Broschüre: Archipel – Affninität, Informelle Organisation und aufständische Projekte

Archipel

[Dieser Text erschien erstmals im November 2012 in “Salto - Subversion & Anarchie, Nr. 2” Übersetzt aus dem Französischem, Frühjahr 2014]

Wieso auf die Fragen über Affinität und informelle Organisation zurückkommen? Gewiss nicht, weil es uns an Versuchen fehlt, die Aspekte des Anarchismus zu erforschen und zu vertiefen. Nicht, weil sowohl die Diskussionen von gestern als auch die von heute nicht ein wenig von ihnen inspiriert wären, und auch nicht, weil es keine Texte gibt, die die Fragen vielleicht in einer dynamischeren Art und Weise angehen; auch wenn die die es gibt oft in anderen Sprachen verfasst sind. Aber ohne Zweifel bedürfen bestimmte Konzepte einer permanenten analytischen und kritischen Anstrengung, wenn sie ihre Bedeutung nicht durch allzu häufigen Gebrauch und Wiederholung verlieren sollen. Andernfalls riskieren unsere Ideen Gemeinplatz zu werden, „offensichtliche Anzeichen“, ein fruchtbarer Boden für das idiotische Spiel des Identitätswettbewerbs, wo kritische Reflexion unmöglich wird. Es kommt vor, dass die Entscheidung für Affinität von einigen recht schnell abgetan wird, als ob es um eine in ihren eigenen Ideen festgefahrene Beziehung ginge, eine Beziehung, die keinen Kontakt mit der Realität und nicht einmal mit Kameraden erlauben würde. Andere wiederum tragen sie wie ein Banner vor sich her, wie eine Parole – und wie bei allen Parolen ist es gewöhnlich die eigentliche, die tiefe und antreibende Bedeutung, die ihr erstes Opfer ist. 

 

Keine menschliche Aktivität ist möglich ohne Organisation, zumindest wenn wir unter „Organisation“ die Koordination von mentalen und physischen Anstrengungen verstehen, die für notwendig erachtet werden um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Aus dieser Definition können wir einen wichtigen Aspekt ableiten, der oft vergessen wird: Organisation ist funktional, sie zielt auf die Realisierung von etwas ab, auf Aktion im weitesten Sinne des Wortes. Diejenigen, die heute jeden einfach nur dazu aufrufen, sich zu organisieren, weil ihnen klare Ziele fehlen, jedoch gleichzeitig erwarten, dass sich aus diesem ersten Moment der Organisation der ganze Rest automatisch entwickelt, diejenigen erheben das sich Organisieren zum Ziel in sich. Im besten Falle hoffen sie vielleicht, dass daraus eine Perspektive entsteht, die sie nicht fähig sind sich selbst vorzustellen oder auch nur ungefähr zu entwerfen, die aber nur in einer Art der kollektiven und organisierten Umgebung möglich und greifbar wird. Nichts ist weniger wahr. Eine Organisation ist fruchtbar, wenn sie nicht von einer banalen quantitativen Präsenz genährt wird, sondern von Individuen, die sie nutzen um ein gemeinsames Ziel zu realisieren. Mit anderen Worten: Es ist es zwecklos zu glauben, dass wir nur indem wir uns organisieren, die Frage des wie, was, wo und warum wir kämpfen durch die Magie des Kollektivs lösen können. Im besten Fall – oder im schlechtesten, abhängig vom Standpunkt – findet man viel, kann man vielleicht auf einen Zug aufspringen, der schon von jemandem gezogen wird und sich einfach mit der eher unangenehmen Rolle des Anhängers abfinden. So ist es nur eine Frage der Zeit bis man der Organisation überdrüssig wird und unbefriedigt mit dieser bricht.

