Nun rollen sie los: Die Waggons mit der strahlenden Fracht - und: die Freunde und Freundinnen einer unverstrahlten Umwelt. Beide haben das gleiche Ziel: Gorleben im Wendland. Doch woher wissen, was wann geht? Im sogenannten "Web 2.0" vernetzt sich der Widerstand - heißt es allenthalben. Hört selbst, wie sich einer auf den Weg macht.
Ich hab die Nase voll. Die Frühstückszeitung war einfach zu viel.
Diese unverfrorene Lobbypolitik hier kotzt mich schon lange an. Die
Geschichte mit den Hotelbesitzern und der Mehrwertsteuer, das ganze Jahr
über die Umverteilungspolitik nach oben, jetzt der Deal für die vier
großen Atomkonzerne. Das nimmt kein Ende. Und jetzt? In die Esoterik
flüchten und mich nur noch um das „Innen“ kümmern? Frustriert
politikverdrossen werden? Die bürgerliche Lokalpresse neben meiner
Kaffeetasse meinte: Politikverdrossenheit war gestern. Heute ist
Politiker-Verachtung. Jo, kann ich nachvollziehen.
Also Flucht nach vorn. Ich misch mich jetzt mal ein. Auf nach
Stuttgart. Und dann ins Wendland. Zum Castor. Berufsdemonstrant? Na,
feste Anstellungsverhältnisse waren gestern. Heute gibt’s „Jobs“. Also
von mir aus Teilzeitberufsdemonstrant. Mal für ne Woche erstmal.
O-Ton oben weiter: Tür auf, Bahnsteig
Das ist er also, der Kopfbahnhof. In der Tat, könnte mal gehübscht
werden. Klar, hat die Bahn ja seit Jahrzehnten vergammeln lassen. Ich
frag mich: Wo geht hier eigentlich was? Gestern im altgedienten
Fernsehen: Einfach-so-Widerstand war gestern, heute ist Widerstand 2.0.
OK, erstmal verstand ich nur Bahnhof, aber dann erklärten sie's ja:
Ich brauch Twitter, Facebook und rss-feeds. Außerdem mobiles Equipment.
Na gut, mein Rucksack ist zwar alt aber riesig, da passt neben dem
ganzen anderen Zeug auch noch Notebook und neumodisches Händi rein.
O-Ton oben weiter: Bahnhof
Hier ist er also, der Park. Die Parkschützer sind auch
allgegenwärtig, mit Flyern und persönlich. Vor mit das tiefe Loch mit
den fleißigen Bauarbeitern. Hier hat die Tage das Blockierfrühstück für
Verdießlichkeiten gesorgt. Drinnen wird nämlich verhandelt und hier
draußen weiterbetoniert. Klar, so was sorgt hier für
Politiker-Verachtung. Versteh ich.
Prägnanter O-Ton oben weiter, Gleisansage
So, jetzt mal meinen modernen Widerstand-2.0-Schnickschnack
ausgepackt. Nochmal kurz im Zug, nach Wendlingen. Hierher soll der
Stuttgart-21-Tunnel gegraben werden. Ich mach mich jetzt mal schlau. Was
hier in Stuttgart geht. Vor Ort sozusagen. Nur solls am Wochenende
gleich weitergehen nach Gorleben. Also zuerstmal ganz konservativ, das
WorldWideWeb bietet ja so einiges.
O-Ton aus 13:55: Tippen, klicken
Sagmal, die Leute aus dem Wendland sind echt Profis: Auf „castor2010.de“
findet sich ja wirklich alles. Könnte auch von den Web-Profis vom
Dannenberger Fremdenverkehrsamt erstellt worden sein. Hier fehlt nix. Was geht
auf den Camps, was machen die alten Leute, wenn sie sich gewaltfrei vor
den Castor aufs Gleis setzen, was machen die Party-People vom
Aktionsbündnis „Atomkraft wegbassen“. Super. Hab ich heute morgen noch
leicht gezögert, hat mir „castor2010.de“ jetzt gesagt, wo's langgeht.
Hab mich jetzt mal bei der Schlafplatzbörse gemeldet, keine Ahnung, wie
die dort paar 10.000 FreundInnen einer unverstrahlten Welt unterbringen
wollen.
Und wie war das mit Indymedia? Hm, geht so. Find ich nix soo tolles.
Oder doch? Google, die verfluchte Datenkrake, weist mir den Weg:
„linksunten.indymedia.org“ ist aktuell und hintergründig. Wow, selbst aufs Ohr gibt’s hier was, ein Klick ...:
O-Ton Doppelklick
O-Ton (Homeverzeichnis): Castorbeitrag
… und ich höre die aktuellesten Castor-Beiträge der Freien Radios...
Na gut, is doch aber alles etwas Oldschool, auch der SMS-Service ist ja eher Technik die Staub ansetzt.
Was ist nun mit Widerstand 2.0? Brauch ich da nicht Facebook?
Schweren Herzens nun also dochmal einen -Account bei denen angelegt,
aber, tja, was mein schickes Internet-Händi da zu Tage fördert, ach,
tja, nu … - Vielleicht bin ich auch nur frustriert, weil ich keine
Facebookfreunde hab? Egal, /das/ brauch ich glaub ich nicht. Komm dann
aber über den Blog von atomkraftwegbassen auf was superpraktisches: die
Packliste. Regenhose? Hab ich. Feste Handschuhe? Hab ich. Edding, Perso, Mütze. Jaa. Maloxan? Ah, wegen Pfefferspray. Na gut.
O-Ton aus 15:40: Fahrkartenkontrolle
Aber jetztmal Twitter. Soll ja der schnellstmögliche Infokanal sein.
Ob wirklich? Geht ja aufm Laptop genauso wie aufm Internethändi, also
mal testen. Ich tapp erstmal im dunkeln, doch dann plätschern die
Kurznachrichten rein. Ich bin begeistert! Erfahre, dass ich zwar erstmal
Licht ins Dunkel – oder, sagen wir … „ins Getwittere“ bringen muss,
aber dann? Ich werde also Follower von so einigen mit-twitterern, folge
natürlich gorleben2010 und castor2010, auch mal castorschottern und
castorticker. Schick auch: schotterpresse, ein twitterkanal extra für
Presseleute. Ich bin gespannt. Erfahre aber – längst vor dradio und
tagesschau – dass Greenpeace heute von unterirdischen Erdgasvorkommen in
Gorleben berichtet. Und dass die Polizei ein Camp bei Gorleben verboten
hat. Aber zur Stunde schon ein neues auf die Füße gestellt wird. Super.
Widerstand 2.0 klingt gut.
Aber Internetwiderstand is irgendwie auch doof. Werd auf jeden Fall
mal den Familiensonntag mit Konzert und hohem Party-Faktor in Dannenberg
mitnehmen.
Übrigens: Die Schlafplatzbörse bietet mir grad ein beheiztes Zimmer
in Dannenberg an. Mit Kaffee. Ohne Geld. Suuper. Die freun sich einfach
über Unterstützung. Vielleicht bleib ich ja doch länger. Guck mir mal
„Castor? Schottern!“ an? Mal schaun. Vielleicht folgt ja auf
Politikerverachtung und Widerstand 2.0 die Demokratie 2.0? Die, bei der
mensch sich nicht mehr in die Suppe spucken lässt? Schaun mer mal.
Sonntag. In Dannenberg.