Eine Einführung in post-zivilisiertes Denken

Von postzivilisiertem Leben

Nimm, was du brauchst, und schmeiß den Rest zum Kompost, oder: Eine Einführung in post-zivilisiertes Denken
Das Ding mit der Zivilisation war spannend, oder? Ich meine, es war auf jeden Fall einen Versuch wert. Die Zivilisation hat uns eine Menge gebracht: Teleskope, Rollstühle, Wikipedia. Nur hat sie dabei die Natur an den Rande des Abgrunds getrieben. Wissenschaft, Ackerbau und Arbeitsteilung haben uns geholfen, unsere Kultur und Kommunikation weiterzuentwickeln, aber Genoziden und Ökoziden waren sie noch dienlicher. Es scheint daher an der Zeit, das ambitionierte, aber gescheiterte Experiment der Zivilisation aufzugeben und nach etwas Neuem Ausschau zu halten.

 

Erste Voraussetzung: Wir hassen die Zivilisation


Die Zivilisation ist nicht nachhaltig. Es scheint unmöglich, sie zu retten. Noch wichtiger: das wäre auch nicht wünschenswert. Wenn wir von "Zivilisation" sprechen, dann sprechen wir von den Organisationsformen und kulturellen Ausdrucksweisen der modernen Welt; wir sprechen von den juristischen und gesellschaftlichen Regeln, die uns "richtiges" Verhalten vorschreiben; wir sprechen von den zentralistischen und totalitären Ansprüchen des politisch-ökonomischen Imperiums.

Die Zivilisation zerstört alle Lebensformen der Erde. Es überrascht nicht, dass sie nicht nachhaltig ist – wachstumsorientierte Wirtschaftssysteme und Gesellschaften sind das nie. Die Möglichkeiten, die Zivilisation ohne Überkonsumption ihrer Ressourcen aufrechtzuerhalten, gehen gegen Null. Und selbst wenn es welche gäbe, würden wir sie nicht wahrnehmen wollen. Unsere Freiheit wäre dann weiter eingeschränkt.

Die Zivilisation ist auf alle möglichen Arten definiert worden, aber keine Definition ist attraktiv. In meinem Wörterbuch steht, dass die Zivilisation "die am meisten fortgeschrittene Form gesellschaftlicher Entwicklung und Organisation" sei. Abgesehen davon, dass das eine ziemlich nutzlose Definition ist, verweist sie auf eine implizite Voraussetzung der Zivilisation: "Wir sind fortgeschritten, ihr seid primitiv. Geschichte und Entwicklung sind linear, Fortschritt ist eindimensional, und jede Abweichung davon ist regressiv."

Eine weitere Standarddefinition von "Zivilisation" lässt sich auf Wikipedia finden, dem Schmelztiegel des gesellschaftlichen Konsenses. Hier wird die Zivilisation beschrieben als "eine komplexe Gesellschaft, die von Ackerbau und Urbanität gekennzeichnet ist. ... Im Vergleich zu weniger komplexen Gesellschaften gehen Menschen spezifischen Arbeitsaufgaben nach und es existieren hierarchische Organisationsformen." Auch diese Definition verweist auf ein grundlegendes Problem der Zivilisation: "Hierarchische Organisationsformen"? Was soll das? Warum lassen sich Menschen so etwas gefallen?

Derrick Jensen, ein Zivilisationskritiker (wenn auch kein post-zivilisatorischer) bietet folgende Definition der Zivilisation an: "Eine Kultur – das heißt, ein Komplex von Erzählungen, Institutionen und Waren –, die zur Urbanisierung führt und von dieser reproduziert wird. (Zivil kommt vom Lateinischen civis bzw. von civitas, was Stadtstaat bedeutet.)" Diese Definition wirft die nächste Frage auf: Was ist eine Stadt? Derrick definiert sie als Ort, an dem "Menschen mehr oder weniger permanent in einer Dichte leben, die hoch genug ist, um einen permanenten Import von Nahrung und anderen lebensnotwendigen Ressourcen zur Voraussetzung des Überlebens zu machen."

Das ist womöglich der entscheidende Punkt. Wenn ein Ort Ressourcen von einem anderen Ort benötigt, dann ist das an sich kein Problem – solange es etwas zum Tauschen gibt. Aber was ist, wenn es zu einer Dürre kommt und die Bauern und Bäuerinnen keinen Nahrungsüberschuss mehr haben, den sie tauschen können? Dann kommt es zu Krieg. Großartig.