 

Organisation ist also dem untergeordnet, was man machen will. Für Anarchisten muss es außerdem den direkten Zusammenhang geben, der zwischen dem, was man machen will, dem Ideal für das man kämpft und dem Weg es zu erreichen, existieren muss. Trotz der gegenwärtigen Verschleierung und Wortklauberei, auf mehr oder weniger marxistischen Irrwegen, werden Parteien für ein angebrachtes Mittel gehalten, um politische Parteien zu bekämpfen. Man hört heute immer noch die fortgeschrittene politische Behauptung, dass Produktionskräfte ein Weg sind, um kapitalistische Beziehungen zu beenden, und das in Zeiten, in denen jeder das Ausmaß des industriellen Desasters vor Augen hat. Einige wollen Maßnahmen ergreifen, um alle anderen Maßnahmen überflüssig zu machen. Anarchisten haben nichts mit dieser Art von Zaubertricks zu tun, für sie müssen die Ziele mit den Mitteln übereinstimmen. Autorität kann nicht mit autoritären Organisationsformen bekämpft werden. Diejenigen, die ihre Zeit damit verbringen, die Feinheiten der Metaphysik peinlich genau zu untersuchen und darin ein Argument gegen den Gebrauch von Gewalt erwarten, ein Alibi oder eine Kapitulation von Seiten der Anarchisten, zeigen dadurch vor allem ihr tiefes Bedürfnis nach Ordnung und Harmonie. Jede menschliche Beziehung ist konfliktreich, was nicht bedeutet, dass sie deshalb zwingend autoritär ist. Über solche Fragen in absoluten Ausdrücken zu sprechen ist bestimmt schwierig, aber das heißt nicht, dass die Spannung zu Kohärenz kein grundlegendes Erfordernis ist.

 

Wenn wir heute denken, dass Affinität und Affinitätsgruppen die angemessenste Form für den Kampf und anarchistische Intervention in die soziale Konfliktualität sind, liegt das daran, dass eine solche Überlegung sehr stark damit zusammenhängt, wie wir diesen Kampf und diese Intervention verstehen.

 

Es existieren in der Tat zwei Wege, um dieser Frage zu begegnen, zwei Wege, die zwar nicht diametral entgegengesetzt sind, die aber auch nicht vollkommen übereinstimmen.

 

Zum einen ist da der nicht zu vernachlässigende Bedarf nach Kohärenz. Es stellt sich demnach die Frage, in welchem Maßstab bestimmte anarchistische Organisationsformen (zum Beispiel Syntheseorganisationen mit Programmen, Deklarationen von Prinzipien und Kongressen, wie anarchistische Föderationen oder anarcho-syndikalistische Strukturen) unserer Idee des Anarchismus entsprechen.

 

Zum anderen die Frage der Tauglichkeit bestimmter organisatorischer Strukturen. Diese Tauglichkeit setzt die Frage mehr in den Kontext historischer Bedingungen, Ziele die erreicht werden wollen (also der organisatorischen Formen, die man am geeignetsten dafür hält) der Analyse der sozialen und ökonomischen Situation... Anstelle von großen Föderationen hätten wir, auch in anderen Zeiten, kleine autonome und agile Gruppen bevorzugt. Aber was die Angemessenheit an die Situation betrifft,kann man nur schwer von vorneherein ausschließen, dass unter bestimmten Bedingungen die Wahl spezifischer und föderierter anarchistischer Organisationen des Kampfes, einer Guerilla-Konstellation,... bestimmte Bedürfnisse ansprechen kann (oder eher hätte können).

 

Wir denken, dass der Beitrag zu aufständischen Brüchen oder deren Entwicklung heute die angemessensten anarchistischen Interventionen sind, um gegen Herrschaft zu kämpfen. Unter aufständischen Brüchen verstehen wir bewusst herbeigeführte Brüche, wenn auch temporärer Natur, in Zeit und Raum der Herrschaft, deshalb notwendigerweise einen gewaltvollen Bruch. Obwohl solche Brüche auch einen quantitativen Aspekt haben (weil soziale Phänomene nicht auf eine beliebige Aktion einer Hand voll Revolutionärer reduziert werden können), zielen sie auf die Qualität der Konfrontation ab. Sie zielen auf Machtstrukturen und -beziehungen, brechen mit deren Zeit und Raum und erlauben durch die Erfahrungen und angewendeten Methoden zur Selbst-Organisation und direkten Aktion immer mehr Aspekte der Herrschaft zu hinterfragen und anzugreifen. Kurz gesagt, erscheinen uns die aufständischen Brüche notwendig auf dem Weg in eine revolutionäre Transformation des Bestehenden.

