Gericht: Schlägerei kein versuchter Mord
Prozess. Neun Männer, die in der Nürtinger Musiknacht eine Kneipe überfallen haben, müssen für zwei Jahre und neun Monate in Haft. Der Staatsanwalt und die Verteidiger prüfen, Revision zu beantragen. Der Prozess gegen mutmaßliche Komplizen geht weiter. Von Frederike Poggel
Victory, Sieg, signalisieren die Angeklagten, als sie in den Sitzungssaal eins des Stuttgarter Landgerichts geführt werden. Mit gespreiztem Zeige- und Mittelfinger grüßen sie ins Publikum, lautlos diesmal nach vielen Ermahnungen der Richterin an den vorangegangenen Sitzungstagen. Lautlos winken die Freunde und Angehörigen zurück, die - wie schon beim Auftakt des Prozesses - fast jeden Platz im Zuschauerraum besetzen. Eine Stunde dauert die Urteilsverkündung, danach wirken viele im Publikum weder erleichtert noch verzweifelt, sondern vielmehr unschlüssig: War das jetzt ein Sieg?
Für zwei Jahre und neun Monate müssen die neun Männer ins Gefängnis, weil sie 30 Sekunden lang auf alles eingeschlagen haben, was sie mit ihren Schlagstöcken und Steinen erreichen konnten. Gerade mal eine halbe Minute hat der Überfall auf eine Kneipe in Nürtingen (Kreis Esslingen) während der dortigen Musiknacht am 8. Mai 2010 gedauert. Doch dabei sind vier Menschen so schwer am Kopf verletzt worden, dass sie teilweise bis heute unter den Folgen leiden.
Heimtückisch sei das gewesen, befand der Staatsanwalt, dessen Anklage daher auf versuchten Mord lautete. Auch nach 18 Verhandlungstagen hielt er daran fest. In seinem Plädoyer hatte er Strafen von bis zu viereinhalb Jahren für die neun zur Tatzeit volljährigen Angeklagten gefordert; an ihrer Seite sollen neun Jugendliche Baseballschläger geschwungen haben. Gegen sie wird vor der Jugendkammer verhandelt.
Doch das Gericht bleibt deutlich unter der Forderung des Anklägers und verurteilt die Angeklagten lediglich wegen vierfacher gefährlicher Körperverletzung, Landfriedensbruchs und Sachbeschädigung. Ins Gefängnis müssen sie für zwei Jahre und neun Monate. Nach Auffassung der Richterin Regina Rieker-Müller haben die Täter einen möglichen Tod ihrer Opfer nicht billigend in Kauf genommen: „Es wurde nicht gezielt auf Köpfe geschlagen.” Vielmehr habe ein „wildes Getümmel” geherrscht. Die Auswahl der Opfer erscheine „zufällig” - mit einer Ausnahme.
Auf den Gatten der Wirtin hatten es die Angreifer nach der Überzeugung der Richterin abgesehen, weil er sich eine Woche zuvor in einen Streit zwischen Türken und Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK eingemischt hatte. Der Angriff in der Musiknacht, für die ein PKK-Beauftragter im Mesopotamischen Kulturverein Cannstatt Leute zusammengetrommelt hatte, war demnach die Rache.
Ihre Geständnisse rechnet das Gericht den Angeklagten hoch an - wie auch das Schmerzensgeld von je 1000 Euro, das acht der neun Angeklagten gezahlt haben. Durch ihre Einlassungen wurde das Verfahren stark verkürzt. Auch das wirkte sich positiv auf das Strafmaß aus - mit dem die Verteidiger sogar ganz zufrieden sind.
Dass sie dennoch ankündigen, in Revision zu gehen, ist ein juristischer Kniff. Der zweite Prozess in Sachen Musiknacht zieht sich vermutlich noch bis in den Herbst. Dass die jetzt Verurteilten dort als Zeugen gegen ihre Freunde aussagen müssten, gilt als sicher. „Diese Tortur will ich meinem Mandanten nicht zumuten”, sagt der Rechtsanwalt Bernd Kiefer, der sie ihm tatsächlich ersparen könnte: Ist gegen ihn ein (Revisions-)Verfahrens anhängig, kann der Mann die Aussage verweigern.
Weil auch der Staatsanwalt prüft, Revision einzulegen - er hielt ja bis zuletzt am versuchten Mord fest - könnte es zu der bizarren Situation kommen, dass beide Parteien das Urteil anfechten. Ein Sieg sähe wohl für beide Parteien anders aus.
Knäste
zu Baulücken. Keine Knäste - kein Verbrechen!!!