Nachdem der Aufruf zu Insurrection Days in Berlin für einigen Zoff bei der Auslegung von aufständischen Perspektiven gesorgt hat, lohnt es sich zunächst mal über den eigenen Tellerrand zu schauen.
Bei aller Begeisterung, die in unserer Region für die Aufstände in den arabischen Ländern und der Revolte letztes Jahr in England gezeigt wird, tritt auch ein Widerspruch auf, der nicht unproblematisch ist. Die Frage mit wem überhaupt Revolten möglich sind oder mit welche Schichten der Gesellschaft antiautoritäre und emanzipative Gruppen in Kontakt treten sollten um in sich verschärfenden Konflikten gemeinsam Handlungsfähig werden zu können, wird meistens nach dem Ausschlußprinzip verfahren. Das heißt, es ist klarer mit welchen Leuten keine Annäherung erwünscht ist, weil ihnen der emanzipatorische Charakter bei Wutausbrüchen in aufständischen Situationen abgesprochen wird.
Deshalb nochmal ein Blick zurück in den August nach England. In der "Alhambra" aus Oldenburg, Ausgabe Januar/Februar 2012, findet sich ein Interview mit Aktivisten aus London.
Diese analysieren das Zustandekommen der Revolte so:
"Es gibt eine Unterklassen-Jugend, die verschiedenartige Formen struktureller Gewalt erlitten hat: endemische [d.h. auf bestimmte Regionen begrenzte; Anm. d. U.] Armut in Nachbarschaft und Familie in einer der oberflächlichsten und am meisten durchkommerzialisierten Konsumgesellschaften, die es gibt, in der der Einzelne fortwährend mit künstlichen Sehnsüchten aus Werbung und PR bombardiert wird"
Diese Jugend findet sich in Berlin auch, wenn auch nicht in der gleichen Anzahl. Allerdings ist die Gesellschaft bei uns auch extrem überaltert; es gibt einfach weniger junge als alte Menschen.
"Stadtviertel voller sozialer Probleme, Kriminalitat und gewalttatiger Gangs, als Folge endemischer Armut, Arbeitslosigkeit und politisch-okonomischer Verwahrlosung"
Die gibt es auch in Berlin. Bei der Bekämpfung sogenannter Kriminalität sind Polizei und Justiz jedoch viel erfolgreicher. Die im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien sind hin und her gerissen zwischem dem Wunsch die Innenstadtbezirke vollkommen von unerwünschten Personen zu säubern und dem Wissen, dass genau damit schwer zu berwachende Randbezirke entstehen würden.
"Stadtviertel mit veralteter, zerfallender und unterfinanzierter öffentlicher Infrastruktur; ein Abwürgen des öffentlichen Dienstes durch Sparmassnahmen sowie Kürzung der Sozialleistungen, was eine direkte Auswirkung auf die beteiligten Jugendlichen und ihre Familien hat: Schliessung von Jugendzentren, Seniorenheimen und aller Arten von sozialen Wohlfahrtseinrichtungen"
Kommt in Berlin nur in Ansätzen vor. Der Staat achtet darauf überall sichtbar zu sein und sei es als Tarnorganisation wie das Quartiersmanagment. Kürzungen werden viel dosierter vorgenommen.
"endemische Arbeitslosigkeit ohne Jobaussichten, ausgenommen wenige prekäre, unterbezahlte, unbefriedigende Jobs, die keine Verbesserungsmöglichkeit
darstellen und Arbeiterinnen ihrer Rechte berauben"
Trifft auf manche Menschen in Berlin zu, insgesamt haben aber viele das Gefühl von der boomenden Wirtschaft profitieren zu können.
"Workfare-Strategien gegen die Arbeitslosen, nach denen arbeitslose Jugendliche effektiv ohne Lohn arbeiten müssen, um ihre magere Jobsucher-Unterstützung zu sichern. Nicht selten arbeiten sie sklavenähnlich, verrichten niedere Hilfsarbeiten für Filialen ausbeuterischer Konzerne"
Gibt es in Berlin auch, wird jedoch von den meisten nicht als problematisch empfunden, jedenfalls regt sich kaum Protest.
"keine Aussichten auf wie auch immer geartete soziale Mobilität: Diese Kids konnen es sich nicht einmal mehr leisten, unterfinanzierte zweitklassige Colleges zu besuchen, weil die EMA [Education Maintenance Allowance, eine Art BafoG; Anm. d. U.] gestrichen wurde. Diese Kids wissen, dass sie keine Chance haben, zur Uni zu gehen, weil damit massive Studiengebühren und Darlehensschulden verbunden waren. Die Studiengebühren wurden unlängst auf durchschnittlich 9 000 Pfund pro Jahr verdreifacht. Sie wissen, dass sie beinahe keine Chance haben, ein Einkommen zu erzielen, das einen Besuch dieser Unis ermöglicht"
Liegt in Berlin so nicht vor.