 

Aus all dem leitet sich logischerweise die Frage ab, wie Anarchisten sich organisieren können, um zu einem solchen Bruch beizutragen. Ohne die stets wichtige Verbreitung anarchistischer Ideen aufzugeben, geht es unserer Meinung nach heutzutage nicht darum, um jeden Preis möglichst viele Leute um den Anarchismus zu versammeln. Mit anderen Worten denken wir nicht, dass starke anarchistische Organisationen nötig sind, deren Einfluss Ausgebeutete und Ausgeschlossene anzieht, ein quantitatives Vorspiel für diese Organisationen, die wiederum (wenn die Zeit reif ist) das Signal für den Aufstand geben werden. Darüber hinaus denken wir, dass es undenkbar ist, dass heutzutage aufständische Brüche von Organisationen ausgehen können, die die Interessen einer bestimmten sozialen Gruppe vertreten, ausgehend von zum Beispiel mehr oder weniger anarcho-syndikalistischen Formen. Die Integration solcher Organisationen ins demokratische Management entspricht tatsächlich perfekt der heutigen kapitalistischen Ökonomie. Eben diese Integration, hat jeden erhofften Übergang von einer defensiven Position zur Offensive unmöglich gemacht. Abschließend scheint es uns auch unmöglich, dass heutzutage eine starke „Verschwörung“ fähig sein könnte, durch chirurgische Operationen die Herrschaft ins Wanken zu bringen und die Ausgebeuteten in das aufständische Abenteuer mitzunehmen, jenseits aller Einwände, die man gegen diesen Weg die Dinge zu betrachten haben könnte. In historischen Kontexten, in denen die Macht sehr zentralisiert war, so wie in Russland unter der Zarenherrschaft, konnte man sich noch irgendwie die Hypothese des direkten Angriffs gegen das Herz (in diesem Fall die Ermordung des Zaren) als ein Vorspiel für eine generalisierte Revolte vorstellen. In einem Kontext der dezentralisierten Macht wie wir ihn kennen, kann es nicht länger darum gehen, in ein Herz zu stoßen, nicht mehr, als man sich ein Szenario vorstellen kann, in dem ein gezielter Schuss die Herrschaft in ihren Fundamenten erschüttern könnte (was offensichtlich einem gut gezielten Schuss seine Gültigkeit nicht nehmen kann). Deshalb sollten andere Pfade erkundet werden.

 

 

Affinität und Affinitätsgruppen

 

Viele schrecken vor Affinität zurück. Es ist in der Tat sehr viel einfacher und weniger anstrengend, irgendwo beizutreten – sei es einer Organisation, einer permanenten Versammlung oder einer Szene – und deren formale Charakteristiken aufzunehmen und zu reproduzieren, anstatt eine lange und nie ausgereizte Suche nach Kameraden durchzuführen um Ideen, Analysen und eventuelle Projekte zu teilen. Denn Affinität ist genau dies: Ein wechselseitiges Wissen zwischen Kameraden, geteilte Analysen, die zu Perspektiven der Aktionen führen. Affinität zielt deshalb einerseits auf theoretische Vertiefung und andererseits auf Intervention innerhalb der sozialen Konfliktualität ab.

 