Wir hassen die Zivilisation.

 

Zweite Voraussetzung: Wir sind keine Primitivist_innen


Es ist weder möglich noch wünschenswert, zu vor-zivilisierten Daseinsformen zurückzukehren. Der Großteil zivilisationskritischer Theorie wurde von Primitivist_innen formuliert. Diese haben enorm wichtige Arbeit geleistet. Sie glauben, grob gesagt, dass es für die Menschheit besser wäre, zu einem vor-zivilisierten Leben zurückzukehren. Diese Schlussfolgerung teilen wir nicht.

Primitivist_innen wenden sich gegen alle Formen von Technologie. Wir wenden uns nur gegen den falschen Einsatz von Technologie. Gut, wenn wir ehrlich sind, bedeutet dies in der Praxis, dass auch wir gegen fast alle Formen zivilisatorischer Technologie sind. Aber trotzdem denken wir, dass die primitivistische Kritik das Kind mit dem Bad ausschüttet. Es stimmt, dass die meisten Formen von Technologie üblen Zwecken dienen (etwa Krieg oder Ökozid), aber das macht nicht die Technologie selbst, bzw. "die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse für praktischen Nutzen", übel. Es bedeutet nur, dass wir einen neuen Umgang mit Maschinen, Werkzeugen und mit der Wissenschaft selbst entwickeln müssen. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was tatsächlich nützlich und nachhaltig ist, statt auf ökonomischen oder militärischen Wert.

Primitivist_innen sind gegen jede Form von Landwirtschaft. Wir sind nur gegen Monokulturen, die zentralisierend sind, regionale Unabhängigkeit zerstören, der Welt Globalisierung aufzwingen und zu fürchterlichen Praktiken wie der Brandrodung führen. Wir halten auch nichts von der Idee, sechs Milliarden Menschen zum Jagen und Sammeln in die Wälder zu schicken. Das ist keine Lösung des Ernährungsproblems. Einfach gesagt sind wir Post-Zivilisierten für Permakultur: für eine Landwirtschaft, deren regionale Nachhaltigkeit von Anfang an sichergestellt ist.

Primitivist_innen haben Großartiges geleistet, was die Darstellung der Probleme des zivilisierten Lebens betrifft. Dafür gebührt ihnen Anerkennung. Alles in allem jedoch ist ihre Kritik nicht sehr differenziert.

Besonders problematisch ist, dass die gesellschaftliche Struktur, die sie vor Augen haben, nämlich die Stammeskultur, sozialkonservative Tendenzen hat (wobei wir klarstellen wollen, dass die gängigen Kritiken der Stammeskultur auf falschen, eurozentrischen Annahmen beruhen): die Rolle strikter Gesetze wurde in vielen Stämmen von rigiden "Gebräuchen" übernommen und jede Generation hatte mehr oder weniger in die Fußstapfen der vorhergegangenen zu treten.

Milliarden von Menschen können nicht zu einer vor-zivilisierten Lebensweise zurückkehren. Und, ehrlich gesagt, die meisten von uns wollen das auch nicht. Einer kompletten Zurückweisung der Produkte der Zivilisation können wir daher nicht zustimmen. Wir müssen den Blick nach vorne richten, nicht nach hinten.

Wir sind keine Primitivist_innen.

 

Dritte Voraussetzung: Wir sind post-zivilisiert


Was wir brauchen, ist eine post-zivilisierte Kultur. Und mit dem Aufbau einer solchen lässt sich im Hier und Jetzt beginnen, inmitten der letzten Phase der Zivilisation.

Die Welt ist voll von falschen Dichotomien. Ob Musiker_innen ihr Geld mit der Musik verdienen können oder nicht, bestimmt nicht den Wert derselben – der Unterschied zwischen "Profis" und "Amateur_innen" ist hinfällig. Für Post-Zivilisierte spielt auch der Unterschied zwischen "allgemeinen" und "spezifischen" Fähigkeiten keine Rolle, wir müssen beide kombinieren. Wir brauchen Menschen, die Glas schleifen und Brillen produzieren können – aber das heißt nicht, dass diese Menschen nicht auch Kochen oder Unkraut-Jäten sollen.

