Ein Gespräch mit Atilio Boron
Manola Romalo: Basierend auf Dokumenten des Pentagon, der CIA und des State Department, in denen die USA ihre kriegerische Position für die nächsten 30-40 Jahre definieren, sagten Sie auf der internationalen Konferenz „Lateinamerika und die Karibik - Unabhängigkeit der Metropolen und emanzipatorische Integration“ in La Habana (22. bis 24.11.) „dass das Imperium mit Haut und Haaren bereit sei, seine seit mehr als 50 Jahren genossenen Privilegien zu verteidigen.“
Atilio Boron: Ich bezog mich auf eine Anzahl von Dokumenten, die in ihrer Gesamtheit die Schwierigkeiten des Überlebens des nordamerikanischen Imperiums signalisieren, nicht auf seine in den letzten 50 Jahren genossenen Privilegien zu verzichten. Alles deutet darauf hin, dass diese Welt verschwunden ist. Die heutige zeichnet sich durch Rivalen und Konkurrenten aus, die in der Lage sind die Pläne der USA anzugreifen. Das Land muss sich auf eine lange Zeit der Kriege vorbereiten, um wenigstens einen Teil seines bis nach dem zweiten Weltkrieg vorhandenen Einflusses zu schützen.
Aus diesem Grund erstaunt der erneute, auf Lateinamerika und die Karibik extrem stark gerichtete Druck nicht. Er zeigt sich durch die etwa 20 Militärbasen die sich von dem Karibischen Meer bis zu den Falklandinseln erstrecken, 7 in Kolumbien, 4 in Panama, 2 in Paraguay und viele andere. Venezuela ist von Militärbasen umzingelt: Außer denjenigen in Kolumbien befinden sich, wenig Kilometer von seinen Stränden entfernt, die Basen von Aruba und Curaçao, die Holland angehören. Diese alte europäische Macht hat ihre militärische Infrastruktur dem Weißen Haus bereitgestellt, damit es Venezuela auf effektivere Art und mit geringeren Kosten angreifen kann. Hinzu kommt die Neuaktivierung der mächtigen Vierten Flotte der USA.
Zuletzt fingen die Vereinigten Staaten wieder an, militärische Staatstreiche in Lateinamerika anzustiften mit dem Ziel, freundlich gesinnte Regierungen zu errichten, damit diese die US-Pläne unterstützen die Region vollständig zu kontrollieren: Eine Tatsache die Noam Chomsky seit vielen Jahren signalisiert.
Manola Romalo: Obwohl die Chefin des State Department, Hillary Clinton, ihre Botschafter angewiesen hatte, wichtige Politiker weltweit auszuspionieren, beschuldigen nun die USA und ihre europäischen Alliierten Wikileaks wegen der Übermittlung von ca. 250. 000 Dokumenten an fünf neoliberale Printmedien, die „internationale Diplomatie zu gefährden.“ Um welche Art von Diplomatie handelt es sich?
Atilio Boron: Die Beschwerde der USA und ihrer politischen Klientel in Europa entbehrt jeglicher Substanz. Was bislang Wikileaks enthüllte, hat eine geringe Wichtigkeit, abgesehen von:
a) Der Untermauerung, dass Washington den Sitz der UNO in New York einer illegalen Spionage unterwirft, vermutlich auch die eigene Wohnung des Generalsekretärs, was eine sehr ernste Verletzung der internationalen Sicherheit und der Legalität bedeutet. Diese Tatsache ist lediglich von wenigen Regierungen aus Lateinamerika angeprangert und, zur Entehrung Europas, von keiner seiner Regierungen. Somit hat Europa sein Statut als Erbin der Lehren von Immanuel Kant verraten hinsichtlich der legalen Ordnung, die den Planeten regieren müsste.
Erinnern wir uns, dass Richard Nixon als Präsident der Vereinigten Staaten für viel weniger zurücktreten musste. Der Watergate Skandal ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, wie der Nobelpreisträger Obama der UNO gegenüber handelt.
b) Dem Beweis, dass Frau Clinton sehr wohl wusste, dass in Honduras „ein Putsch“ stattgefunden hatte, wie ihr eigener Botschafter die Geschehnisse in seinen Depeschen genannt hat. Sie ist jedoch über diese Information hinweggegangen und log die ganze Welt an, als sie sagte, dass dort ein Wechsel des Staatspräsidenten im Einklang mit der verfassungsmäßige Ordnung stattgefunden hat; diese Tatsache befleckt ihr Büro und das Weiße Haus mit der Sünde der Verlogenheit.
c) Dem Bezeugen die Hartnäckigkeit, mit der Washington die Stärkung der nationalen Integrationsprozesse in Lateinamerika behindert, indem es Intrigen spinnt und falsche Konfrontationen schafft. Auf diese Weise beweisen die USA ihre Treue gegenüber dem Befehl des Römischen Reiches: „Teile und herrsche“. Es offenbart, dass die Diplomatie der Vereinigten Staaten sehr wenig mehr ist, als eine perverse Kombination von Lügen, Bestechungen, Erpressungen und Aggressionen.
Manola Romalo: Auf der Konferenz mit dem aufschlussreichen Titel „Gefahr in den Anden“ vom 17. November im Washingtoner Kapitol trafen sich Republikaner und Demokraten mit lateinamerikanischen und kubanischen Terroristen aus Miami, die unter anderem Staatsstreiche in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Honduras unterstützten sowie Attentate gegen Cuba. Was bedeutet diese Veranstaltung für diese ALBA-Länder?
