Über 700 Menschen haben am Samstag in Wismar gegen einen Aufzug der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ demonstriert. Mit einer Demonstration und mehreren Sitzblockaden sorgten sie dafür, dass die Neonazis bereits nach etwa der Hälfte ihrer Strecke zum Bahnhof umkehren mussten. Überschattet wurden die Proteste von massiver Polizeigewalt. Mehrere Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden, nachdem sie von Polizisten verletzt wurden.
Wir möchten an dieser Stelle an alle Betroffenen und ZeugInnen von Polizeigewalt in Wismar appellieren, Gedächtnisprotokolle von den Ereignissen anzufertigen. Wenn ihr Fotos oder Videos von Übergriffen der Polizei gemacht habt, wendet euch an eure örtlichen Strukturen. Sollte es zu Verfahren kommen, können die Aufnahmen helfen, die abgestimmten Darstellungen der Polizisten anzuzweifeln. Wenn ihr Post von Polizei oder Staatsanwaltschaft bekommt, wendet euch an eure örtlichen Strukturen, die Rote Hilfe oder den/die AnwältIn eures Vertrauens.
Stadt versucht Bündnis und Demo zu vereinnahmen
Wie bereits im Vorfeld der Proteste in Viereck gegen das Pressefest der „Deutschen Stimme“, bildeten sich auch in Wismar anlässlich eines JN-Aufmarsches breite Bündnisse heraus. Während antifaschistische Gruppen von Beginn an unter dem Motto „Kein Leben ohne Freiheit – NPD und JN bekämpfen!“ eine Demonstration gegen den Aufmarsch organisierten, forcierte das später gegründete Bündnis „Wismar Nazifrei“ vielfältigen Widerstand gegen die vermeintlichen „Volksgenossen“ und Proteste in Sicht- und Hörweite der Route der Neonazis. Selbst die Stadt Wismar reihte sich, in Form ihrer Imagekampagne „Neugierig.Tolerant.Weltoffen.“, in die etablierten Bündnisstrukturen ein. Hier versuchte sie schon im Vorfeld der Demonstration, die Deutungshoheit über das von „Kein Leben ohne Freiheit“ und Parteijugendverbänden gegründete „Wismar Nazifrei“ zu erlangen. So organisierte die Stadt das übliche „Demokratiefest“ und bezeichnete es auf der Homepage von „Neugierig.Tolerant.Weltoffen.“ kurzerhand alsZielort für die antifaschistische Demonstration. Als Ort wurde der Weidendammplatz ausgewählt, ein abgelegener und von der Naziroute weit entfernter Ort, der Proteste oder gar Störungen der JN-Demo explizit ausschloss, und so dem eigentlichen Bündnis-Ziel zuwider lief. An der Antifa-Demo nahmen weit über 700 Menschen teil, eine für mecklenburgische Verhältnisse große Anzahl. Viel mehr Positives lässt sich über die Demonstration allerdings auch nicht sagen. Die Route der Demonstration führte größtenteils durch ein menschenleeres Gewerbegebiet am Hafen. Die Entschlossenheit, insbesondere der vorderen Reihen, den Neonaziaufmarsch wirkungsvoll zu behindern, schien das aber nicht beeinträchtigt zu haben. Nachdem sich entschieden wurde, die Route eigenhändig zu verkürzen und bei dieser Farce der Versammlungsbehörde nicht weiter mitzuspielen, setzte sich der vordere Block der Demo am Weidendammplatz ab und zog zügig Richtung Innenstadt und Naziroute.
Anders verhielten sich hingegen VertreterInnen der Stadt. Mit einem eigenen Transparent und hinter dem Antifa-Block laufend, ließen sie sich von Anfang an demonstrativ immer weiter zurückfallen. Am schnellen Schritt der AntifaschistInnen wird es nicht gelegen haben, eher ist der Wunsch nach Abgrenzung von den „Extremisten“ zu vermuten. So versuchten einige Demoteilnehmende aktiv, die Reste der Demonstration zum Besuch des „Demokratiefestes“ zu bewegen und so davon abzuhalten, dem antifaschistischen Block auf dem Weg in die Innenstadt zu folgen. Besonders anhaltend waren ihre Bemühungen allerdings nicht, bereits um 13 Uhr war der Platz bis auf die Verantwortlichen nahezu menschenleer. Eigens angefragte Bands spielten nicht, die aufgebaute Bühne kam kaum zum Einsatz: Die Organisatoren hatten, außer für Mikrofone, nicht für Technik gesorgt.
