Im Herbst des vergangenen Jahres tauchten erstmals Aktivist*innen mit selbstgemachten Stricksturmhauben, schrillem Outfit, Rauch und Pyrotechnik auf den Straßen Russland auf. Es begann auf einem Bus im Zentrum Moskaus. Sie sangen vor einem Moskau Knast für die im Dezember während der Proteste gegen die Fälschungen der Duma-Wahlen inhaftierten Menschen. Eine weitere Performance enterte die Moskauer Metro. Legendär und erstmals auch weltweit wahrgenommen wurde die Aktion auf dem Roten Platz in Sichtweite des Kreml. Ende Februar diesen Jahren setzten die Artivist*innen noch eins drauf und feierten in der Christus-Erlöser-Kathedrale, der Kirche mit dem engsten Bezug zum russisch-orthodoxen Patriarchat und dem Staat, eine „Punk-Andacht“ und baten in kirchenslawisch darum, daß die Jungfrau Maria Putin endlich verjagen solle.
Hinter den politischen Kunstperformances steckt das Kollektiv „Pussy Riot“, das sich nach eigenen Angaben formierte, als Putin und Medvedjev ihre längst allgemein bekannte Ämterrochade offiziell machten. Außerdem wollten sie die musikalischen Subkultur Punk in Russland um emanzipatorische Ansätze erweitern und feministische, queere, ökologische, anti-nationalistische und anti-staatliche Diskurse etablieren. Die Aktivist_innen treten unerwartet, anonym und zahlreich auf. Sie haben keine Namen. Sie sind Feminist*innen, Umweltschützer*innen oder andere emanzipatorische Aktivist*innen. Für die mediale Wahrnehmung, neben der unmittelbaren während den Politperformances, sorgen eigene Videoaufnahmen, Fotografen und vertrauenswürdige Journalist*innen.
Die Aktivist_innen von „Pussy Riot“ beziehen sich explizit auf die Riot Grrrl Bewegung der 90iger Jahre radikalisieren die künstlerischen Wurzeln aber massiv und ergänzen sie um einen emanzipatorisch interventionistischen Charakter ihrer Performances. Es geht „Pussy Riot“ sichtbar nicht nur darum im eigenen Spektrum Akzente zu setzen, sondern den Öffentlichen Raum in Gänze als Ganzes als Bühne zu nutzen und das Publikum unmittelbar in ihren Performances und durch ihre Sprache die Ausgrenzung und Diskriminierung entgegen zu schleudern. Aus dem „bit' matom“ – mit der zum Teil obszönen russischen Umgangssprache schlagen – wird eine queerfeministisches Beschimpfen des patriachalen, hierarchischen, sexistisches und homophoben Knastsystems.
In den ersten Aktionen des Aktivist_innen- und Künstler_innenkollektivs eignete sich „Pussy Riot“ den öffentlichen Nahverkehr der russischen Hauptstadt an. Mit ihrem Titel„Osvobodi bruchatku“ (Befreie den Pflasterstein), in dem es um die lautstarke und kämpferische Übertragung de Taktiken des sogenannten „Arabischen Frühlings“ in Ägypten und Libyen auf die russische Gesellschaft geht, traten die Aktivist_innen in der Moskauer Metro, auf dem Flughafen, auf zentralen Straßen sowie auf den Dächern von Oberleitungs- und Autobussen auf. Das erste Video des Kollektivs dokumentiert die Interventionen in den Öffentlichen Raum und Reaktionen der Zuschauer_innen.
Das zweite Video zum Titel „Kropotkin-Vodka“ dokumentiert weitere Auftritte im Öffentlichen Raum. Der Text des Liedes ist ein Aufruf zur Aneignung der Stadt und gleichzeitig eine Absage an alle „scheiß Sexist_innen und verfickten Putinist_innen“. Mit Mehl, Feuerlöscher, Pyrotechnik, Konfetti, Gitarre und den obligatorischen Strickhassis bewaffnet zogen die Artist_innen durch Moskaus Straßen und spielten auf ausgestellten Edelkarren, Verkaufsbuden, in Schaufenstern von Boutiquen, bei Modenschauen, Kaufhäusern usw.