Affinität ist radikal qualitativ. Ihr Ziel ist das Teilen von Ideen und Methoden und nicht das endlose Wachstum. Dennoch scheint die größte Sorge vieler Kameraden, wenn auch gut versteckt, die Zahl der Mitstreiter zu sein. Wie viele sind wir? Wie können wir handeln um zahlreicher zu werden? Aus der Konzentration auf diese Frage und der Feststellung, dass wir heute nicht sehr viele sind, was auch damit zusammenhängt, dass viele unsere Ideen nicht teilen (nein, auch nicht unbewusst), können wir folgern, dass wir, um zahlreicher zu werden, vermeiden sollten, einen zu starken Akzent auf bestimmte Ideen zu legen. Dieser Tage sind diejenigen rar, die immer noch versuchen, Mitgliedskarten für irgendwelche revolutionäre Organisationen zu verkaufen, deren Zweck quantitatives Wachstum ist und die danach streben, immer mehr Ausgebeutete zu repräsentieren. Umso mehr denken, der beste Weg, andere kennenzulernen bestehe in, „Konsens“-Aktivitäten, wie zum Beispiel Workshops, Konzerte, selbst verwaltete Bars etc. Sicherlich können solche Aktivitäten ihren Platz haben, aber wenn wir die Vertiefung der Affinität betrachten, geht es um etwas anderes. Affinität ist nicht das gleiche wie Freundschaft. Natürlich schließen sich die beiden nicht aus, aber nur weil man bestimmte Analysen miteinander teilt heißt das nicht, dass man auch miteinander schläft, und umgekehrt. Genau wie es auch nicht bedeutet, auf dem gleichen Weg gegen Herrschaft kämpfen zu wollen nur weil man die gleiche Musik hört.

 

Die Suche nach Affinität spielt sich auf zwischenmenschlicher Ebene ab. Es handelt sich also nicht um eine kollektive Angelegenheit, eine Sache der Gruppe, wo es immer einfacher wäre, zu folgen, als selbst zu denken. Die Vertiefung der Affinität ist offensichtlich eine Sache des Gedankens und der Aktion, aber im Grunde ist Affinität nicht das Resultat einer gemeinsam ausgeführten Aktion sondern eher der Ausganspunkt um zur Aktion zu schreiten. Okay, das haben wir verstanden, werden einige erwidern, aber das heißt dann, dass ich viele Leute nicht kennenlernen werde, die gute Kameraden sein könnten, denn auf gewisse Art und Weise würde ich mich selbst mit meiner Affinitätsgruppe von allen anderen isolieren. Es ist richtig, dass die Suche nach und die Vertiefung der Affinität viel Zeit und Energie erfordern und dass es deshalb nicht möglich ist, sie mit allen Kameraden zu generalisieren. Die anarchistische Bewegung eines Landes, einer Stadt oder sogar eines Viertels kann nicht zu einer großen Affinitätsgruppe werden. Es geht nicht darum verschiedene Affinitätsgruppen mit immer mehr Kameraden zu vergrößern, sondern darum eine Vervielfachung von autonomen Affinitätsgruppen möglich zu machen. Die Suche, die Ausarbeitung und die Vertiefung der Affinität führen zu kleinen Gruppen von Kameraden die einander kennen, Analysen teilen und gemeinsam zur Aktion übergehen.

 

Der Aspekt „Gruppe“ einer Affinitätsgruppe wurde regelmäßig kritisiert, sowohl zu Unrecht, als auch zu Recht. Oft gibt es Kameraden, die den Gedanken der Affinität teilen. Aber sehr viel komplizierter wird es, wenn wir über „Gruppen“ sprechen, die einerseits über einen zwischenmenschlichen Aspekt hinausgehen, andererseits jedoch das „Wachstum“ begrenzen. Die Ein­wände bestehen meistens daraus, die schädlichen Mechanismen des „intern / extern“, des „innen / außen“, das solche Affinitätsgruppen generieren können, zu unterstreichen (wie zum Beispiel das Aufgeben des eigenen Pfades um anderen zu folgen, die Starre und die Mechanismen, die daraus entstehen können, wie z.B. bestimmte Formen des Wettbewerbs, der Hierarchie, Gefühle der Überlegen- und Unterlegenheit, Angst...) Aber dies sind Probleme, die in jeder Organisation vorkommen und nicht exklusiv mit Affinität einher gehen. Es geht also eher darum, zu reflektieren, wie die Suche nach Affinität eine Expansion, eine Verbreitung und Multiplikation zur Folge haben kann statt eine Stagnation und Paralyse zu verursachen.