Eines der größten Probleme der Zivilisation ist der Versuch, eine globale Kultur zu errichten bzw. ein Modell dafür zu entwerfen, wie alle möglichen Aufgaben – von der Administration über die Architektur und die Landwirtschaft bis zur Musik – richtig zu erledigen sind. Das macht keinen Sinn. Wenn du in einem kalten Klima Häuser mit Flachdächern baust, wird das Dach zusammenbrechen, sobald sich genug Schnee darauf angesammelt hat. Wenn du die Bäume auf einem Hang so fällst wie auf einer Ebene, wird es zu einem Erdrutsch kommen.

Wenn wir zu einer post-zivilisierten Lebensweise gelangen wollen (mit oder ohne industriellem Kollaps), müssen wir zuerst uns selbst, unsere Gemeinschaft und unsere Region studieren, um danach zu entscheiden, was für eine Lebensweise die angemessenste ist. Das heißt auch, dass wir heute Ressourcen anwenden können, die Produkte der Zivilisation sind und die es zwei Generationen nach dem Kollaps vielleicht nicht mehr geben wird. Für Menschen in der Ersten Welt ist die reichste dieser Ressourcen der Abfall.

Ein großer Teil der Nahrung, die weggeworfen wird, ist immer noch genießbar. Und verfaulte Nahrung kann kompostiert werden. Dieser Kompost lässt sich über die vergifteten Böden der Städte legen, um Gärten zu ermöglichen. Aus Papier, das nur teilweise (oder gar nicht) verwendet wurde, lassen sich Schreibblöcke machen. Verwendetes Papier können wir in einem Mixer zu Brei schlagen und mit einem hydraulischen Wagenheber zu neuem Papier pressen. Überfahrene Tiere können gehäutet und gegessen werden. Die Schaltplatten und Motoren von elektrischem Spielzeug sind für alles Mögliche anwendbar. Altes Pflanzenöl lässt sich aus Fettfiltern wiedergewinnen, um Autos oder auch Generatoren anzutreiben.

Kritiker_innen unserer Haltung pflegen zu sagen, dass das nicht ewig funktionieren kann. Sie haben völlig recht, doch sie übersehen eines unserer grundlegenden Prinzipien: wir passen uns an die jeweilige Situation an, die wir vorfinden. Das, was hier und heute funktioniert, kann natürlich nicht immer und überall funktionieren.

In der Logik der Zivilisation gibt es eine schrittweise Entwicklung: die Kultur breitet sich von den Zivilisierten zu den Wilden und von den Städten auf das Land aus. Wir sehen das anders.

Wir sind post-zivilisiert.

 

Wenn es nach uns ginge...


Wie sieht eine Stadt aus, die keine Stadt ist? Das Konzept der Stadt als eigene Einheit mit spezifischen Grenzen, zentralisierter Regierung und einem regelmäßigen Import von Waren muss verschwinden. Aber stattdessen werden wir nicht alle auf dem Land unsere Zelte aufschlagen. Gewiss nicht!

Die post-zivilisierte Stadt (oder die "Nicht-Stadt" oder der "urbane Raum" – das mit der Terminologie ist nicht so einfach) mag wie eine gegenwärtige Stadt aussehen, die ihre Regierung verloren hat. Sie wäre eine Sammlung kleiner Gruppen, die alle ihre Identität bewahren, aber zusammen für das gemeinsame Wohl arbeiten.

Wir Post-Zivilisierten wollen beweisen, dass die Dezentralisierung unserer Kultur, Wirtschaft und Politik sowohl möglich als auch erstrebenswert ist. Jede kleinere Gruppe würde ihre eigenen Entscheidungen treffen, ihre Unabhängigkeit bewahren und Probleme auf die Weisen lösen, die ihnen am besten passen. Manche mögen fortgeschrittene Technologie verwenden, um ihre Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, andere mögen in aller Einfachheit leben. Aber die Grenzen zwischen den Gruppen werden sehr durchlässig sein und Einzelne, Familien und Freundeskreise werden sich zwischen ihnen hin und her bewegen. Das Alltagsleben würde wohl dem heutigen ähneln, aber ohne die zivilisatorische Hierarchie und Zentralisierung.

Werden diese Gruppen jemals gegeneinander kämpfen? Wahrscheinlich. Kein System ist perfekt, und es ist besser, das offen zuzugeben, als es zu verleugnen. Wir malen hier keine Utopie an die Wand. Gleichzeitig gibt es historische Beispiele politischer Strukturen, die Gruppen mit unterschiedlichen Interessen erlauben, friedlich zusammenzuleben und gemeinsam zu arbeiten. So können wir etwa aus der Geschichte des Syndikalismus viele Lehren ziehen.

