Pathologisierung von Inhaftierten im Justizvollzug

zwangsmedikation

Wer einmal in die Mühlen der Gefängnisverwaltung (oder auch der der Psychiatrien) geraten ist, wird dort regelmäßig mit der Pathologisierung des eigenen Verhaltens konfrontiert. Dabei liegt die nahezu vollständige Definitionsmacht beim Justizpersonal, bzw. diesem zuarbeitenden Kräften (bspw. GutachterInnen).


Die Diagnose

Professor Dr. F. diagnostizierte 1996 eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Zügen“. Ich zeige ein arrogantes, überhebliches Verhalten, lege ein Anspruchsdenken an den Tag, nutze zwischenmenschliche Beziehungen aus, um mit Hilfe anderer die eigenen Ziele zu erreichen. Die Dissozialität zeige sich an der Begehung von Straftaten, sowie fehlender Reue, bzw. einem Mangel an Empathie.
Später kam Herr Professor Dr. F. noch zu der Ansicht, ich würde ein „sozial isoliertes Leben“ führen, verfügte über keine realistischen Zukunftsperspektiven und es bestehe auch kein sozial stabilisierender Empfangsraum.
Diesem Diktum folgend, beschreiben die Bediensteten der JVA Freiburg mich in den halbjährlichen Vollzugsplänen als „massiv gestörte Persönlichkeit“, ohne freilich dies näher zu erläutern (dazu dann weiter unten), ferner bestehe ein „Störungsbild“, wie auch immer dieses geartet sein mag.
Ein „stabiles soziales Umfeld“ existiere nicht (Vollzugsplan 25.7.2016).

Befragung von Frau Dipl. Psychologin W.

Am 22.9.2016 hatte ich Gelegenheit, die Stationspsychologin dazu zu befragen, worin sich ihrer Ansicht nach die mir zugeschriebene psychisch schwer gestörte Persönlichkeit konkret ausdrücke. Denn in dem erwähnten Vollzugsplan wird beiläufig die Aussage der Leiterin der Gefängnisschule, Frau M., zitiert, wonach ich mich bei den Gruppenarbeiten einbrachte, „aber nicht in den Vordergrund“ stellen würde, vielmehr sei ich „im Unterricht eher zurückhaltend“.

Eine Feststellung, die eher gegen das Vorliegen einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung spricht, deshalb meine Frage an besagte Psychologin. Tja, so Frau W., eine solche Störung äußere sich gerade nicht nur in gestörtem Verhalten.
So sei ich gut in der Lage, eben dieses Verhalten zu steuern, eher intellektuell als emotional. Ferner sei ich deshalb auch in der Lage, etwas „vorzuspiegeln“ und in bestimmten Bereichen auch „anpassungsfähig“. Die Schule sei wohl ein solches Feld, in welchem ich angepasst sein könne. Meine anhaltende Beschwerde- und Klagetätigkeit (siehe dazu meine Texte auf meinem blog) seien fulminanter Beleg für die schwere Persönlichkeitsstörung.
Zum einen würde ich mich dadurch in den Vordergrund rücken, ich sei manipulativ, da ich Gericht und Behörden für die Verfolgung meiner Ziele ausnützen würde. Zum anderen diene die Beschwerdetätigkeit der emotionalen Regulation, um bei Verärgerung „Druck abzubauen“.
Schlussendlich zeige sich die Schwere und das Fortbestehen der Persönlichkeitsstörung auch in meiner hartnäckigen Weigerung, Drohungen gegenüber RichterInnen, PolitikerInnen aus den 90’er Jahren zurück zu nehmen, und diese, wie auch die zur Festnahme führende Tat (Banküberfall mit Geiselnahme im Jahre 1996) „therapeutisch“ aufzuarbeiten. Hierbei handele es sich um „selbstschädigendes Verhalten“ und korrespondiere mit der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung.

Fachliche Kritik

Der Psychotherapeut Michael Stiels-Glenn berichtete 2005 in einem bemerkenswerten Aufsatz („Die Würde des Strafgefangenen ist antastbar!“, in: „Die Würde des Menschen ist antastbar?“, Hrsg. Rode/Kammeier/Leipert, Band 28 der Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung) darüber, wie Gefangene durchweg auf ihr Delikt reduziert würden.