 

Eine Affinitätsgruppe ist nicht das gleiche wie eine „Zelle“ einer Partei oder eine urbanen Guerillaformation. Da die Suche nach ihr permanent ist, entfaltet sich Affinität in Permanenz. Sie kann „wachsen“ bis zu dem Punkt, dass ein gemeinsames Projekt möglich wird, andererseits kann sie sich auch „verkleinern“ bis es unmöglich wird, irgendetwas zusammen zu machen. Das Archipel der Affinitätsgruppen verändert sich deshalb konstant. Auf diese konstante Veränderung wird von Kritikern oft hingewiesen: Man kann nicht darauf aufbauen da es keine stabile Konstellation ist. Wir sind vom Gegenteil überzeugt: man kann nichts rund um organisatorische Formen aufbauen, die sich um sich selbst drehen, weg von den Individuen die Teil davon sind. Denn früher oder später, bei ersten Rückschlägen, werden ohnehin Entschuldigungen und Ausflüchte auftauchen. Der einzig fruchtbare Boden auf dem wir bauen können ist die gemeinsame Suche nach Affinität.

 

Schlussendlich wollen wir noch aufzeigen, dass ein weiterer Vorteil dieser Form der Organisation ihre starke Widerstandsfähigkeit gegen repressive Maßnahmen des Staates ist, da sie keine repräsentative Basteien, Strukturen oder Namen zu verteidigen hat. Während starre Formationen und große Organisationen aufgrund ihrer Statik praktisch mit einem Schlag zerstört werden können, bleiben Affinitätsgruppen agil und dynamisch, selbst wenn die Repression zuschlägt. Da Affinitätsgruppen auf einem wechselseitigen Wissen und Vertrauen basieren, ist das Risiko der Unterwanderung, der Manipulation und des Verrats viel stärker begrenzt, als in großen Organisationsstrukturen, zu denen Leute formell beitreten oder in vager Umgebung, wo es lediglich notwendig ist, bestimmtes Verhalten zu reproduzieren um dazu zu gehören. Affinität ist eine sehr schwer zu korrumpierende Basis, eben weil sie von Ideen ausgeht und sich entlang dieser entfaltet.

 

 

Informelle Organisation und Projektualität

 

Wir glauben, dass Anarchisten die größte Freiheit in Autonomie und Bewegung haben, um in soziale Konflikutalität zu intervenieren, indem sie sich selbst in kleinen auf Affinität basierenden Gruppen organisieren, statt in großen Formationen oder in quantitativen Organisationsformen. Natürlich ist es wünschenswert und oft auch notwendig, dass diese kleinen Gruppen fähig sind zu einem gegenseitigen Verständnis zu gelangen. Und nicht um sich in ein Moloch oder eine Phalanx zu verwandeln, sondern um spezifische und gemeinsame Ziele zu realisieren. Deshalb bestimmen diese Ziele die Intensität der Kooperation, der Organisation. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass eine Afffinitätsgruppe eine Demonstration organisiert, aber in vielen Fällen ist die Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen wünschenswert und notwendig um ein spezifisches, zeitlich begrenztes Ziel zu realisieren. Die Kooperation kann auch intensiver sein, im Falle eines mittelfristigen Kampfes, wie zum Beispiel ein spezifischer Kampf gegen eine Machtstruktur (der Bau eines Abschiebezentrums, eines Knastes, eines Atomkraftwerks...). In diesem Fall könnte man von informeller Organisation sprechen. Organisation, weil es um Koordination von Wille, Mitteln und Kapazitäten der verschiedenen Affinitätsgruppen und Individuen geht, die ein zeitlich begrenztes spezifisches Projekt teilen. Informell, weil es nicht darum geht, irgendeinen Namen zu vermarkten, die Organisation in ihrer Quantität zu stärken, ihr formell beizutreten oder sich einem Programm oder einer Deklaration von Grundsätzen zu verschreiben, sondern um eine agile und lockere Koordination, um den Bedürfnissen eines Projekts des Kampfes gerecht zu werden.