Der Syndikalismus überwindet den Gegensatz von Kapitalismus und Staatssozialismus. Er baut darauf auf, dass eine Föderation kollektivierter Gewerkschaften gegenseitige Hilfe unter ihren Mitgliedern fördert. Das erfolgreichste historische Beispiel dafür ist der Spanische Bürgerkrieg.

Gegenseitige Hilfe ist das Gegenteil des Wettbewerbs. Wikipedia beschreibt sie als "das ökonomische Konzept freiwilligen Tausches von Ressourcen und Dienstleistungen für das Wohl aller". Einer der frühesten Anarchist_innen, Peter Kropotkin, war auch einer der frühesten Evolutionstheoretiker_innen. Er wandte sich gegen Darwins Behauptung, dass der Naturzustand ein Krieg aller gegen alle sei. Kropotkin meinte stattdessen, dass die Kooperation zwischen den Arten in der Geschichte der Evolution eine mindestens ebenso starke Rolle spielte wie der Wettbewerb. Heute hat die moderne Wissenschaft endlich begonnen, dieser These Glauben zu schenken.

Wir lassen uns jedoch nicht auf den Syndikalismus reduzieren. Der Syndikalismus ist eine großartige Idee, aber es geht uns nicht um Gewerkschaften und um Industrialisierung. Wir verschreiben uns den Grundsätzen des historischen Anarchismus genauso wenig wie denen der Zweiten Welle des Feminismus oder der Zivilisation. Uns geht es um dynamische Gruppen von Menschen, die zusammenkommen, um gemeinsam die Nicht-Stadt zu gestalten.

Wir sprechen von den Steampunks, die ihre solarbetriebenen Schnapsbrennereien mit Fresnel-Linsen bereichern; wir sprechen von Fahrrad-Freaks, die aus Botendiensten Wettrennen machen und Fahrräder aus alten Röhren bauen; wir sprechen von semi-nomadischen Teenagern, die in verlassenen Vororten Ziegen hüten; wir sprechen von Einsiedler_innen, die in aufgestapelten Reifen Kartoffeln anpflanzen und klassisches Klavier auf Wachswalzen aufnehmen. Außerdem wird irgendwer sein Super Nintendo an ein Solarmodul anhängen und Menschen aller Art werden kommen, um Street Fighter zu spielen oder anderen dabei zuzusehen. Wir alle werden den größten Teil unserer Nahrung selbst anbauen und wir werden unseren eigenen Abfall entsorgen und unser eigenes Geschirr spülen.

 

Der Kollaps


Wenn es nach uns ginge, würden wir die Zivilisation so friedlich wie möglich verabschieden. Wir würden uns in Basisgruppen organisieren und mit überzeugenden Argumenten jene Herrschenden auf unsere Seite bringen, die noch so etwas wie ein ethisches Gewissen haben, während wir die Unverbesserlichen machtlos machen würden, sobald sich genug Menschen weigern, der zivilisatorischen Tauschordnung zu folgen.

Aber, um ehrlich zu sein, dieses Szenario ist nicht sehr wahrscheinlich. Unsere Gesellschaft ist auf einem Kollisionskurs mit der Geschichte. Die einzig relevante Frage ist wohl, was als erstes kollabieren wird: die industrielle Zivilisation oder das Vermögen der Erde, menschliches Leben zu erhalten? Von diesen beiden Möglichkeiten ist die erste die weit attraktivere. Und dementsprechend sollten wir handeln.

Der Kollaps der industriellen Zivilisation wird fürchterlich sein. Niemand von uns, auch nicht die, die heimlich auf diesen Kollaps hoffen, werden ihn genießen. Aber Hollywood lügt: Krisenzeiten bringen nicht das Schlechteste, sondern das Beste in Menschen hervor. Nichts führt die Menschen eines Stadtviertels so eng zusammen wie ein Stromausfall. Niemals wird so viel Nahrung geteilt wie im Falle eines Versorgungsmangels. (Denkt ihr wirklich, wir würden in so einer Situation alle auf unseren Vorräten sitzen, uns gegenseitig abknallen und die Häuser unserer Nachbar_innen anzünden? Das ist nicht zwangsläufig so. Was, glaubt ihr, was wir sind? Zivilisiert?)

Wenn das ökonomische System nicht zusammenstürzt und wir keine Möglichkeiten finden, eine kalte Fusion durchzuführen (und außerdem einen Weg, um die Ozeane wieder mit Fischen zu füllen), steht uns etwas viel, viel Schlimmeres bevor: ein ökologischer Zusammenbruch, der keinen Stein auf dem anderen lassen wird. Wenn manche von uns ihn überleben, werden wir nichts mehr so vorfinden, wie es einmal war.