Atilio Boron: Nicht nur für die ALBA-Länder, sondern für alle Männer und Frauen guten Willens, beweist diese Konferenz mit aller Deutlichkeit die sehr ernste Bedrohung, die über Lateinamerika und der Karibik schwebt, wenn nachgewiesene, bekennende Terroristen und sie politisch und wirtschaftlich unterstützende Institutionen (wie die anwesenden ultra-rechten National Endowment for Democracy, International Republican Institute, Hudson Institute, etc. Anm. Red.) sich im Hauptsitz des Kongresses der Vereinigten Staaten treffen, um Meinungen und Erfahrungen über die beste Art auszutauschen, wie demokratische Regierungen aus der Region zu Fall gebracht werden können.
Wenn in den USA Gerechtigkeit herrschen würde, müsste ein Großteil dieser Leute wegen Gewalttaten – oder deren Apologie – und in einigen Fällen sogar wegen Mordes, hinter Schloss und Riegel sitzen. Vor diesem moralischen Verfall des Imperiums müssen die ALBA – und alle anderen Länder aus Lateinamerika und der Karibik – wegen Staatstreichen, Destabilisierung, separatistischer Versuche seitens Washingtons, extrem wachsam sein. Auch wegen der Komplizenschaft einiger europäischer Länder, die ihren Blick von Taten abwenden, die das universelle humanistische Gewissen, welches in der Vergangenheit brillante Vertreter der europäische Kultur hervorgebracht hat, anwidert.
Manola Romalo: Während die durch die Europäische Union aufgezwungene „neoliberale Plage“ von der Sie in Ihrer Studie „Sozialismus des 20. Jahrhunderts“ (Originaltitel) eine bissige Analyse liefern, Millionen Europäer in die Armut stürzt, implementieren die revolutionären Regierungen Venezuelas, Ecuadors und Boliviens zusammen mit ihren Völkern in der Geschichte Lateinamerikas noch nie dagewesene politische Reformen …
Atilio Boron: Ich glaube, der Schlüssel besteht in der Tatsache, dass diese Regierungen beschlossen haben, sich vollständig von den neoliberalen wirtschaftlichen Rezepten zu entfernen, die Lateinamerika Tragödien und Elend gebracht haben. Eine außerordentliche Synthese dieser Politik und ihre vernichtende Kritik findet sich in dem Buch, das Rafael Correa, der Präsident von Ecuador geschrieben hat und dessen dritte Auflage (auf Correas Wunsch) mit meiner Einführung beginnt. (Am 3. Dezember hat Rafael Correa das Buch zusammen mit Atilio Boron in Buenos Aires vorgestellt, Anm. Red.)
Diese Art von Politik hat unsere Wirtschaft vernichtet, plünderte unsere Ressourcen aus, überführte die Reichtümer unserer Länder dem großen Kapital und seiner Alliierten und hat die Mittelklasse verarmt, während die untersten Volksschichten in Bedürftigkeit gestützt wurden. Die „bolivarischen“ Leader hatten die Intelligenz und die Kühnheit gegen festgesetzte Interessen zu kämpfen, haben die Wirtschaft in den Dienst der Gesellschaft gestellt, beschnitten minutiös die Privilegien des Marktes und, vor allem, hörten nicht die Ratschläge der großen internationalen Bürokratien, der intellektuellen Urheber der Ausplünderung unserer Länder.
Darüber hinaus haben diese großen Leader die Handlungskraft der Massen gestärkt, anstatt sie zu demoralisieren und ihre Mitwirkung zu vermindern, wie es zurzeit in Europa geschieht. Auch haben sie die demokratischen Institutionen perfektioniert, indem sie zahlreiche Volksbefragungen als Plebiszit, Referendum, Widerrufungswahlen ihres Mandats durchführten. Auf diese Weise berief ein Präsident wie Rafael Correa sechs nationale Wahlen in vier Jahren und gewann sie! Chávez hat sechzehn Generalwahlen in elf Jahren gehalten und fünfzehn davon gewonnen. Evo Morales Rekord ähnelt dem von Correa. Welcher europäische Machthaber erreicht einen solchen Grad an politischer Legitimität? Trotzdem bezeichnen die großen Medien diese lateinamerikanischen Präsidenten als „Diktatoren“ oder im besten Fall als „autoritär“.
Mit Staunen und Unbehagen beobachten wir, wie sich der seit Jahrzehnten in die öffentlichen Innenpolitik Europas nicht einmischende Internationale Währungsfond (IWF) jetzt in Erscheinung tritt und diktiert, was die Regierungen tun müssen. Das haben wir schon in Lateinamerika und in der Karibik „experimentiert“. Die Ergebnisse waren katastrophal. Wir haben Schwierigkeiten zu glauben, dass Europas Völker es akzeptieren, sich unter das Mandat des IWF zu begeben. Aber ihre Regierungen haben jeglichen Anspruch der Souveränität und Autonomie aufgegeben: Das Einzige, das sie bereit sind zu tun, ist vor den Anforderungen des großen Finanzkapitals niederzuknien.
Dr. Atilio Boron, Autor zahlreicher Bücher und Publizist, lehrt politische und Sozialtheorie an der Universität von Buenos Aires und ist u.a. Mitglied des Nationalen Rats Argentiniens für wissenschaftliche und technische Forschung. Sein Buch „Den Sozialismus neu denken. Gibt es ein Leben nach dem Neoliberalismus?“ erschien im Oktober. (VSA-Verlag, Hamburg). Zuerst veröffentlicht auf deutsch von Hintergrund.