Libanon: Armee behindert Wiederaufbau Nahr al-Bareds

Ein Arbeiter läuft über den namensgebenden Fluss Nahr al-Bareds

Der Wiederaufbau in Verzug, der Zugang limitiert, das Gebiet eine Militärzone und Arbeitslosigkeit weit verbreitet: Mehr als zwei Jahre nach Ende der Kämpfe präsentiert sich das palästinensische Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Libanon nicht als jenes Vorbild, zu welchem die libanesische Regierung es zu machen versprach.

 

Ein 15 Wochen dauernder Krieg im Sommer 2007 hinterließ Nahr al-Bared Camp im Norden Libanons völlig zerstört. Bislang sind rund zwei Drittel der 30.000 EinwohnerInnen in die äußeren Bereiche des Flüchtlingslagers zurückgekehrt. Einer von ihnen ist Jihad Awed, der gelangweilt vor seinem kleinen Kleiderladen sitzt und PassantInnen beobachtet. An die guten Zeiten vor dem Krieg erinnernd sagt er, sein Geschäft sei größer gewesen und er hätte eine größere Auswahl von Produkten gehabt: „Es lief gut und ich konnte davon leben. Ich machte 130 bis 200 Dollar Umsatz täglich.“

Als er nach dem Krieg nach Nahr al-Bared zurückkehrte, versuchte sich Awed als Schuhhändler, doch sein Geschäft scheiterte. Darauf hin verschacherte er den Heiratsschmuck seiner Frau und eröffnete einen Kleiderladen, dessen täglicher Umsatz sich gerade mal auf 30 Dollar beläuft. „Ich kann davon nicht leben,“ sagt Awed kopfschüttelnd und erklärt: „Die Ladenmiete beträgt monatlich 100 Dollar. Ich kaufe Zigaretten und Kaffee und die Einkünfte sind weg.“

Charlie Higgins ist der Projektmanager für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds der UNO-Agentur für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA). Er beschreibt die wirtschaftliche Situation in Nahr al-Bared als „festgefahren“ und ergänzt: „Seit Kriegsende hat sich nicht viel geändert. Weder hat sich die Wirtschaft regeneriert, noch hat sich die Beschäftigungssituation markant verbessert.“ Higgins erklärt, dass die Leute nach wie vor in einer temporären Umgebung lebten und zum Teil noch gar nicht nach Nahr al-Bared zurückgekehrt seien. Zusätzlich habe das Flüchtlingslager seine Verbindungen zu den libanesischen Nachbardörfern verloren. Die Worte vorsichtig wählend sagt Higgins: „Das Gebiet liegt nach wie vor innerhalb eines Militärgürtels, was die Wiederherstellung der einst engen Integration reguliert und zu einem gewissen Grad verhindert.“

Tatsächlich machen viele Ladenbesitzer in Nahr al-Bared die mangelnde Kundschaft von außerhalb für ihre aussichtslose Situation verantwortlich. Nasser Nassar, der Gasflaschen abfüllt und verkauft, schimpft: „Die Checkpoints und die Belagerung sind das größte Problem.“ Er sagt, libanesische Käufer präferierten nun Geschäfte außerhalb des Flüchtlingslagers. „Wieso sollten sie ins Camp kommen, wozu sie Bewilligungen benötigen und von der Armee durchsucht und geprüft werden?“ fragt Nassar verständnisvoll.

Anders als andere palästinensische Flüchtlingslager im Libanon war Nahr al-Bared einst ein wirtschaftliches Zentrum für die gesamte Region. Die Hälfte der Kundschaft war libanesisch. Als der Krieg endete, blieb der total zerstörte Kern des Camps wie auch das größtenteils palästinensisch-besiedelte angrenzende Gebiet unter Kontrolle der libanesischen Armee (LAF). Zugang ist bloß mit Spezialbewilligungen des Armeegeheimdienstes möglich.

Diverse Hilfsorganisationen haben versucht, Nahr al-Bareds Wirtschaft wieder auf die Beine zu kriegen. Viele Projekte bleiben aufgrund der äußeren Bedingungen aber relativ wirkungslos. Première Urgence (PU) hat 220 UnternehmerInnen materiell unterstützt. Julien Mulliez, Projektleiter von PU sagt, die Regeneration der Wirtschaft werde durch die gegenwärtigen Zugangsbedingungen zu Nahr al-Bared gefährdet: „Der Zugang unterliegt vorgängiger Autorisierung. Dies resultiert in einer kleineren Anzahl KundInnen, die das Camp besuchen.“

Die palästinensisch-arabische Frauenliga (PAWL) hat fünf ähnliche Projekte durchgeführt. Sahar Itani, Programmkoordinatorin der PAWL ist wenig optimistisch, was die Nachhaltigkeit der unterstützten Unternehmen angeht. „Wegen der begrenzten Kundenbasis haben wir eine Art Sättigung des Marktes erreicht,“ erklärt sie.

Der Kleiderhändler Awed klagt, dass die Verkäufer im Camp einander gegenseitig ihre Produkte verkaufen, während alle untätig herum sitzen. „Das Geld zirkuliert am selben Ort. Nichts kommt herein,“ sagt er. Hassan Mawed, der Präsident von Nahr al-Bareds Händlerkomitee, schätzt, dass LibanesInnen gegenwärtig weniger als fünf Prozent der Kundschaft ausmachen. „Dies ist viel zu wenig, um Nahr al-Bareds Wirtschaft ernsthaft anzukurbeln,“ urteilt er.