"ständige Schikanen durch die Polizei, respektloses Verhalten, willkürliche Strassenkontrollen, die auf einem Profilling nach Rasse und Klasse basieren und ständige Rassen- und Klassendiskriminierung durch die weissen Mittel- und Oberschichten"
Liegt in Berlin eindeutig vor. Der Widerstand dagegen findet aber nur sehr individuel und wenig koordiniert mit linksradikalen Strukturen statt.
"Darüber hinaus sind diese Kids alles andere als dumm und uninformiert: Sie haben ein sehr klares politisches und ökonomisches Bewusstsein darüber, dass sie durch die herrschenden Klassen komplett verraten, verkauft, entrechtet und unterdrückt werden, und zwar aufgrund eines wirtschaftlichen und sozialen Kollaps, den die herrschenden Klassen selbst zu verantworten haben. Diese Kids sind sehr sicher im Umgang mit den neuen sozialen und alternativen Medien und wissen daher weitgehend um die betrügerischen Hintergründe der ökonomischen Kernschmelze. Sie wissen, dass die Wirtschaft wegen der Banken und Reichen absäuft. Sie wissen auch, dass sie am Ende bei allen Sozialkurzungen den Kürzesten ziehen. Viele von diesen Kids waren auch schon im Januar 2011 gegen die Kürzungen der britischen Studienforderung und die Erhöhung von Studiengebühren auf der Strase. Dort ist die Polizei ihnen fortwährend mit Einschüchterung, Kesseln, Schlagstock-Einsätzen, Manipulation [der Berichterstattung; Anm. d. U.] begegnet.
Sie sind sich der Korruption der politischen Klassen voll bewusst. Sie sind sich der Verdrehungen, Lügen und Verzerrungen der Medien, die sie bereits wahrend der Studierenden-Proteste erlebt haben, bewusst. Sie sind sich des Zynismus, der erbärmlichen Gleichgültigkeit, der Nabelschau und des Desinteresses der Ober- und Mittelschichten voll bewusst, sowie der Verachtung und Vorurteile, welche diese Schichten auf sie projezieren.
Und dann, zu allem Überfluss, erschiesst die Polizei einen der ihren unter sehr fragwürdigen Umständen"
Die betroffenen Jugendlichen in Berlin wirken auf den ersten Blick wesentlich uninteressierter an den Umständen, die ihren Alltag kontrollieren und bestimmen. Es gibt aber auch sehr wenig Kontakt zu ihnen. Wenn wir das unzureichende Wort „Zielgruppe“ für diesen Personenkreis wählen, der von den Genossen aus England als Träger der Revolte ausgemacht wird, dann handelt es sich um genau die gleichen Menschen, gegen die in unserer Szene Vorbehalte existieren. In der aktuellen Debatte um Insurrection werden sie oft als jene identifiziert, mit denen sich viele nicht vorstellen können gemeinsam auf der Straße aktiv zu werden.
Es gibt also drei Punkte, die einer ähnlichen Zuspitzung wie in England entgegen stehen;
Die demographische Situation mit einer Überalterung der Gesellschaft, die schlauere Praxis der Behörden, die eine enorme präventive Wirkung entfaltet und die Distanz zwischen uns und allen anderen potentiellen TrägerInnen einer Revolte.
Lediglich der letzte Punkt kann von uns kurzfristig verändert werden und darauf sollten wir uns auch konzentrieren. Ein Aufstand oder wie auch immer wir es nennen wollen, richtet sich nicht danach mit wem wir nicht gemeinsam kämpfen wollen. Er steht irgendwann vor der Tür wenn die Zeit reif ist und fährt vorbei wenn wir zögern aufzuspringen. Die Zeit wird eher reif sein, wenn wir den Finger in die Wunden eines nur scheinbar perfekten Systems legen. Je weniger wir bereit sind Koalitionen mit anderen einzugehen, um so weniger emanzipativ wird ein Aufstand insgesamt sein.
Darum sollte der Diskurs um die Insurrection Days schnell von der Wortklauberei wegkommen und sich mehr auf potentielle Bündnispartner konzentrieren. Denn 0,0001% der Berliner machen keine Revolte sondern lediglich die Kleingruppenaktionen, mit denen sich die Behörden seit Jahren abfinden müssen.
meidet szenen
super text!
bei oberschicht "revolutionären" ist abgrenzung zu allem möglichen oft halt selbstzweck, bestätigung für die angebliche wichtigkeit der eigenen existenz ... wer sich nicht in bourgoisem, deutschem, reflektiertem, studi, abi, antisexistischem stil ausdrücken kann u vieleicht sogar noch blink blink style trägt oder gar sexistsischn rap hört is halt für viele "linke" von vornherein nicht mal gesprächspartner_in!
das is so elitär...
fragt euch doch mal wann und wie ihr das letzte mal versucht habt mit einem aus der Unterklassen-Jugend zu reden und wie der/diejenige euch wohl sieht bzw. gesehen hat!?
persönliche anerkennung (ohne die gar keine politische mobilisierung möglich ist) können viele dieser jugendlichen jedenfals auch nicht von vielen teilen der linken erwarten...das is so staatstragend, angepasst!
sexistischer rap war schon vor 20 Jahren out
du meinst bestimmt kulturimperialistisches gesabbel, wegen dem man kein radio mehr anmachen kann.