 

In gewisser Weise findet informelle Organisation auch auf der Basis von Affinität statt, aber sie geht über den interindividuellen Charakter hinaus. Sie existiert nur in der Präsenz einer gemeinsamen Projektualität. Eine informelle Organisation ist deshalb direkt in Richtung Kampf orientiert, und kann nicht unabhängig von ihm existieren. Wie wir vorher erwähnten, hilft sie gewissen Anforderungen eines Projekts des Kampfes gerecht zu werden, die von einer einzelnen Affinitätsgruppe nicht oder nur schwer allein gestemmt werden können. Sie kann beispielsweise die Mittel die wir als notwendig erachten, zugänglich machen. Deshalb hat die informelle Organisation nicht das Ziel, alle Gefährten unter einer Flagge zu vereinen, oder die Autonomie der Affinitätsgruppe und Individualitäten zu reduzieren, sondern dieser Autonomie einen Dialog zu ermöglichen. Es geht bei informeller Organisation nicht darum, alles gemeinsam zu machen, sie ist vielmehr ein Werkzeug, um einem gemeinsamen Projekt durch die spezifischen Interventionen von Affinitätsgruppen und Individualitäten Gestalt zu geben.

 

Was bedeutet es ein Projekt zu haben? Anarchisten wollen die Zerstörung jeder Autorität, wir können also davon ausgehen, dass sie permanent Wege suchen, um dieses Ziel zu erreichen. Mit anderen Worten, ist es sicherlich möglich Anarchist und aktiv zu sein, ohne ein spezifisches Projekt des Kampfes zu haben. Tatsächlich ist es das, was im Allgemeinen passiert. Entweder Anarchisten folgen den Anweisungen der Organisation, der sie angehören (das scheint der Vergangenheit anzugehören), oder sie warten auf Kämpfe, an denen sie teilnehmen können, oder sie versuchen so viele anarchistische Aspekte wie möglich in ihr tägliches Leben einzubringen. Keine dieser Haltungen lässt die Anwesenheit einer realen Projektualität vermuten – was, um es klarzustellen, diese Gefährten nicht weniger anarchistisch macht. Ein Projekt basiert jedoch auf der Analyse des sozialen, politischen und ökonomischen Kontextes, in dem man sich selbst befindet, und von dem ausgehend man eine Perspektive entwirft, die einem erlaubt, kurz- oder mittelfristig zu intervenieren. Deshalb umfasst also ein Projekt Analysen, Ideen und Methoden, koordiniert um ein Ziel zu erreichen. Man kann beispielsweise eine anarchistische Zeitung veröffentlichen, weil man Anarchist ist und seine Ideen verbreiten will. Okay, aber für einen projektuellerern Ansatz bräuchte man eine Analyse der Bedingungen, in denen diese bestimmte Form der Publikation als angemessen erachtet wird, um in die Konflikualität zu intervenieren. Man kann sich dazu entscheiden, gegen Abschiebungen zu kämpfen, gegen die Verschlechterung der Überlebensbedingungen, gegen Knäste... weil all diese Dinge einfach unvereinbar mit seinen Ideen sind. Ein Projekt zu entwickeln würde eine Analyse erfordern um zu verstehen, wo eine anarchistische Intervention am interessantesten wäre, welche Methoden zu nutzen wären, wie man sich vorstellen könnte, einen Impuls oder eine Intensivierung der konfliktuellen Spannung in einer bestimmten Zeitspanne auszulösen. Es ist selbstverständlich, dass solche Projekte oft der Anlass sind, sich informell, in einer Koordination der verschiedenen Gruppen und anarchistischen Individualitäten, zu organisieren.

 

Deshalb kann eine informelle Organisation nicht gegründet, gebildet oder abgeschafft werden. Sie wird auf einem komplett natürlichen Weg geboren, erfüllt die Bedürfnisse eines Projekts des Kampfes und verschwindet wenn das Projekt realisiert ist oder es als nicht mehr möglich oder nicht mehr angemessen zu realisieren bewertet wird. Sie stimmt nicht mit der Gesamtheit des gerade stattfindenden Kampfes überein: die vielen organisatorischen Formen, die verschiedenen Treffpunkte, die Versammlungen etc. die vom Kampf produziert wurden, werden unabhängig von der informellen Organisation weiterexistieren, was nicht heißt, dass Anarchisten nicht auch dort präsent sein können.