Wenn die Zivilisation uns nicht zerstören soll, dann müssen wir sie zerstören – und zwar so bald wie möglich.

 

In der Zwischenzeit...


Wir wollen nicht mehr zivilisiert sein. Die Zeit für etwas Anderes ist gekommen. Wir wollen Hierarchien und wahnwitzige Wirtschaftssysteme überwinden, genauso wie Kolonialismus und Nationalstaaten. Aber "Aussteigen" ist nicht wirklich möglich. Die Zivilisation hat niemals – nicht ein einziges Mal in ihrer Geschichte – denjenigen Raum gelassen, die nicht zivilisiert sind. Die Angst, dass Menschen die Möglichkeit eines besseres Lebens beweisen können, ist so groß, dass die Zivilisation andere Lebensweisen schlicht nicht zulassen kann. Das ist ihr entscheidendes Merkmal.

Und selbst wenn ein paar von uns "aussteigen" könnten, würden wir damit die zivilisatorische Zerstörung der Erde aufhalten?

Aber lasst uns für einen Augenblick optimistisch sein und nicht zu sehr an die Zukunft denken. Unabhängig davon, ob die Erde zerstört wird oder nicht und ob die Zivilisation kollabieren wird oder nicht: was bleibt für uns im Hier und Jetzt zu tun?

Ich möchte hier nicht dazu auffordern, sich in einen epischen Kampf für die Rettung der Erde, die Zerstörung der Zivilisation oder den Kollaps von diesem oder jenem zu stürzen. Ethische Entscheidungen dieser Art müssen alle für sich selbst treffen.

Ich möchte jedoch für einen post-zivilisierten Lebensstil plädieren. Post-zivilisiertes Leben ist gar nicht so schwierig. Schließt eure Augen und stellt euch vor, wer ihr ohne gesellschaftliche Zwänge wärt. Was würdet ihr tun, wenn ihr nur von euch selbst abhängig wärt, von euren Freund_innen und von den Ressourcen, die ihr um euch herum findet? Was würdet ihr anziehen? Was würdet ihr essen? Vielleicht sind die wichtigsten Fragen subtiler: Wie würdet ihr eure Freund_innen behandeln? Wir würdet ihr gerne selbst behandelt werden?

Im Hier und Jetzt können wir Überlebenstechniken lernen: Häuten, Gerben und Kabelverlegen, Bogenschießen und das Produzieren von Schießpulver, Pflanzenheilkunde und Akupunktur, aber auch die Anwendung und Herstellung von Antibiotika, Chirurgie und Zahnheilkunde. Wir folgen den Prinzipien der Permakultur, entdecken unser wildes Inneres und verwenden alles Nützliche, das wir in Städten, Vororten und auf dem Land finden können. Wir lernen, in einer sterbenden Welt nachhaltig zu existieren. Wir verwandeln Rasen in Gärten und Autobahnen in Fahrradwege.

Wir lösen die Probleme in unserer Subkultur gemeinsam; wir lernen, mit physischen und sexuellen Übergriffen umzugehen, ohne die Polizei zu rufen; wir lernen, was Traumata sind (meist auf die harte Weise) und wie wir sie behandeln können; wir halten Hühner und Enten; wir essen Löwenzahn und Rohrkolben.

Wir leben so gut wir das können, ganz so, als wäre die Zivilisation eine schlechte Erinnerung, die bereits hinter uns liegt. Das – mehr als alle Texte – wird unsere effektivste Propaganda sein. Denn es ist möglich, auf diese Weise zu leben. Und, ja, es ist besser, auf diese Weise zu leben. Eine Mahlzeit bedeutet um vieles mehr, wenn du die Nahrung selbst angebaut oder gesammelt hast, und Freund_innen sind um vieles näher, wenn alle als Gleiche behandelt werden. Wir sind Wilde in Fracks. Wir nehmen das, was wir brauchen, und schmeißen den Rest zum Kompost.