Die erste vollständig als Einzelperformance dokumentierte Aktion fand am 14. Dezember statt. „Pussy Riot“ sang an diesem Tag für die Inhaftierten der Proteste gegen die Fälschungen der Duma-Wahlen am 5. und 10. Dezember vor der Gefangenensammelstelle Nr. 1 in Moskau. Ihr Titel „Smert' tjurme, svobodu protestu“ (Tod dem Knast, Freiheit dem Protest, Video) richtet sich gegen die Kriminalisierung verschiedener Spektren und für die (Wieder-) Aneignung des Öffentlichen Raumes durch politischen Protest. Hierbei wird die LGBT Bewegung und die Repression gegen aktive Feminist_innen besonders hervorgehoben. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß vor wenigen Tagen in St. Petersburg ein homophobes Gesetz „Gegen homosexuelle und pädophile Propaganda“ angenommen wurde und bereits in Kraft ist. Außerdem sind queere Aktivist_innen immer wieder, wie zum Beispiel bei den Gay Pride Paraden oder anderen Aktionen zur Gleichbehandlung, mit massiver Repression durch die Sicherheitsorgane konfrontiert und müssen sich gegen Übergriffe von Nazis wehren.
Der Auftritt von „Pussy Riot“ Ende Januar auf dem Roten Platz sorgte erstmals für eine breitere Wahrnehmung der Politperformances des Kollektivs auch außerhalb der russischen sozialen Netzwerke und kremlkritischen Spektren. Außerdem wurde auch im Ausland über die Aktionen der Aktivist_innen und Künstler_innen berichtet. Dies war aber auch nicht anders zu erwarten. Schließlich attackiert „Pussy Riot“ mit ihrem Titel „Putin sassal“ (Putin hat sich vollgepißt) explizit und offen den unabwählbaren Alt-Ministerpräsidenten und Neu-Präsidenten Russlands Vladimir Putin in Sichtweite des Kremls unweit der Fenster zum Büro des Autokraten. Hinzu kommt, daß die Artivist_innen offen zum Aufstand gegen das patriarchal sexistische System und die orthodoxe Kirche aufrufen.
Nachdem das Kollektiv im Januar dem Kreml, dem Symbol des politischen Systems Russlands und Amtssitz seines Alleinherrschers Putin, ihre Abneigung entgegen schrien, war am 21. Februar die „heilige rechtgläubige katholische Kirche“ dran. Mit einem Punk-Gottesdienst beehrten sie die Christ-Erlöser-Kathedrale, die durch Stalin zerstört und Anfang der 90er durch (neu-) erweckte Staatschrist_innen als Ort der Begegnung zwischen russischem Patriarchat und dem Staat wiederaufgebaut wurde. Der Termin war im Übrigen bewußt gewählt. Die Gläubigen wurden am zweiten Tag der sogenannten Butterwoche (Maslenica), die in etwa dem deutschen Karneval entspricht, am „Tag der Spiele“, an dem auf den Öffentlichen Plätzen Straßentheater gezeigt wird, mit einem ganz besonderen Spektakel überrascht. In teilweise sauberen kirchenslawisch beteten die Aktivist_innen und Künstler_innen direkt vor der Ikonostase, dem Ort, der nur den Priestern und Diakonen vorbehalten ist, darum endlich von Putin erlöst zu werden. Im Titel „Bogorodica, Putina pogoni“ (Heilige Maria Gottgebärerin, verjage Putin) wird in erster Linie die Kirche als sexistisch patriarchale Institution attackiert und ins Verhältnis zur Kriminalisierung queerer Aktivist_innen gesetzt. Außerdem verweisen die Artivist_innen auf die untrennbare Koalition der Kirche mit dem Staat, wo in der heiligen Symphonie der Staat sich um die Ausbeutung und Erniedrigung der Körper sowie die Kirche um die Konditionierung und Reglementierung der „Seele“ kümmert.
