parlament heute über das Sparpaket abstimmt. Zu einem 24-stündigen Trauerstreik sind heute auch die Bankangestellten aus Solidarität mit ihren Kollegen aufgerufen. Wie tief der Schock sitzt, wird sich bei der Demonstration herausstellen, die Gewerkschaften für den frühen Abend angekündigt haben, um vor dem Parlament gegen die Verabschiedung des Sparpakets zu protestieren.

Klar ist, dass Griechenland harte und bewegte Zeiten bevorstehen. Auch die EU-Kommission hat in ihrem Frühjahrsgutachten gestern prognostiziert, das Sparprogramm werde das Land auf eine lange Reise in Rezession schicken. Die zwei massiven Mehrwertsteuererhöhungen von 19% auf 23% ziehen genauso Kaufkraft aus der breiten Bevölkerung ab, wie die Lohn- und Rentenkürzungen von bis zu 30%. Nach Ansicht Brüssels wird Griechenland deshalb das einzige Land in der EU sein, dessen Wirtschaft auch 2011 schrumpfen soll. Die Frage stellt sich immer stärker, ob man auf diesen Weg auch Spanien, Irland und Portugal schicken sollte.

© Ralf Streck, veröffentlicht in Telepolis am 06.05.2010

Was bedeuten die Ereignisse des 5.5. wirklich für die anarchistische/antiautoritäre Bewegung? Wie verhalten wir uns angesichts des Todes dreier Menschen – unabhängig davon, wer dafür verantwortlich ist? Wo stehen wir als Menschen und kämpfende Subjekte? Wir, die nicht an „Einzelfälle“ (von Polizei- und Staatsgewalt) glauben und täglich den Zeigefinger erheben gegen diese Gewalt des Staates und des kapitalistischen Systems. Wir, die den Mut haben die Dinge beim Namen zu nennen, jene anzuklagen, die Migranten auf Polizeiwachen misshandeln oder unser Leben aus glamourösen Büros und TV-Studios heraus diktieren wollen. Was haben wir zu den Ereignissen zu sagen?

Wir könnten uns hinter dem Statement der Gewerkschaft der Bankangestellten (OTOE) und den Anschuldigungen der Kollegen der Toten verschanzen, dass die Getöteten am Streiktag zur Arbeit in einem Gebäude ohne ausreichenden Feuerschutz gezwungen, ja sogar eingesperrt, wurden. Wir können uns darauf ausruhen, was für ein Arschloch Vgenopoulos, der Besitzer der Bank, ist. Oder wie diese Tragödie genutzt wird, eine nie dagewesenen Repressionswelle loszutreten. Wer sich traute Mittwoch Nacht durch Exarcheia zu gehen, konnte sich ein Bild davon machen. Aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist, welche Verantwortung wir alle tragen. Wir sind alle gemeinsam verantwortlich. Wir haben alles Recht mit aller Macht gegen die ungerechten Maßnahmen zu kämpfen, die uns aufgezwungen werden. Es ist richtig, all unsere Stärke und Kreativität auf die Vision einer besseren Welt zu richten. Aber als politische Menschen sind wir verantwortlich für jede einzelne unserer politischen Entscheidungen – für die Mittel die wir im Kampf wählen und auch für das Schweigen, wenn wir uns Schwächen und Fehler nicht eingestehen wollen. Wir reden dem Volk nicht nach dem Mund, es geht uns nicht um Wählerstimmen. Wir haben nicht das Interesse irgendjemanden auszunutzen. Gerade wir haben die Möglichkeit unter diesen tragischen Umständen ehrlich zu uns selbst und mit den anderen zu sein.

Die anarchistische Bewegung ist momentan in einem Zustand der totalen Starre. Der Prozess der Selbstkritik wird unter den gegeben Umständen weh tun. Neben dem dramatischen Umstand, dass Menschen getötet wurden, die auf „unserer Seite“ standen, der Seite der Arbeiter (die, nebenbei, vermutlich an unserer Seite demonstriert hätten, wären sie nicht zur Arbeit gezwungen worden), müssen wir uns mit Demonstranten auseinandersetzen, die das Leben anderer gefährden. Auch, und davon gehen wir aus, wenn kein Tötungsvorsatz bestand, müssen wir uns mit den Mitteln zur Erreichung unserer Ziele auseinandersetzen.

Dieser Vorfall ereignete sich nicht in der Nacht während einer Sabotageaktion. Er passierte im Verlauf der größten Demonstration der jüngeren Geschichte Griechenlands. Das ist der Punkt, wo wir uns einer Reihe unangenehmer Fragen stellen müssen: Besteht während einer Demo von 150.000-200.000 Menschen, der größten seit Jahren, wirklich ein Grund zur Eskalation der Gewalt? Wenn tausende „Brennt das Parlament nieder!“ skandieren und die Polizisten beschimpfen, bringt dann eine weitere ausgebrannte Bank die Bewegung überhaupt noch weiter?

Wenn die Bewegung richtig groß wird – etwa wie im Dezember 2008 – was kann dann eine Aktion bewirken, die über das hinaus geht, was unsere Gesellschaft im Moment vertagen kann oder gar Menschenleben auf Spiel setzt?

Wenn wir auf die Straßen gehen, sind wir eins mit den Menschen um uns herum. Wir sind ganz an ihrer Seite. Das ist letztlich, weshalb wir uns die Ärsche aufreißen, Flugblätter schreiben und Plakate kleben. Wir sind ein Teil der Bewegung, die dort entsteht. Es ist an der Zeit, offen über Gewalt zu sprechen und eine spezielle Kultur der Gewalt zu hinterfragen, die sich in den letzten Jahren in Griechenland etabliert hat. Unserer Bewegung ist nicht wegen der manchmal drastischen Wahl ihrer Mittel gewachsen, sondern wegen unseres politischen Ausdrucks. Der Dezember 2008 ist nicht in die Geschichte eingegangen, weil tausende Steinen und Brandsätze geworfen haben, sondern wegen des sozialen und politischen Charakters. Selbstverständlich wehren wir uns gegen die Gewalt, die sich gegen uns richtet. Dennoch müssen wir unsere politischen Entscheidungen ebenso hinterfragen wie die Mittel der Auseinandersetzung. Dabei müssen wir unsere Grenzen und die unserer Mittel anerkennen.

Wenn wir von Freiheit sprechen, heißt das, dass wir in jedem Augenblick in Frage stellen, was gestern noch sicher schien. Wir kämpfen bis zum Ende und sehen der Realität ins Auge. Gewalt ist kein Selbstzweck und wir werden nicht zulassen, dass sie die politische Dimension unserer Aktionen überdeckt. Wir sind weder Mörder noch Heilige. Wir sind Teil einer sozialen Bewegung mit Stärken und Schwächen. Statt durch diese riesige Demonstration bestärkt, fühlen wir uns heute wie betäubt, was einiges aussagt. Wir müssen diese Tragödie zur Einkehr nutzen, uns gegenseitig inspirieren. Letztlich handeln wir alle ausgehend von unserem Bewusstsein. Die Schaffung eines solchen kollektiven Bewusstseins steht auf dem Spiel.

 

Original auf Englisch