[Baltimore] Unsere Gewalt und ihre Gewalt

Ferguson

Baltimore ist die nächste Station des Aufstands gegen rassistische Polizeigewalt in den USA. Die oberklugen Apologeten der „Gewaltlosigkeit“ sollten endlich schweigen, wenn sie sich schon nicht zur Unterstützung der Riots durchringen können.

 

Sie sind wieder da, die Oberschlauen, die mit ihren hübschen Merksätzchen die Kommentarspalten der sozialen Medien bestücken, als wäre schon wieder Valentinstag. „Protest ist ja in Ordnung. Aber diese Gewalt, das kann doch nicht sein“, schreibt eine weiße Bildungsbürgerin unter einen Artikel zu den „Baltimore-Riots“. „DAS ist Protest“, schreibt ein Mittelstandskiddy über ein Foto von Martin Luther King, der begleitet von einigen anderen durch eine Straße läuft. „Und DAS ist ein Riot“, über ein Foto der Jugendlichen aus Baltimore, die einen Bullenwagen demolieren. „Wenn ihr den Unterschied nicht erkennt, seid ihr Teil des Problems“, weiß der Besserwisser.

 

Bei jedem Riot treffen wir sie an. Diejenigen, die meinen, auf der Seite des „Protests“ zu stehen und das besonders konsequent, weil sie jeden „Gewaltausbruch“ der Demonstranten noch schärfer verurteilen als die ursprüngliche Gewalt, die zu ihm geführt hat. „Klar, total Intelligent die Nachbarschaft zu plündern und dann niederzubrennen. Nicht“, schreibt ein Deutscher aus seiner warmen Stube. „Mein Gott. Was für Chaoten und vor allem Idioten waren dort denn unterwegs? Denken sie wirklich so kann man Polizeigewalt Ausgleichen? Rechtfertigt Gewalt Gegengewalt? Und wozu die Ladenplünderungen? Völlig absurd den Tod Grays auf so dumme weise zu entwürdigen. Schämt euch“, mahnt ein Mario B.

 

Letzterer ist ein gutes Beispiel für die „Gewaltlosigkeit“, die diese Art von Leuten meinen. Während er unter dem Artikel zu Baltimore in zahllosen Postings doziert, dass Gewalt nie und nimmer eine „Lösung“ sein könne, ventiliert er auf seiner privaten Seite Gewaltphantasien gegen die Gewerkschaft der Lokführer (GDL). Die haben nämlich gestreikt, und deshalb kam sein Zug zu spät, er stellt sich also vor, wie schön es wäre, die GDL-Lokführer „zu verprügeln“. Außerdem hat ein Postbote zu spät geliefert, er fände es also gut, wenn „die Firmengebäude der DHL in die Luft gesprengt“ würden.

 

Dieser Idiot kann als paradigmatischer Stellvertreter für die meisten der Deppen stehen, die ihren Faible für „Gewaltlosigkeit“ immer dann entdecken, wenn es die Unterschicht ist, die Gewalt ausübt. “If you're not careful, the newspapers will have you hating the people who are being oppressed, and loving the people who are doing the oppressing”, hat Malcom X einmal gesagt. Wenn ihr nicht aufpasst, werden die Medien dafür sorgen, dass ihr die Unterdrückten hasst und die liebt, die für die Unterdrückung verantwortlich sind. Offenbar passen viel zu viele nicht auf.

 

Schauen wir uns an, was in Baltimore passiert ist. Ein junger schwarzer Mann wurde festgenommen. Schon das Augenzeugenvideo der Festnahme zeigt ihn offenkundig verletzt, er kann kaum noch laufen und wird in den Streifenwagen geschleift. Er schreit vor Schmerzen. Wenig später ist er tot. Sein Genick und seine Wirbelsäule wurden im Polizeigewahrsam gebrochen, woran er verstarb. Er ist nicht der einzige Fall tödlicher Polizeigewalt, nicht der erste und sicher auch nicht der letzte. Sie hat System und sie hat Gründe, die in der Militarisierung der US-Polizei, im institutionalisierten Rassismus und in Klassenunterschieden zu suchen sind.