 

 

Die „Anderen“

 

Bis jetzt haben wir hauptsächlich über organisatorische Formen unter Anarchisten gesprochen. Ohne Zweifel, liefern viele Revolten wichtige Vorschläge, die Parallelen zu dem aufweisen, was wir gerade sagten. Nehmen wir zum Beispiel die Revolten der letzten Jahre in bestimmten Metropolen. Viele Rebellen organisieren sich in kleinen agilen Gruppen. Oder denken wir an die Erhebungen auf der anderen Seite des Mittelmeers. Dort gab es keinen Bedarf an einer starken Organisation oder irgendeine Repräsentation der Ausgebeuteten um die diese Erhebungen zu entfachen, ihr Rückgrat war die Vielzahl an Formen informeller Selbstorganisation. Selbstverständlich äußerten wir uns hier nicht zum Inhalt“ dieser Revolten aber ohne eher antiautoritäre organisatorische Formen wäre es komplett undenkbar gewesen, dass sie diese freiheitliche und libertäre Richtung genommen hätten.

 

Es ist Zeit sich ein für alle Mal von allen politischen Reflexen zu verabschieden, umso mehr in diesen Zeiten wenn Revolten nicht (oder nicht mehr) die Reaktion auf politische Vorrechte sind. Aufstände und Revolten dürfen nicht gelenkt werden, weder von Autoritären noch von Anarchisten. Sie verlangen nicht danach, in großen Formationen organisiert zu werden. Das bedeutet nicht, dass unser Beitrag zu solchen Events, wirklich sozialen Phänomene, nicht nur einfach spontan bleiben kann, falls er qualitativer Natur sein soll – er verlangt also eine gewisse Menge an Organisation und Projekutalität. Aber die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen brauchen keine Anarchisten um zu revoltieren und aufzubegehren. Wir können lediglich ein zusätzliches Element sein, willkommen oder nicht, eine qualitative Präsenz. Das aber trotzdem wichtig bleibt, falls wir die aufständischen Brüche in eine anarchistischen Richtung stoßen wollen.

 

Auch wenn die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen sehr wohl in der Lage sind, ohne Anarchisten und deren Eingreifen zu revoltieren, sind wir trotzdem nicht bereit, auf Punkte und ein Terrain zu verzichten, auf dem wir mit ihnen gemeinsam kämpfen können. Diese Punkte und dieses Terrain sind keine „natürlichen“ oder „automatischen“ Konsequenzen der jeweils aktuellen Bedingungen. Die Zusammenarbeit von Affinitätsgruppen, wie informelle Organisation von Anarchisten und Ausgebeuteten, die bereit sind zu kämpfen, funktioniert am besten im Kampf selbst, oder zumindest in der Vorbereitung des Kampfes. Die Notwendigkeit anarchistische Ideen zu verbreiten und zu vertiefen ist unbestreitbar und in keinem Moment sollten wir sie verstecken, sie in den Hintergrund stellen, oder sie im Namen irgendeiner Strategie verschleiern. Dennoch geht es in einem Projekt des aufständischen Kampfes nicht darum, die größte Menge an Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen zu den eigenen Ideen zu konvertieren, sondern darum, Erfahrungen des Kampfes mit anarchistischer und aufständischer Methodologie (Angriff, Selbst-Organisierung und permanente Konfliktualität) möglich zu machen. Je nach Hypothese und Projekt muss in der Tat über die organisatorischen Formen nachgedacht werden, die die Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und denjenigen, die auf einer radikalen Ebene kämpfen wollen, annehmen kann. Diese organisatorischen Formen können sicherlich nicht ausschließlich anarchistische Konstellationen sein, da auch andere Rebellen mitwirken. Sie dienen folglich nicht dazu, Anarchismus zu verbreiten, sondern sollen dem aufständischen Kampf Gestalt und Substanz geben.

