[Insel] „Die dürfen überall wohnen, nur nicht hier!“

insel

 In dem Altmark-Dörfchen Insel, in der Nähe von Stendal und eingemeindet seit September 2010, brodelt es seit Monaten. Von einem „400-Seelen-dorf“ ist die Rede, wenn es um Insel geht, obwohl lt. wikipedia dort am 31.12.2009 immerhin 729 Menschen wohnten. Die stark schwankende Einwohnerzahl ist aber nicht die einzige Merkwürdigkeit in Insel.

 

Seit Monaten gibt es immer wieder Proteste wütender Anwohner, gegen die beiden zugezogenen „Kinderschänder" im Dorf. Es wird deren Wegzug gefordert, damit endlich "wieder Ruhe einkehrt". Hans-Peter W. und Günther G. haben im Alkoholrausch mehrfach Frauen vergewaltigt, sie wurden in den achtziger Jahren jeweils zu fünf Jahren Haft verurteilt, wo sie sich vor über 20 Jahren kennenlernten. Dann wurde nachträglich Sicherungsverwahrung verhängt, sie galten als Gefahr für die Allgemeinheit.  Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, wonach Sicherheitsverwahrung unzulässig ist,  kamen sie frei. Die beiden Männer waren im Juli 2011 aus Baden-Württemberg nach Sachsen-Anhalt gezogen. Auf Vermittlung eines Tierarztes aus Freiburg zogen sie in dessen Elternhaus in Insel. Wer es bis dahin nicht wußte, dem erklärte CDU-Bürgermeister Alexander von Bismarck auf einer Bürgerversammlung im August, wer die „Neuen" im Ort sind und gießt seit dem Öl ins Feuer:“Das sind keine Menschen wie wir“. Die Bewohner von Insel begannen Anfang September, auf die Straße zu gehen. Der Bürgermeister hatte die Demonstrationen angemeldet. Seitdem stand er meist mit rund 60 „Insulanern“ dreimal die Woche abends vor dem Haus der Männer. Als sich zu den Demonstrationen im Ort dann noch bis zu 50 Neonazis unter die aufgebrachten Dörfler mischten, begrüßte von Bismarck die „Gäste" herzlich. Zuletzt übernahm die Polizei die längst überfällige -zumindest räumliche - Distanzierung der protestierenden Dorfgemeinschaft von jenen, die sich die Todesstrafe für Kinderschänder wünschen.

 

Das alles bringt die Antifa nach Insel und es haben sich am 17.03.2012 ca. 35 Linke aufgemacht, vor Ort auf die Ursachen sexualisierter Gewalt hinzuweisen. Es wird die Dorfgemeinschaft aufgefordert, sich nicht von Neonazis und deren Ideologie vereinnahmen zu lassen und sich deutlich zu distanzieren. Dieses mal nicht nur räumlich. Das Recht der beiden Männer auf freie Wahl des Wohnortes ist hinzunehmen. Wie erfolgreich diese Anliegen vermittelt werden konnten, bleibt abzuwarten.

 

Sexualisierte Gewalt: Ursachenbekämpfung statt Täterjagd!

 

In Deutschland gibt es eine Gerechtigkeitslücke was den Umgang mit Sexualstraftaten angeht, aber wir dürfen dennoch nicht Unrecht mit Unrecht beantworten. Den Defiziten eines Rechtsstaates mit Selbstjustiz abzuhelfen, hilft nicht. Es ist darauf zu achten, die Würde der Opfer wie auch der Täter zu schützen, und vor allem auch die eigene.

Die Mehrheit der Opfer von Sexualstraftaten ist weiblich. Acht Prozent der Opfer waren männlich, ein im Ländervergleich hoher Prozentsatz. 99 % aller Verdächtigten waren männlich. In zehn von elf Fällen handelte es sich um den aktuellen oder den Ex-Partner / Ehemann. Gegen weniger als die Hälfte der  Verdächtigen wurde überhaupt Anklage erhoben. In nur gut einem Viertel der Fälle wurde ein Hauptverfahren eröffnet. In mehr als drei Viertel der Fälle wurde keine gerichtsmedizinische Untersuchung durchgeführt. In der Hälfte der Fälle wurde in Frage gestellt, ob sich die Tat ereignet hat. Der Anteil der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung liegt aber bei nur drei Prozent. Auch in anderen Ländern ist das Problem der Falschanschuldigung marginal und rangiert zwischen einem und neun Prozent. Diese Ergebnisse widerlegen die bei der Polizei und bei den Justizbehörden weit verbreitete Auffassung, dass Falschanschuldigungen ein großes Problem bei der Strafverfolgung von Vergewaltigung darstellen. All das kann aber dazu führen, dass Vergewaltiger überhaupt nicht bestraft werden.