Das Staat und Kirche nicht nur als ideologische sondern auch als politische Einheit begriffen werden müssen, zeigte sich wie schnell und willkürlich die Repression einsetzte. Nach nur wenigen Tagen bekamen vermeintlich beteiligte Aktivist_innen, bekannte Feminist_innen, queere Menschen und andere emanzipatorische Frauen (!) Besuch der Sicherheitsorgane. Am Vorabend der Präsidentenwahl am 4. März wurden im Zuge der Ermittlungen die bekannte feministische Künstler_in Nadezhda (Tolokno) Tolokonnikova und die Umweltschützer_in Marija Aljokhina durch ein vierzigköpfiges Sonderkommando als vermeintliche Mitglieder_innen von „Pussy Riot“ und Beteiligte an der Punk-Andacht in der Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet. Ihnen wird Rowdytum, daß heißt (besoffen) pöbeln und randalieren, vorgeworfen.
Die beiden Aktivist_innen haben gegenüber den Ermittlungsorganen nach Angaben ihrer Anwälte bislang keine Aussage gemacht. Sie bekennen sich weder dazu Teil von „Pussy Riot“ zu sein oder sich an der Performance in der Kirche beteiligt zu haben. Beide befanden sich, auch um gegen die widerrechtliche Inhaftierung und die Absurdität der Vorwürfe zu protestieren, bis vor wenigen Tagen im Hungerstreik. Obwohl beide Aktivist_innen Kinder haben und keinerlei Fluchgefahr besteht wurde die Untersuchungshaft am Donnerstag, dem 14. März 2012, bestätigt und bis zum 24. April verlängert. Die Ermittlungen und der massive Druck auf Tolokonnikova und Aljokhina gehen unterdessen weiter. So berichtet einer der Anwälte der Beschuldigten, daß die beiden Inhaftierten indirekt mit dem Entzug des Sorgerechts bedroht werden. Die Beamt_innen suchen keinesweg nur nach Nachweisen für die Vorwürfe, sondern befragen die Umgebung der Inhaftierten, so zum Beispiel die Kindergärtner_innen und Bekannte, danach, ob sie gute „Mütter“ wären. Hinzu kommen Anrufe bei den Familien der gefangenen Aktivist_innen und Unterstützer_innen, in denen diese mit Gewalt und Vergewaltigung bedroht werden. Das dies keineswegs leeres Gerede ist mußte vor wenigen Wochen Filipp Kostenko feststellen, der von Beamt_innen des sogenannten „Zentrum zur Bekämpfung des Extremismus“ (Zentrum-E) zusammengeschlagen und dem die Beine gebrochen wurden.
Am vergangenen Freitag, dem 16. März, wurde die Aktivist_in Ekatarina Samucevich als Verdächtige festgenommen. Sie wurde bisher als Zeug_in befragt. Gegen die Inhaftierung hat ihr Anwalt Nikolaj Polozov gestern Beschwerde eingelegt. Es liegen aufgrund der Zusammenarbeit seiner Mandantin mit den Behörden und der fehlenden Fluchtgefahr kein Grund für die Inhaftierung vor. Deshalb muß Samucevich sofort freigelassen werden.
Die Berichterstattung über die Kriminalisierung von „Pussy Riot“ und die Inhaftierung vermeintlicher Mitglieder_innen des Aktivist_innen- und Künstler_innenkollektivs wird in Deutschland durch die vermeintlichen Qualitätsmedien nicht berichtet. Oder wenn doch über den Fall geschrieben wird, wir, wie im Berliner Tagesspiegel, die Unschuldsvermutung der Beschuldigten offen aufgehoben. Die inhaftierten Menschen werden in dem Artikel "Pussy Riot - Frauenaufstand gegen Putin" ganz selbstverständlich zu Mitglieder_innen von „Pussy Riot“ erklärt und ihre Beteiligung am Punk-Gottesdienst implizit als Tatsache dargestellt. Die Attribute vermeintlich oder mußmaßlich in Zusammenhang mit den Beschuldigungen kommen nicht vor. Die Autor_in Elke Windisch reproduziert lediglich tendenziös und boulevardesk die Vorwürfe der Kirche und der Ermittlungsorgane.