 

Die Gewalt, die in Reaktion auf diesen Fall ausgeübt wurde, das Steinewerfen der Jugendlichen in den Straßen von Baltimore, die demolierten Polizeiautos und brennenden Gebäude, sind offenkundig nicht die „erste“ Gewalt hier, sondern eine Reaktion. Wer das nicht versteht, der ist mit Sicherheit Teil des Problems. Darüber hinaus reagiert nun der Staat erneut mit „Gewalt“ - und zwar mit einer ungleich wirkungsvolleren – gegen die Demonstranten. Er verhängt Ausgangssperren, besetzt die Stadt militärisch mit der Nationalgarde, greift Protestierende an (und zwar friedliche genauso wie „gewalttätige“). Wer in dieser Situation, wie ein nicht unbedeutender Teil der Leitmedien, die ganze Zeit über das „Chaos“, die „Gangs“, die „Plünderungen“ schreibt, lügt. Er lügt, weil er das Gesamtbild bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und den Schwerpunkt auf die Ablehnung der „Gewalt“ der DemonstrantInnen legt. Es wird den Unterdrückten einmal mehr der Mund verboten. Ihr Aufschrei gegen die Gewalt, die ihnen angetan wird, nimmt bisweilen eben selbst gewaltsame Formen an. Doch diejenigen, die zu der tagtäglichen Gewalt schweigen, sprechen nun denen, die sich gewaltsam wehren, die Legitimität ab.

 

Eine revolutionäre Linke muss anders reagieren. Sie muss den gewaltsamen Aufstand, der spontan entsteht, in organisierte Formen überführen, weil letztere effektiver sind. Lenin hat an Marx anknüpfend 1906 in seiner kleinen Schrift „Der Partisanenkrieg“ über die Frage, welche Aktionsformen denn eigentlich zulässig seien, nachgedacht. Anlass seiner Überlegungen waren – teils organisierte, teils von unorganisierten Grüppchen kommende – bewaffnete Anschläge auf Personen aus dem zaristischen Polizei- und Militärapparat, die einige seiner Parteifreunde ablehnten. Er wies einige Einwände gegen diese Attacken zurück und vertrat einen Kurs der Organisierung des militanten Kampfes. Diejenigen, die pauschal jede Aktion mit der Knarre als „Anarchismus, Blanquismus oder Terrorismus“ bezeichneten, kanzelte er scharf ab. Ihre „schablonenhaften Phrasen“ seien unmarxistisch.

 

Der Marxismus unterscheide sich „von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet.“ Er „erkennt die verschiedensten Kampfformen an“. Zudem müsse der Partisanenkampf mit den „wichtigsten Kampfmitteln (Streik, Massenaufstand – P. S.) in Einklang gebracht werden“, das heißt, er darf nicht kontraproduktiv für diese sein. Er bringe auch „üble Formen“ hervor, weil hier die unorganisierten, wütenden Teile der Bevölkerung „spontan“ handeln. Die Konsequenz sei aber nicht, sich zu distanzieren, sondern diesem Kampf eine organisierte Form zu geben.

 

Von Peter Schaber (lower class magazine)

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bis auf dass ziemlich primitive ;), marxistische Gewäsch am Ende

Feiner Kommentar. O.k., über den Schluss ließe sich streiten... ;-)

 

Zeit, auch mal wieder radikalere Bewegungen ins Gedächtnis zu rufen. Zwei Buchtipps:

 

Malcolm X - eine Biografie: https://www.anarchia-versand.net/Buecher-und-Broschueren/Radikale-Linke/...
Oliver Demny: Die Wut des Panthers - https://www.anarchia-versand.net/Buecher-und-Broschueren/Radikale-Linke/...

"Die oberklugen Apologeten der „Gewaltlosigkeit“ sollten endlich schweigen"? Dazu haben sie keinerlei Anlass. Viel zu oft haben sie Recht behalten.

http://www.graswurzel.net/

 

Wenn Du Dich mit einem praktisch-pazifistischen Umgng mit Gewalt befassen willst

aikido-bund.de

http://www.tavd.org/

 

Und uch AfromerikanerINNEN teilen diesen Ansatz - vielleicht nicht immer aus den besten Gründen:

https://www.youtube.com/watch?v=sIu9oSiQLRQ

ganz netter text.

jedoch sind die, die sich als (radikale) linke bezeichnen und pazifismus propagieren selbst so bürgerlich wie der pazifismus an sich.  die lebenswelt prekarisierter ist eine gewalttätige. und wer glaubt die betroffenen geben sich damit zufrieden pappschilder in den himmel zu recken, kann ums verrecken den alltäglichen überlebenskampf dieser menschen nicht nachvollziehen oder verstehen. Sie kennen diese ohnmacht nicht, sie kennen diese wut nicht! wollen aber wissen was ein angemessener protest ist und was gar nicht geht.