 

Verfolgungseifer und Doppelmoral

 

Nach fast und über zwanzigjähriger Haft- und Sicherungsverwahrung  tut sich keine Gerechtigkeitslücke mehr auf. Diese Täter wurden bestraft, überwacht und therapiert. Die Rückfallquote bei verurteilten (!) Sexualstraftätern ist im Vergleich zu anderen Deliktgruppen am niedrigsten. Ohne sexualisierte Gewalt bagatellisieren zu wollen, so liegt es doch am direkten Lebensumfeld wie auf die Kenntnis einer solchen Verurteilung und abgesessenen Haftstrafe reagiert wird, human oder anders. In einer Gesellschaft, in der Menschen wie Objekte behandelt werden und sexualisierte Gewalt  nur selten als Straftat geahndet wird, mangelt es erheblich an Unrechtsbewusstsein in Bezug auf Sexualstraftaten, aber auch in Bezug auf die verurteilten Täter.

Gerade darum ist es wichtig, die Ursachen sexualisierter Gewalt zu benennen und zu kritisieren und eben nicht darauf zurück zufallen, die Täter auch nach deren Bestrafung ins Privatleben zu verfolgen. Aber selbst in Insel wehrt sich die Dorfgemeinschaft nur gegen die zugezogenen Ex-Häftlinge, nicht gegen deren Verbrechen. Jahre zuvor hatte ein junger Mann in Insel ein Mädchen vergewaltigt und wurde im Dorf wieder akzeptiert. Bismarck meint: "Das war aber nur möglich, weil die Menschen den Jungen schon vorher kannten, sie haben ihn wieder aufgenommen." Dem Opfer wird unterstellt, die Vorwürfe erfunden zu haben und dem jungen Mann das Leben versauen zu wollen. Am Straßenrand erklärt ein Rentner, dass uns das, was im Privaten geschieht, nichts angeht. In Bezug auf die Ex-Häftlinge sieht er es anders:„Die dürfen überall wohnen, nur nicht hier!“ Der feste Glaube der Inseler an den Rechtsstaat, wonach ein Verbrechen nur eines ist, wenn es auch eine Verurteilung gibt und die Ignoranz gegen dessen Defizite, ergeben ein erschreckendes Bild: Ein Verbrechen ist, was wir dafür halten.

 

Sexualität als Herrschaftsinstrument

 

Es gibt keine leichte oder einfache Antwort auf die Frage, warum ein Mensch zum Vergewaltiger wird. Die Ungleichheit im Geschlechterverhältnis in unserer Gesellschaft schafft erst die Voraussetzungen dafür, dass und auf welche Weise Opfer sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind. Die Täter, meist unauffällige, scheinbar nicht von der Norm abweichende Männer sind, die jeder Berufsgruppe und jeder sozialen Schicht angehören können, stammen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle aus dem familiären und sozialen Nahumfeld der Opfer. Vergewaltiger handeln nicht aus einem “sexuellen Notstand“ heraus, denn dem Täter geht es bei sexualisierter Gewalt nicht in erster Linie um sexuelle Befriedigung. Es geht um den Missbrauch von Macht durch sexualisierte Gewalt, Sexualität wird als Herrschaftsinstrument genutzt. Vergewaltigung ist nicht eine gewalttätige Form von Sexualität, sondern eine sexualisierte Form von Gewalt. Bei sexualisierter Gewalt benutzt der “Machtvolle” seine Überlegenheit, um dem oder der Ohnmächtigen Gewalt anzutun. Wo eine Person oder Gruppe viel mehr Macht hat als eine andere, ist auch immer das Risiko gegeben, dass diese Macht missbraucht wird. In unserer Gesellschaft haben Männer mehr Macht als Frauen und Erwachsene insgesamt mehr Macht als Kinder, wobei das Machtgefälle am größten ist zwischen Männern und Mädchen. Dieses Machtgefälle ist ein bestimmender Faktor für das besonders große Ausmaß sexualisierter Gewalt. Besonders wenn erwachsene Männer meinen, sie hätten das alleinige “Sagen” und Frauen und Kinder müssten sich ihrem Willen unterordnen.

 

Komplexes Problem: Ursachen sexualisierter Gewalt

 

Gefördert wird eine solche Einstellung durch die in unserer Gesellschaft immer noch herrschenden Frauen- und Männerleitbilder, wie sie auch in Zeitschriften, Werbung, Filmen usw. vermittelt werden. Der männliche “Eroberer”, der sich einfach nimmt, was er will, ist immer noch ein Männlichkeitsideal, nicht nur in Abenteuerfilmen. Wenn eine Frau hingegen “Nein” sagt, so heißt es oft, will sie erobert werden, eigentlich meint sie “Ja”. Grenzüberschreitungen werden entschuldigt, indem behauptet wird, Männer hätten eben stärkere sexuelle Bedürfnisse und Aggression läge in ihrer Natur. Schon als kleine Jungen erleben Männer am Vorbild ihrer Umwelt ihre Vormachtstellung. Überlegenheit, Stärke und Durchsetzung ihres Willens werden ihnen zugestanden und von ihnen erwartet. Wer aber in der Überzeugung aufwächst, mehr Rechte als andere zu haben, fühlt sich später eher ermutigt, sein vermeintliches Recht auch mit Gewalt einzufordern.