Wirksamer Protest und Polizeigewalt
Der Protestzug der Antifaschisten, der sich in die eigentlich anlässlich eines Besuchs des Bundespräsidenten a.D. Richard Weizsäcker gesperrte Innenstadt bewegte, wurde dort von Polizeikräften aufgehalten und massiv mit Pfefferspray attackiert. Dennoch gelang es im Laufe des Nachmittags mehrere Sitzblockaden in der Kanalstraße auf der Naziroute zu bilden und so die Polizei zu zwingen, die Naziroute stark zu verkürzen. AntifaschistInnen und das Bündnis „Kein Leben ohne Freiheit“ kritisieren den unverhältnismäßigen und teilweise brutalen Polizeieinsatz. Besonders auffällig wurden hierbei wieder die „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten“ (BFE): Drei Menschen wurden nach Misshandlungen durch die Polizei ins Krankenhaus eingeliefert. Eine Person musste mit Gesichtsverletzungen stationär behandelt werden. Schon am Boden liegend wurde sie von Polizisten bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen und getreten; die Bewusstlosigkeit hielt mehrere Stunden an. Andere BeobachterInnen berichten auch vom Einsatz von „Würgegriffen“, so pressten Beamte Demonstranten beispielsweise den Daumen hinter den Kehlkopf, um ihnen die Luft abzuschnüren. Immer wieder kam es zu Übergriffen der vermummten Sicherheitskräfte auf friedliche Sitzblockaden, wie auch Fotos belegen. Exzessiv machten die Einsatzkräfte von Pfefferspray Gebrauch. Es kam zu massenhaften Personalienfeststellungen, Anzeigen und 127 Ingewahrsamnahmen von Gegendemonstranten.
Offenbar will das Innenministerium stärker gegen Links durchgreifen, wie auch derVerfassungsschutzbericht verdeutlichte, der erst vor wenigen Wochen veröffentlicht wurde. Darin widmet die Behörde dem „Linksextremismus“ bemerkenswert viel Platz und bescheinigt der Szene ein weiteres Anwachsen. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU), der auch in MV mordete und Banken überfiel, nimmt darin – zusammen mit dem NPD-Portal „MupInfo“ – weniger Platz ein, als die bekannte antifaschistische Punkband „Feine Sahne Fischfilet“. Auch der erfolgreichen Zusammenarbeit von autonomen AntifaschistInnen mit bürgerlichen Kräften in Bündnissen wie „Greifswald Nazifrei“ wird eine große Bedeutung zugemessen. Aus Sicht des Verfassungsschutzes fast verständlich, schließlich ist für die Groupies der Extremismustheorie wenig Schlimmeres vorstellbar, als dass die Grenzen zwischen autonomen und bürgerlichen AntifaschistInnen verwischen und das Märchen vom „Linksextremismus“ an Glaubwürdigkeit verliert. Und so bot sich für die Polizei in der Hansestadt eine günstige Gelegenheit zum wörtlichen Zuschlagen: Während Großteile der „demokratischen Kräfte“ in wirkungsloser Symbolpolitik und weit ab vom Schuss verharrten, konnten so ungestört dunkel gekleidete Jugendliche weggeprügelt, verletzt und verhaftet werden.
Nazis müssen abdrehen
Die Neonazis hatten bereits mehrere Wochen vorher zu einer „identitären Demonstration“ aufgerufen. Der Aufzug sollte offenbar in erster Linie durch die Inszenierung eines Wesens der vermeintlichen „Volksgemeinschaft“ wirken, die Teilnehmenden durch ihre bloße Anwesenheit die vermeintliche Alternative der Neonazis repräsentieren. Kaum hatte sich der Marsch der 200 bis 300 norddeutschen Neonazis in Bewegung gesetzt, kaum waren die letzten Schilder an die KameradInnen verteilt und ein „Kinderwagengeschwader“, bestehend aus vier Neonazistinnen und ebenso vielen leeren Kinderwägen, aufgestellt, zog die Truppe wenig motiviert durch den Kagenmarkt und ein Gewerbegebiet. Auf etwa der Hälfte der Strecke war diese dann blockiert. Spätestens auf dem Übergang in ein bewohnteres Gebiet musste auch der Demoleitung klar geworden sein, dass eine Selbstinszenierung ohne zuschauende BürgerInnen nur wenig Erfolg verspricht. Auf der Hochbrücke, die die Nazis in die Innenstadt hätte führen sollen, pausierte der ohnehin wenig motivierte und etwas in die Jahre gekommene „Nationale Widerstand“, da eine Routenverkürzung durch die Blockaden nicht hingenommen werden sollte. Die Fahnen eingerollt und die Butterbrote hervorgeholt, hieß es ausharren. Doch der Zugang zum zweiten Streckenabschnitt blieb ihnen wegen der dortigen Proteste versagt. Die freie Zeit wurde für eine endlose Zwischenkundgebung genutzt, auf der alle sonst ausgefallenen Reden abgespult wurden. Konkrete Konzepte, wie denn die NPD respektive die JN dem demographischen Wandel begegnen will, blieben die Redner natürlich schuldig. Stattdessen wurde mantraartig wiederholt, wie wichtig eine gesunde Altersstruktur für eine Gesellschaft sei. Der arabische Frühling etwa sei das Ergebnis von zu vielen jungen Menschen in den betroffenen Ländern. Dass der Wunsch nach Freiheit, Menschenwürde und Demokratie bei diesen Aufständen auch eine Rolle spielen dürfte, muss die NPD natürlich verschweigen. Im Anschluss trat der JN-Aufmarsch den Rückzug in Richtung Hauptbahnhof an, vorbei an einer weiteren Gruppe GegendemonstrantInnen, die sich postiert hatte, um die Zwischenkundgebung lautstark zu stören.