Wann haben riots das letzte mal irgend etwas bewegt? Mir fällt da gerade nichts ein. Riots führen nur dazu, dass ein eigentlich gerechtfertigtes anliegen untergraben wird und die nötige Zustimmung der Mehrheitsgesellschaft entzogen wird. Und was haben geplünderte Geschäfte und brennende Altenheime mit Protest zu tun? Tut doch nicht immer so, dass jeder brennende Mülleimer gleich die Weltrevolution einleitet. Wir leben in Demokratien, hier müssen mehrheiten generiert werden um Dinge zu bewegen. Riots entfremden alle nicht direkt beteiligten. Wenn gewalt irgend etwas bringen würde, warum haben die Kurden dann immernoch kein Land? Warum werden in Palästina weiter Siedlerwohnungen gebaut? Warum konnte die RAF kein sozialistisches Utopia aufbauen? Was haben die Krawalle in den Banlieuis und den Lononder Vorstädten gebracht? Das waren viel krassere und militantere Reaktionen auf Herrschaft und nichts wurde bewegt.

Schon traurig dass die Meisten, so wie du, glauben es würde etwas bringen innerhalb der uns "erlaubten" Grenzen zu handeln/demonstrieren..tut es nicht, sonst dürften wir es nicht

 

Ich empfehl dir dazu mal diesen Text, der meiner Meinung nach noch besser auf das Thema eingeht

http://www.neues-deutschland.de/artikel/965349.gewalt.html

Und schon wieder kriegt man wieder nur eine theoretische Abhandlung über Gewalt und Gewaltlosigkeit. Aber wo sind den die konkreten Erfolge die durch Riots erreicht wurden? Außerdem würden die Ausschreitungen in Baltimore ja dann zur zweiten Kategorie gehören, nämlich der kontraproduktiven Sorte.

Ergeht euch doch nicht immer in Seitenlang in irgendwelchen Abhandlungen. Keiner stellt mal eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf und reflektiert mal darüber ob die eigenen Handlungen überhaupt zielführend sind.

Blickt doch einmal auf das Endziel und nicht immer nur auf ultra-kurfristige Publicity. Was haben noch einmal die Krawall in Frankfurt gebracht?

Danke für den guten Artikel. In den USA gibt es auch eine Debatte über die Riots und es gibt viel Unterstützung von verschiedenen linken Gruppen. Hier ist ein guter Artikel von einer Person aus der Nachbarschaft von Freddie Gray:

http://www.theatlantic.com/politics/archive/2015/04/nonviolence-as-compl...

 

Mittlerweile ist der Ausnahmezustand in Baltimore ausgerufen worden. Wie es gerade dort aussieht zeigt der Bericht von Democracy now:

http://www.democracynow.org/2015/4/28/headlines#4282

 

Gerade werden auch Spenden gesammelt damit die Kaution von inhaftierten Menschen bezahlt werden kann:

https://www.crowdrise.com/legalbailsupportforbaltimore/fundraiser/tremurphy

Deshalb haben wir wieder traditionell das Holocaustmahnmal hinter der US-Botschaft in Berlin mit den Namen von 256 ausgerotteten Stämmen verschönert, leider ist unser Scanner nicht funktionstüchtig und so könnt ihr auch nicht die 256 geilen Fotos bewundern.

Leider können wir nicht zu den ersten Mai Protesten vor die Amibotschaft anreisen, weil wir dann in Istanbul sind. Aber seid Euch gewiß: Ohne die brutalen Massaker an den "500 First Nations", bzw. die proletarische Ignoranz gegenüber den "Wilden" hätte es niemals den ersten 1.Mai in Chicago gegeben und er hat auch nichts daran geändert, daß die europäischen Herrenrassen in Amerika weiter mordeten, Wounded Knee kam grad mal 4 Jahre später und den revolutionären Arbeiter*innen mindestens pupsegal wie dutzende weitere Massaker zwischen 1886 und 1890 an wehrlosen Frauen, Kindern und Alten; einfach rassistisch ignoriert von der Klasse.

Feurige antiimperialistische Grüße aus Rosenheim

Der Holocaust war ein singuläres Menschheitsverbrechen, nicht zu vergleichen mit dem transatlantischen SklavInnenhandel, dem Gulag, den Kongo-Greueln, den Morden an ArmenierInnen und Nama, den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki oder dem Großen Sprung nach vorn (für Lateinamerika und Australien bitte ergänzen) oder oder oder. 

Den Nazis war das Morden nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Und das ist neu in der überlieferten Menschheitsgeschichte.

Friedrich Engels hat sich im übrigen recht intensiv mit den der politisch-ökonomischen Organisation z.B. der Irokesen-Föderation befasst. Kann man wie Frau nachlesen. Vielleicht sogar in Rosenheim.