Todesstrafe wirklich abgeschafft?
Im Artikel 102 Grundgesetz heißt es: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“; stattdessen jedoch verwahrt die Justiz Gefangene über Jahre und Jahrzehnte, so dass vielfach Gefangene und Angehörige/Freunde von einer „Todesstrafe auf Raten“ sprechen.
Überlange Inhaftierung als Problem
In den Medien wird vielfach die Behauptung verbreitet, in Deutschland dauere die lebenslange Freiheitsstrafe maximal 15 Jahre. Gerne wird von konservativer Seite diese Aussage immer mal wieder wiederholt; so schrieb ein ehemaliger Leiter einer Mordkommission aus München in seinen Erinnerungen, es gebe in Deutschland Bundesländer, in welchen die lebenslange Freiheitsstrafe im Durchschnitt nur acht Jahre dauere.
Faktisch existieren kaum Zahlen hinsichtlich jener Gefangenen-Gruppe, die sich schon Jahrzehnte in Haft befindet. In den letzten Jahren wurde gelegentlich über den Fall Pommerenke berichtet; er starb dann im 49. Jahr seiner Inhaftierung, wurde als Extrembeispiel dargestellt. Als wäre er in Deutschland der einzige Inhaftierte, der so lange einsäße.
Dabei sitzen alleine im Land Berlin 12 Gefangene schon seit über 25 Jahren ununterbrochen im Gefängnis.
Der GRÜNE Abgeordnete Dirk Behrendt frug am 10.06.2010 den Berliner Senat, wie viele Gefangene denn nun schon seit Jahrzehnten einsäßen. Was folgte, ist mit Vernebelungstaktik noch schmeichelhaft umschrieben. Gisela von der Aue, die Justizsenatorin, antwortete am 19.07.2010, in Berlin säße kein Gefangener länger als seit 1975 in Haft.
Insgesamt 14 Inhaftierte befänden sich seit 20 und mehr Jahren hinter Gittern (vgl. Drucksache 16/14 495 des Abgeordnetenhauses Berlin). Als dieses Ergebnis publik wurde, meldeten sich Gefangene bei dem Abgeordneten und merkten an, dass die Auskunft falsch sein müsse, da sie Gefangene kennen würden, die noch länger in Haft säßen. Also hakte er nach – und siehe da, plötzlich tauchten 6 Inhaftierte auf, die schon vor 1975 in Haft gelangten (Antwort der Justizsenatorin vom 23.10.2010). Jedoch weigerte sie sich, die Gründe für die lang dauernde Verwahrung der Menschen transparent zu machen, da dies einen – Zitat - „unvertretbaren Arbeitsaufwand“ darstellen würde.
Wir sprechen hier also ausschließlich von jenen Gefangenen, welche sich ununterbrochen in Haft befinden; noch nicht eingerechnet sind jene, welche „zwischendurch“ mal auf Bewährung oder nach Vollverbüßung entlassen wurden und dann wieder ins Gefängnis kamen.
Zahlen aus den übrigen 15 Bundesländern sind nicht bekannt.
Soweit ersichtlich wird aktuell in Deutschland, aber auch darüber hinaus, ein Bruchsaler Gefangener „Rekordhalter“ sein, mit 50 Gefängnisjahren ununterbrochen in Haft.
Bundesweit dürfte man durchaus auf eine Zahl von an die hundert, oder gar mehr Gefangene kommen, die über 25 Jahre hinter Gittern sitzen.
Wo ist das Problem?
Zum einen dauert lebenslange Haft im Durchschnitt für jene, die dann entlassen wurden, zwischen 18 und 21 Jahren (wohlgemerkt, in diese entsprechende Statistik werden nur die entlassenen Betroffenen eingerechnet). So wird also auf dem Rücken der Gefangenen durch Verbreiten falscher Zahlen Politik gemacht.
Zum anderen geht es in jedem Einzelfall um ein Schicksal, einen Menschen, der vor Jahrzehnten etwas getan hat, das er heute vielleicht bereut, zu dem er jedoch jeglichen Bezug verloren hat. In aller Regel verlieren Inhaftierte nach 8 bis 10 Jahren den inneren Bezug zu den Delikten, wegen derer sie inhaftiert worden sind. Strafvollzug wird ab diesem Moment, was Kritiker und auch Vollzugspraktiker durchaus einräumen, zum bloßen Verwahrvollzug (ob er zuvor je etwas anderes war, soll hier nicht diskutiert werden). Zu einer Todesstrafe auf Raten. Es gehen die sozialen Bedingungen verloren, Freunde, Verwandte sterben – und der Gefangene läuft immer die gleichen Runden im tristen Gefängnishof, kennt dort jede Mauerritze, jeden Stein, abgeschnitten vom Leben.
Mit Menschenwürde und einer Gesellschaft, die sich angeblich auf den Resozialisierungsgedanken verständigt hat, erscheint die Praxis, Gefangene für Jahrzehnte, ja ein halbes Jahrhundert lang wegzuschließen, nicht vereinbar.
Lösungen seitens der Justizsenatorin
In den Vollzugsanstalten wird nicht primär daran gearbeitet, diesen Personenkreis auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten, oder hierfür zu motivieren. Nach Jahrzehnten der Unfreiheit sind mehr oder weniger ausgeprägte Hospitalisierungstendenzen zu bemerken. Was soll man auch erwarten, nach so vielen Jahren der Fremdbestimmung!? Anstatt sie also auf eine Entlassung vorzubereiten, wozu die Justiz auch nach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet wäre, wird über ein angeblich „menschenwürdiges“ Sterben im Vollzug nachgedacht. Es gibt Arbeitsgruppen, die sich in den Justizministerien und den Gefängnissen in der Tat mit diesem Thema intensiv befassen. Soll man Gefangenen ermöglichen, in ihrem Haftraum den letzten Atemzug zu tun, also in ihrem gewohnten Umfeld, soll man sie zwangsweise, wenn das Ende naht, in ein Vollzugskrankenhaus verlegen? Das sind Fragestellungen, mit denen sich die Justiz nachdrücklich beschäftigt.
Gefragt ist die Gesellschaft
Aus meiner Sicht ist hier die Gesellschaft in der Pflicht. In ihrem Namen („im Namen des Volkes“) wurden die Menschen weggesperrt, nun müssen sie auch wieder integriert werden. Aber nur, wenn an Abgeordnete, an Gefängnisse, an die Justizministerien die Forderung herangetragen wird, auch diesen Menschen, die nun schon Jahrzehnte hinter Gefängnismauern verschwunden sind, die dort faktisch auf ihren Tod warten, eine Chance zu geben, noch die letzten Jahre ihres Lebens in Freiheit zuzubringen, wird sich etwas bewegen.
Sicherlich mag es mehr Prestige einbringen, sich um Waisenkinder zu bemühen, als um alte Männer, die vor Jahrzehnten gefehlt haben, oft in sehr grausamer Weise, was auch niemand in Abrede stellt, die aber durch Jahrzehnte in der Gefängniszelle letztlich mehr als genug gebüßt haben.
Thomas Meyer-Falk, z. Zt. JVA – Z. 3113, Schönbornstr. 32, D-76646 Bruchsal
http://www.freedom-for-thomas.de
https://freedomforthomas.wordpress.com
das gleiche existiert institutionalisiert bereits den USA
Life, without the possibility (02.11.2010 - engl)
http://socialistworker.org/2010/11/02/life-without-possibility