 

Die Suche nach den Ursachen sexualisierter Gewalt ist komplex. Gesellschaftsbedingte Faktoren, die dazu beitragen können, dass Menschen zu Tätern werden, können sein: Die patriarchale Ideologie von männlicher Verfügungsgewalt, Machtungleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern, die Tendenz, emotionale Bedürfnisse zu sexualisieren, eine weit verbreitete Darstellung der Sexualität als Ware, die gesellschaftliche Akzeptanz und Unterstützung aggressiven Sexualverhaltens, eine Erotisierung von Darstellungen in der Werbung und in Filmen, die Sozialisation zu Machtausübung und Dominanz gegenüber Schwächeren, die heute vorallem Männern zugemutet wird und ein geringfügiges Strafverfolgungsrisiko. Das alles überwinden wir aber nicht allein dadurch, diese beiden Männer zum Umzug zu zwingen. Und wenn so getan wird, als wäre damit das Problem sexualisierter Gewalt vor Ort erledigt, so ist as eine Illusion. So lange es noch Menschen gibt, die sich über Bedürfnisse anderer hinwegsetzen, wird es auch sexualisierte Gewalt geben. Die Ursachen sexualisierter Gewalt zu bekämpfen, sollte auch in Insel wichtiger sein als verurteilte Täter aus dem Dorf zu jagen.

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

Nachdem sehr fragwürdigen Artikel der zuvor auf linksunten über dieses Thema erschien, ist dieser Artikel sehr erfreulich, da er nicht das kranke Weltbild von Nazis und der breiten Bevölkerung über Sexualstraftäter_innen teilt, sondern die Frage nach Ursachen stellt.

Kritisch sehe ich hier jedoch, dass nach rechtsstaatlichem oder reaktionären Prinzipien, an der Idee der Rache, welche hier mit Gerechtigkeit begründet wird, festgehalten wird. Das ein solches abgemildertes "Auge um Auge, Zahn um Zahn"-Prinzip nicht kritisch hinterfragt wird, ist sehr problematisch. Natürlich sind die Prinzipien des Rechtsstaats in den derzeitigen Verhältnissen noch Notwendig, aber Sätze wie:

 

"Nach fast und über zwanzigjähriger Haft- und Sicherungsverwahrung  tut sich keine Gerechtigkeitslücke mehr auf."

machen klar dass die Autor_innen diese Prinzipien nicht als derzeit notwendige Übel ansehen, sondern als Weg zur Gerechtigkeit.

Nein, mit Sicherheit nicht. Es ist nur so, dass eine fast und über 20jährige Freiheitsberaubung selbst dem reaktionärsten Rechtsstaatlichkeitshuldiger im hysterischen Verfolgungseifer ein Gefühl von "gerechter" Bestrafung vermitteln sollte. Wobei natürlich von uns selbst weder das Anliegen noch das Prinzip der Resozialisierung durch Knast anerkannt wird.  Warum aber einigen Wenigen eine 20jährige Freiheitsberaubung noch nicht als Rache ausreicht, und die Todesstrafe als Option angenommen wird, bedarf weiterer, eingehender Analyse. Offensichtlich ist nämlich selbst dieser rabiate und repressive Rechtsstat einschließlich der fragwürdigsten Methoden, wenn er denn überhaupt gegen Sexualstraftäter zugreift, einigen Inselern noch nicht aggressiv genug. In diesem Zusammenhang reden wir dann nicht nur über fehlende Distanzierung und notwendige Warnung vor Vereinnahmung durch Rechte und deren Populismus sowie Distanzierung, sondern über Faschismus als individuelles, ortansässiges Ideal.

Ich les linksunten ja echt nicht mehr oft, bei so Artikeln merkt man auch warum: Diese ganze bürgerliche Moral-Gerechtigkeits-Soße, die ihr hier verzapft, diese ganze rechtsstaatlich affirmative Haltung des kritischen Bürgers, die ihr hier - devot wie euer Staat es von euch will - einnehmt, zeugt von einer einzigen Nicht-Befassung mit dem Gegenstand. Neben eurem demokratischem Idealismus gegen das Recht - aber nur, wie es heute ist - kommt ihr auf so dumme Fragen, wie "warum ein Mensch zum Vergewaltiger wird" - dann fragt ihn doch halt mal, anstatt den Leuten ständig den Inhalt aus ihren Handlungen rauszukürzen!