 

Einige Texte, die durch viel Erfahrung entstanden sind, sprechen von „Basiskernen“, die im Rahmen eines spezifischen Projektes des Kampfes entstanden sind, sie sind organisatorische Formen, die auf den drei fundamentalen Charakteristiken der aufständischen Methodologie basieren. Anarchisten nehmen daran Teil, aber zusammen mit anderen. In gewisser Weise sind sie vor allem ein Anhaltspunkt (nicht des Anarchismus, sondern des stattfindenden Kampfes). Sie sind so etwas wie die Lungen des aufständischen Kampfes. Wenn dieser Kampf intensiv ist, besteht sie aus vielen Leuten, wenn er abkühlt, werden es weniger. Wie man solche organisatorischen Formen nennt ist kaum oder gar nicht wichtig. Aber innerhalb eines Projekts des Kampfes muss man erkennen, ob solche organisatorischen Formen vorstellbar und notwendig sind. Wir müssen nochmals unterstreichen, dass es nicht um Kollektive, Komitees, Stadtviertelversammlungen, etc. geht, die im Voraus gebildet wurden um fortzubestehen und deren Gründung (aufgrund der vorhandenen institutionellen Elemente) selten anti-politisch und autonom ist. Die „Basiskerne“ bilden sich während eines Projekts des Kampfes und haben nur einen bestimmten Zweck: angreifen und einen Aspekt der Herrschaft zerstören. Sie sind folglich keine para-gewerkschaftlichen Organisationen die die Interessen einer sozialen Gruppe vertreten (Arbeitslosenkomitees, Studentenversammlungen...), sondern Gelegenheiten der Organisation die auf Angriff zielen. Die Erfahrungen der Selbst-Organisation und des Angriffs garantieren ganz offensichtlich in keinster Weise, dass in einem zukünftigen Kampf die Ausgebeuteten keine institutionellen Elemente mehr begrüßen oder tolerieren würden. Aber ohne diese Erfahrungen wären diese Reaktionen praktisch unvorstellbar.

 

Zusammenzufassend ist zu sagen, dass es unserer Meinung nach nicht darum geht, Organisationen aufzubauen, die „die Massen anziehen“ oder sie organisieren, sondern darum, konkrete Vorschläge des Kampfes zu entwickeln und sie in die Praxis umzusetzen. Innerhalb dieser Vorschläge des aufständischen Kampfes muss man also über die organisatorischen Formen nachdenken, die als notwendig und angemessen betrachtet werden, um den Vorschlag des Angriffs zu realisieren. Wir unterstreichen noch einmal, dass diese organisatorischen Formen nicht notwendigerweise Strukturen mit Treffen, Plätzen der Auseinandersetzung etc. aufweisen müssen, aber dass diese ebenso direkt auf den Straßen, in Momenten des Kampfes entstehen können. An bestimmten Orten, kann es beispielsweise einfacher sein, „Anhaltspunkte“ oder einen „Basiskern“ mit anderen Ausgebeuteten zu bilden, indem man die Routine unterbricht, eine Barrikade auf der Straße baut... als zu warten bis alle zu einem vereinbarten Treffen kommen, um über den möglichen Bau einer Barrikade zu diskutieren. Diese Aspekte können nicht komplett dem Zufall und der Spontanität überlassen werden. Eine Projektualität erlaubt es, über sie nachzudenken und unterschiedliche Möglichkeiten und ihre Bedeutung auszuwerten.

 

 

Kurz

 

Wenn es nicht mehr darum geht, wie man Menschen für den Kampf organisieren kann, ist die neue Frage, wie man den Kampf organisieren kann. Wir denken, dass Archipele aus voneinander unabhängigen Affinitätsgruppen, die gleiche Perspektiven und konkrete Projekte des Kampfes haben, der beste Weg sind, um direkt in die Offensive zu gehen. Diese Konzeption bietet die größte Autonomie und das breiteste Spektrum möglicher Aktionen. Im Rahmen aufständischer Projekte ist es nötig und möglich, Wege der informellen Organisation zu finden, die die Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und anderen Rebellen erlauben, Formen der Organisation, die nicht dazu gedacht sind fortzudauern, sondern auf ein spezifisches und aufständisches Ziel ausgerichtet sind.

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"Anarchisten haben nichts mit dieser Art von Zaubertricks zu tun, für sie müssen die Ziele mit den Mitteln übereinstimmen."

Ich bin dieser Meinung nicht. Wenn ihr dieser Meinung seid, warum seid ihr dann für den Aufstand? Die Mittel können nicht immer mit den Zielen übereinstimmen.