„Volksgemeinschaft“ am Beispiel von Pappschildern
Mit Schildern und Transparenten mit Aufschriften wie „Die Revolution beginnt im Bett“ und „Soziale Gemeinschaft gegen die Konsumgesellschaft“ versuchten sie ihre Ideologie dennoch zu vermitteln. Mit dem dadurch herbeigeführten Gegensatz zur existierenden Gesellschaft konstruierten sie jedoch umgekehrt einen intuitiven Gemeinschaftswillen, der ausschließlich darauf ausgerichtet sei, sich für diese aufzuopfern und somit danach trachtet, die egoistischen Interessen der Gesellschaft zu überwinden. Die Idee von einem starken „Volkskörper“ basiert dabei wesentlich auf dem Grundgedanken der Trennung eines lebenswerten von einem vermeintlich lebensunwerten Leben, welche versucht werden soll durch gezielte Steuerungspolitik zu realisieren. So sollen in Anlehnung an die nationalsozialistische Ideologie kinderreiche Familien, die die Kriterien der vermeintlichen „Volksgemeinschaft“ erfüllen, gefördert werden, während Menschen, die nicht zur „Gesundung“ dieser beitragen, die Reproduktion verweigert werden soll. Im Nationalsozialismus betraf dies vor allem Behinderung attestiert, aber auch alle, die als „arbeitsscheu“ stigmatisiert wurden. Durch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde bereits 1933 die Geburtenkontrolle durch verordnete Zwangssterilisation eingeführt. Auch für die Innenwelt der „Volksgemeinschaft“ bedeuten Slogans wie „Die Revolution beginnt im Bett“ folglich Anpassungs- und Zwangsmechanismen, da der partnerschaftliche Sex primär der Reproduktion zu dienen habe. Die Idealisierung einer vermeintlichen „Volksgemeinschaft“ bedeutet daher keineswegs die Möglichkeit spontaner Handlungen – und damit Leben – sondern vielmehr die vollständige Unterwerfung unter die Gemeinschaft.
Zu hoher Preis?
Trotz der zum Teil improvisierten Vorbereitungen, eines brutalen Polizeieinsatzes und gegen den Willen der Stadt Wismar ist es gelungen, den JN-Aufmarsch wirkungsvoll zu behindern. Doch zu welchem Preis: Schwerverletzte, willkürliche Personalienfeststellungen und Ingewahrsamnamen in hoher Zahl stehen einer ungetrübten Freude über die Verkürzung der Neonaziroute im Weg. Es bleibt zu hoffen, dass in der Stadtpolitik ein Umdenken einsetzt und sie zu der Erkenntnis gelangt, dass Naziaufmärsche in Bündnissen mit AntifaschistInnen tatsächlich verhindert werden können. Symbolpolitik dagegen reicht nicht aus, und eines ist sicher: Es wird nicht die letzte Neonazidemonstration in Wismar gewesen sein.
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Rene Hackbarth
Rene Hackbarth
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Nach dem Absitzen einer Haftstrafe zog er im Sommer 2009 von Mecklenburg-Vorpommern nach Essen (Nordrhein-Westfalen). Dort war er in die lokale Naziszene um Julian Engels eingebunden. Im Herbst 2010 verzog er nach Dortmund, wo er beim mittlerweile verbotenem „NW Dortmund“ aktiv war. Im Sommer 2011 zog er wieder zurück nach Mecklenburg-Vorpommern. Dort wohnt er aktuell in Greifswald und ist in der lokalen Naziszene aktiv.
Mehr Infos
linksunten.indymedia.org/node/36519
Ragnar Dam
Ragnar Dam: ehemaliger Einheitsleiter der 2009 verbotenen "Heimattreuen Deutschen Jugend" (HDJ) - dort zuständig für die "HDJ Einheit Mecklenburg und Pommen". In diesem Rahmen hielt der damalige Biologie Student Vorträge zu "Rassefragen" - Vorträge welche auch von Minderjährigen frequentiert wurden. Nach dem Verbot der HDJ gab sich Dam als geläutert und verkündete über eine eigene Internetseite seinen "Rückzug" aus dem völkisch-neonazistischen Spektrum.
Sein Lippenbekenntnis hielt allerdings nur ein paar Monate. Hauptsächlich ging es ihm darum in Schleswig-Holstein sein Studium zu beenden da es ihm nicht vergönnt war sein Studium in Greifswald zu beenden. Inzwischen tritt er wieder selbstbewußter im Kontext NPD/JN in Erscheinung. Als Teil des "NPD Bundesordnerdienstes" war er Begleiter der sogenannten "NPD Deutschlandtour" und verdingt sich als "Security". In Wismar (20.10.2012) hielt Dam nun einen Redebeitrag.