Sakher Sha'ar ist ein Coiffeur in Nahr al-Bareds früherer Hauptstraße. Es mangelt ihm an Arbeit: „Es gibt hier 29 Salons. Solange niemand von außerhalb hereinkommen kann, sind 29 zu viele für das Camp.“ Einige Häuserzeilen entfernt rasiert Salim Mawed gerade einen Kunden. Er sagt, er setze gegenwärtig rund 20 Dollar pro Tag um. Früher, als er seinen eigenen Salon besaß, seien es ungefähr 35 Dollar gewesen. „Jetzt muss ich Miete für den Salon und die Arbeitsutensilien bezahlen. Am Ende bleibt nichts übrig,“ sagt der junge Coiffeur.

Vor dem Krieg waren zwei Drittel der werktätigen Bevölkerung Nahr al-Bareds innerhalb des Camps beschäftigt. Außerhalb der Flüchtlingslager zu arbeiten ist für PalästinenserInnen schwierig, da sie auf dem libanesischen Arbeitsmarkt arg diskriminiert werden. Die Arbeitslosigkeit hat daher den Auswanderungswillen vieler verstärkt, sagt Salim Mawed: „Gäbe man uns die Möglichkeit zur Emigration - niemand bliebe. Ich wäre der erste. Ich würde alles zurücklassen.“

Seit Mitte Oktober erlaubt die Armee libanesischen StaatsbürgerInnen, das Camp ohne Spezialbewilligungen zu betreten, allerdings nur durch den Abdi-Checkpoint am nördlichen Ende des Camps. Die angeblichen Erleichterungen der LAF haben allerdings weder mehr libanesische Kundschaft angelockt, noch den Zugang zum Camp vereinfacht.

Ein Journalist, der seinen Namen nirgends publiziert sehen will, fuhr neulich mit einem libanesischen Freund nach Nahr al-Bared. Er erinnert sich: „Wir zählten elf Befehle und Fragen, um zehn Meter vorwärts zu kommen: 'Euren Ausweis! Steigt aus! Parkt!'“ Es sei schlimm, sagt der Journalist und ruft aus: „Dies ist ein Wohngebiet, keine Armeebasis! Dies ist eine kollektive Bestrafung der Bevölkerung.“

Eine anonym bleiben wollende libanesische Angestellte einer in Nahr al-Bared tätigen Nichtregierungsorganisation sagt, sie benütze noch immer ihre Spezialbewilligung, auch wenn sie mittlerweile ohne durch die Checkpoints gehen könne. Dies sei einfacher und schneller: „Ich verbringe lieber 20-30 Minuten mehr in unserem Büro und helfe Leuten, als dieselbe Zeit am Checkpoint zu verschwenden, bis mein Name geprüft ist,“ sagt die Frau.

Die libanesische Regierung beabsichtigt, das einst wieder aufgebaute Flüchtlingslager zu einem Modell für bessere Beziehungen zwischen den PalästinenserInnen und ihrem Gastland zu machen. Hassan Mawed nerven diese Versprechen mittlerweile. Mit anschwellender Stimme fragt er: „Ein Modell für was denn? Ein Modell für ein Gefängnis? Für eine Belagerung, Checkpoints und Erniedrigung? Es sollte ein Modell sein, welches uns Freiheit und Rechte, insbesondere auf Arbeit und Eigentum, gibt!“

Charlie Higgins von der UNRWA betrachtet die Sicherheitsmaßnahmen der LAF als „signifikantes Hindernis für die Erholung des Camps in jedem Sinn.“ Der Verantwortliche der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) für den Wiederaufbau Nahr al-Bareds, Marwan Abdulal, verlangt den Rückzug der libanesischen Armee und stellt klar: „Die grundsätzliche Bedingung für die Wiederherstellung der Wirtschaft und des sozialen Lebens ist der Abbau der Checkpoints oder wenigstens die Abschaffung der Bewilligungen.“

Als Reaktion auf zunehmende Beschwerden von EinwohnerInnen, Medienberichten, lokalen Organisationen, Parteien und internationalen Hilfsorganisationen rechtfertigten sich die LAF neulich in einer öffentlichen Erklärung: „Die Sicherheitsmaßnahmen dienen primär der Erhaltung der Sicherheit der Menschen, indem die Infiltration von Terroristen und zur Verhaftung ausgeschriebenen Leuten sowie der Schmuggel von Waffen, Sprengstoff und illegalem Material verhindert wird.“

Die englische Originalversion dieses Beitrags wurde von Electronic Lebanon veröffentlicht. Ray Smith ist ein Aktivist des autonomen Medienkollektivs 'a-films', welches seit zweieinhalb Jahren die Geschehnisse in Nahr al-Bared dokumentiert.

 

Bisherige Artikel auf indymedia zu Nahr al-Bared Camp:

 

Neues Sicherheitsmodell für Flüchtlingslager stößt auf Ablehnung - Januar 2010

Rebellischer Rap aus einem zerstörten Flüchtlingslager - Dezember 2009

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