Die inhaftierten Aktivist_innen brauchen eine laute und umfaßende Unterstützung. Der Vorwurf des Rowdytums soll auf Druck des russisch-orthodoxen Klerus offenbar um Blasphemie erweitert werden, was bedeutet, daß den Beschuldigten sieben Jahre Knast blühen könnten. Es ist wichtig aktiv zu werden! Weltweit gab es bereits am 8. März Aktionen in Solidarität mit den inhaftierten Aktivist_innen und gegen die Kriminalisierung des Kollektivs „Pussy Riot“. Eine internationales Unterstützer_innengruppe betreibt die Soli-Seite freepussyriot.org auf der auf russisch, englisch, deutsch und französisch. Dort sind zahlreiche aktuelle Informationen und Material zu finden.
Informiert euch! Werdet aktiv! Seid solidarisch!
Organisiert Veranstaltungen, Kundgebungen und Aktionen!
Sei selbst Pussy Riot! Macht eigene Videos! Sei Grrrr...
Danke
Sehr informativ, danke. Gibt es die lyrics auch übersetzt? Also English oder Französisch oder Deutsch oder so?
liedtexte
zwei deutsche übersetzungen -- von der aktion am roten platz und von der in der kathedrale -- gibt es hier
Weitere Infos...
...gibt es unter http://www.anarchismus.at/anarchistischer-blog/7045-aktivistinnen-von-pu... und http://www.anarchismus.at/anarchistischer-blog/7046-pussyriot-soon-the-r.... Warum kommt denn da so wenig Soli aus Deutschland?
klitzekleine präzisierung
vielen vielen dank an die author_innen für den grossartigen text!!!
wollte aber noch ein paar kleinigkeiten anmerken:
-) zu den vorwürfen der ermittlung: der vorgeworfene artikel (213, teil 2), "хулиганство", würd ich nicht als "rowdytum" oder gar "(besoffen) pöbeln und randalieren". im strafgesetzbuchtext wird es als "besonders schwerwiegende störung der öffentlichen ordnung" bezeichnet; teil 2 vom artikel enthält "erschwerende" momente wie tatbegehung als organisierte gruppe, zusammenhang mit verhetzung auf (in diesem fall) religiöser basis usw., der strafrahmen von diesem paragraph sieht bis zu sieben jahre knast vor -- wesentlich mehr, als der sonst in den repressionen gegen politische gegner_innen beliebte "extremismusparagraph" 282 mit max. zwei jahren. einen blasphemie-artikel gibt es im russischen strafgesetzbuch _nicht_. die kirchenleitung kann das im text beschriebene gar nicht verlangen. stattdessen wird medial und politisch -- nicht nur von der kirche aus, sondern mittlerweile von der regierungspartei "geeintes russland" versucht, einerseits auf möglichst harten strafen für die (vermeintlichen) teilnehmerinnen der aktion in der kathedrale zu pochen, andereseits aber auch zur pauschalen repression (nach dem obenerwähntem extremismus-paragraph 282) aller helfer_innen und unterstützer_innen vom kollektiv, und sogar von journalist_innen, die zur medialen verbreitung von "diesem blasphemischen schund" beitragen.
-) im text vom zur christus-erlöser-katherdrale-aktion zugehörigem lied kommen eigentlich nirgends kirchenslawische fragmente, weder teilweise noch völlig "saubere", vor...
-) „heilige rechtgläubige katholische Kirche“ könnte eventuell zu missverständnissen bei leser_innen führen, es würde sich um die katholische kirche in russland handeln. "православная" wird doch üblicherweise als "orthodox" übersetzt.
sorry fürs nitpicken -- wollte nur drauf hinweisen, eben weil es sonst der vollständigste und beste deutschsprachige text zum thema ist, den ich kenne, wär schön, wenn es noch etwas genauer sein könnte. nochmals: danke!!
ups
sorry, ein paar sätze in meinem kommentar waren, fürcht ich, nicht ganz vollständig, da fehlt doch hier und da einfach ein verb, ähem. hoffentlich ists trotdem einigermassen klar, was ich gemeint hab ;)