 

Text von Margaret Killjoy

Übersetzung vom AAP-Kollektiv

Gedruckt erschienen in der Broschüre "Von post-zivilisiertem Leben und Städten, die keine sind. Visionen einer anarchistischen zukunft", erhältlich via Black Mosquito

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Dieser Planet hat - oder besser gesagt, hatte - ein Problem. Die meisten seiner Bewohner waren fast immer unglücklich. Zur Lösung dieses Problems wurden viele Vorschläge gemacht, aber die drehten sich meist um das Hin und Her kleiner bedruckter Papierscheinchen, und das ist einfach drollig, weil es im großen und ganzen ja nicht die kleinen bedruckten Papierscheinchen waren, die sich unglücklich fühlten.
Und so blieb das Problem bestehen. Vielen Leuten ging es schlecht, den meisten sogar miserabel, selbst denen mit Digitaluhren.
Viele kamen allmählich zu der Überzeugung, einen großen Fehler gemacht zu haben, als sie von den Bäumen heruntergekommen waren. Und einige sagten, schon die Bäume seien ein Holzweg gewesen, die Ozeane hätte man niemals verlassen dürfen.

Sehr schöner Beitrag, werd mir wohl auch aus Interesse den gesamten Text durchlesen, aber haltet ihr das wirklich für realistisch? Schon alleine die Städte, die keine mehr sind und in denen kleine Gruppen für das Allgemeinwohl sorgen... aus meiner Sicht unmöglich. Kapitalistisches Denken ist zu sehr verankert, ich mache doch nicht etwas für andere, nur aus Selbslosigkeit (bzw. sie machen ja auch etwas für mich... aber davon kann ich mir nichts kaufen ;) ) - Naja, mal gucken, was die Zukunft noch so bringt :)

du hast also keine freund_innen, denen du gerne hilfst? und es geht dir auch nicht schlecht, wenn du sie in schlechten zeiten erlebst und andersrum genießt du es auch nicht, gemeinsam eine gute zeit zu haben?

 

auf jeden fall danke für den text, würde mich über weitere diskussionen zu dem thema freuen. wie sieht es denn zum beispiel mit den ganzen aktuellen aufständen aus? vom post-kolonialen kontext bis zur sozialen peripherie der zivilisierten metropolen.

und was bedeutet das alles eigentlich für unsere radikalen praxen? (stichwort: "ziviler ! ungehorsam")

 

kann spontan diese beiden texte empfehlen:

https://linksunten.indymedia.org/de/node/62170

http://translationcollective.wordpress.com/2010/04/22/in-offener-feindsc...

 

und hier gibts noch mehr in english

http://tempestlibrary.com/?page_id=337

Aber was ist, wenn es zu einer Dürre kommt und die Bauern und Bäuerinnen keinen Nahrungsüberschuss mehr haben, den sie tauschen können? Dann kommt es zu Krieg. Großartig.

zunächst: ich halte das für eine falsche erklärung für "dann kommt es zu Krieg". und außerdem steht diese stelle doch im logischen widerspruch zu dieser:

Niemals wird so viel Nahrung geteilt wie im Falle eines Versorgungsmangels. (Denkt ihr wirklich, wir würden in so einer Situation alle auf unseren Vorräten sitzen, uns gegenseitig abknallen und die Häuser unserer Nachbar_innen anzünden? Das ist nicht zwangsläufig so. Was, glaubt ihr, was wir sind? Zivilisiert?)

die autorin dreht ihre behauptungen so hin wie es für sie passt: einmal ist es die logik der zivilisation und der stadt selbst, die bei nahrungsmittelmangel quasi automatisch einen krieg hervorbringt, in der zweiten stelle sind die menschen doch so gut, dass der mangel nicht nur nicht zum krieg fürht sondern sogar ihr bestes zum vorschein bringt! obwohl zivilisation und stadt nach wie vor besteht.

 

darin ist nicht nur ein durchsichtiger rhetorischer trick. es ist das zentrale problem: die menschen sind produkt ihrer gesellschaft - wie wollen sie selbst eine grundsätzlich andere gesellschaft produzieren? "wir hätten nicht die scheiße, die wir haben, wären wir nicht die scheiße, die wir sind." auf der suche nach der möglichkeit, dieses qualitativen sprungs in eine befreite gesellschaft sind sicherlich viele einzelschritte notwendig. dass hühner im autoreifen zu halten - und eigenhändig umzubringen, wie es der zivilisatorischen logik der tierhaltung entspricht, mit der die autorin anscheinend kein problem hat (nur um dieses faß auch noch aufzumachen) - zu diesen notwendigen schritten dazugehört, wage ich zu bezweifeln.

 

und der ständige fahrradhype nervt, echt.

die Textsammlung geht hier weiter:

 

https://linksunten.indymedia.org/de/node/87961