Diese seien einer „ständigen und einseitigen Bewertung ihres Handelns ausgeliefert“ (a.a.O., Seite 69). Äußerungen und Verhalten würden „ausschließlich aus der Deliktperspektive gewertet“ (a.a.O.). Weniger geprüft werde darüber hinaus, ob denn das „auffällige Verhalten deliktrelevant“ sei (a.a.O., S. 71). Die „pathologisierende Sichtweise des Personals erschrecke“ (S. 70) ihn immer wieder aufs Neue, denn die Gefangenen seien „hilflos dieser Argumentation ausgeliefert“ (a.a.O., S. 72).
Schon vor über 30 Jahren schrieb der Philosoph Günther Anders („Die Antiquiertheit des Menschen“, Band 2), wir würden in einem Zeitalter leben, in welchem es einen „Unterschied zwischen ‚Fakten’ und deren ‚Interpretationen’ (…) nicht geben dürfe“ (a.a.O., S. 263). Das meint, niemals würden die Interpretationen als Interpretationen präsentiert, niemals als Ansichten, sondern stets als Fakten, so Günther Anders.
Was heißt das für Gefangene? Sie sind ständig Interpretationen ihres Verhaltens durch das Personal ausgeliefert, wobei sich das Personal nicht die Mühe macht, Fakten festzuhalten, sondern Interpretationen zu Papier bringt. Interpretationen, die als Fakten präsentiert werden.

Zu Fakten kann mensch sich verhalten, diese bestreiten oder auch bestätigen. Interpretationen jedoch, die als Fakten präsentiert werden, sind wesentlich wirkungsmächtiger, es handelt sich um einen Mechanismus mit „totalitärem Charakter“ (Anders, a.a.O., S. 264). Totalitär deshalb, weil der Gedanke, es könne sich bei den als Fakten präsentierten Interpretationen überhaupt um Interpretationen handeln, nicht mehr gedacht wird.
Weder psychiatrische Sachverständige, noch Gerichte neigen dazu, die von den Gefängnisverwaltungen präsentierten „Fakten“, als deren Interpretationen, zu hinterfragen.

Die Folgen

Es gibt Insassen, die darüber verzweifeln, andere unterwerfen sich vollständig und bis zur völligen Selbstaufgabe.
Ein Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen kann darin bestehen, diesen Mechanismus aufzuzeigen, ohne jedoch der Vorstellung zu erliegen, diesen damit erfolgreich anfechten zu können.
Stiels-Glenn berichtet aus seiner jahrelangen Erfahrung in der therapeutischen Arbeit mit Gefangenen, „wie gekränkt selbst höhere Vollzugsbedienstete reagieren“ (a.a.O., S. 74), wenn Inhaftierte sich gerichtlich gegen Maßnahmen der Haftanstalt wehren. Sich „rechtlich zu wehren, wird Gefangenen als Aggression ausgelegt“, so Stiels-Glenn.
Und so gerät für jene, die therapeutisch „mitarbeiten“ diese Mitarbeit zum Glücksspiel: Einige wenige „gewinnen“, im Sinne einer Haftentlassung (und verlieren dabei vielfach sich selbst und ihre Würde). Die meisten, zumindest im Bereich der Sicherungsverwahrung, werden trotz aller „Mitarbeit“ niemals entlassen werden.
Oder man geht den Weg der „Therapieverweigerung“, verteidigt und bewahrt auf diese Weise Würde, wie auch, im Einzelfall, politische Überzeugungen. Der Preis ist kein geringer, denn neben der konsequenten Pathologisierung jeder Äußerung und jedes Verhaltens (siehe oben) erwartet einen eine ziemlich lange Freiheitsentziehung.
Gefangene haben, wie überhaupt jeder Mensch, die Autonomie der Wahl. Egal welchen Weg wir gehen, wir wählen diesen und tragen dafür auch die Verantwortung!

Thomas Meyer-Falk, c/o JVA (SV), Hermann-Herder-Str. 8, D-79104 Freiburg
https://freedomforthomas.wordpress.com

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