Wenige Pflastersteinwürfe, eine Barrikade, Böller und Wasserbomben – nach Leipziger Maßstäben verlief der Sonnabend mit einer Neonazi-Demo und einem Dutzend Protestversammlungen nahezu friedlich. Vielfach befürchtete Krawalle wie am 12. Dezember 2015 blieben diesmal aus. „Leipzig war heute kein Ort zügelloser Gewalt“, stellte Polizeisprecher Andreas Loepki am Abend fest.
Etwa 150 Anhänger der Neonazi-Partei „Die Rechte“ zogen von der Semmelweisbrücke über die Straße des 18. Oktober bis zum Bayrischen Platz. Eine durch zwei Gerichtsinstanzen bestätigte Ausweichroute: Nachdem das Ordnungsamt hinsichtlich der ursprünglich angemeldeten Demo-Strecke zwischen Kurt-Eisner-Straße, Karl-Liebknecht-Straße, Arno-Nitzsche-Straße und Zwickauer Straße massive Sicherheitsbedenken geltend gemacht hatte, scheiterte Anmelder Christian Worch vor Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht.
Großer Protest gegen Rechtsradikale
Der Aufzug musste ein paar Mal wegen Verstößen gegen das Vermummungsverbot gestoppt werden und war begleitet von massiven Protesten. Das Aktionsnetzwerk „Leipzig nimmt Platz“ sprach von mehr als 2000 Teilnehmern, die Polizei von 1000. Es hatte bereits am Vormittag zu einer Gegendemonstration mobilisiert, die vom Leuscherplatz bis zur Kurt-Eisner-Straße/Ecke Lößniger Straße führte. Größter Aufreger hier: Ein offenbar verwirrter Mann, der am Straßenrand den Hitlergruß zeigte und vorläufig festgenommen wurde. Nach Ende dieses Aufzugs gingen die meisten Neonazi-Gegner dann zu den weiteren Protestkundgebungen am Deutschen und Bayrischen Platz.
Hier kam es zu vereinzelten Rangeleien zwischen Polizei und Gegendemonstranten, welche auf eine kürzere Distanz zu den Neonazis pochten. „Auf der von mir angemeldeten Kundgebung am Deutschen Platz räumte die Polizei den hunderten Gegendemonstranten sukzessive mehr Raum ein und ließ den lautstarken Protest unmittelbar in die Nähe der von den Nazis abgehaltenen Zwischenkundgebung rücken“, so Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke). „Leider erst nachdem die Polizei physischen Druck auf Demonstrierende ausgeübt hatte, wobei eine Person verletzt wurde.“ Aufgeladen war die Atmosphäre auch in der Straße des 18. Oktober. Auf einem Abschnitt von 250 Metern waren zwischen Worch-Anhängern und Gegendemonstranten nur ein Absperrgitter und Polizeikräfte. Hier flogen Böller, einzelne Steine und mit Wasser gefüllte Ballons auf die Rechtsextremen. Ein Teilnehmer soll ein Knalltrauma erlitten haben. Steine flogen nach Angaben der Polizei auch am Bayrischen Platz.
Vermummte attackieren die Polizei
Schon vor Beginn hatten Neonazi-Gegner versucht, die Demo zu behindern. Am Vormittag starteten zehn Leute eine Sitzblockade in der Straße des 18. Oktober. Andere versuchten, Polizeisperren zu durchbrechen, um auf die Route zu gelangen. So sah sich die Polizei gezwungen, den Fußgängerüberweg zwischen Kohlenstraße und Dösner Weg mit einem Wasserwerfer und einem Räumpanzer abzusichern. Einige Chaoten lieferten sich fernab des Protests Scharmützel mit den Beamten. So attackierten rund 20 Vermummte in der Arthur-Hoffmann-Straße Beamte und Einsatzfahrzeuge mit Steinen, warfen Böller, bauten eine Barrikade und skandierten „ACAB“ (steht für die englischsprachige Parole „All cops are bastards“ – „Alle Polizisten sind Bastarde“). Einige von ihnen wurden später in der Karl-Liebknecht-Straße gefasst, gegen sie wird wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt. Andere wollten in der Brandvorwerkstraße Mülltonnen abbrennen, doch die Feuerwehr löschte rechtzeitig. Bemerkenswert: In der Connewitzer Brandstraße waren es Anwohner, die solche Aktionen verhinderten und sogar beim Abbau der Barrikaden halfen.
Die Bilanz der Polizei: 20 Straftaten, darunter acht Verstöße gegen das Versammlungsgesetz. 15 Personen kamen in Gewahrsam, wurden aber noch im Laufe des Samstagabends wieder auf freien Fuß gesetzt. In zwei weiteren Fällen wurden Haftbefehle aufgrund früherer Delikte vollstreckt. Mit mehr als 2500 Einsatzkräften aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Berlin, Brandenburg sowie vom Bund war die Polizei im Einsatz – deutlich weniger als zunächst erwartet. Begleitet wurde der Großeinsatz auch von drei Hubschraubern, der Pferdestaffel, Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen. Vor allem aber sorgten die zahlreichen Kommunikationsteams in ihren blauen Westen für weitgehend entspannte Stimmung, wenn sich die Lage hochzuschaukeln drohte. Ein gewaltfreier Verlauf, so die Polizei, „wäre aber ohne das aktive Zutun vieler Beteiligter des Gegenprotests, maßgeblich zahlreicher Initiatoren der Leipziger Bürgerschaft, der Lokalpolitik und all derer, die sich besonnen gegen Extremismus positionierten, nicht zustande gekommen“.
Nagel kritisiert Eingriff in Grundrechte
Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) dankte gestern den zahlreichen Demonstranten in einer Audiobotschaft. Sie hätten gezeigt, dass in Leipzig kein Platz für Rassisten, Extremisten und Neonazis sei. Eine besonnene Polizei habe wesentlich dazu beigetragen, dass es friedlich geblieben ist. Auch „Leipzig nimmt Platz“ lobte „die gute Kommunikation mit Ordnungsamt und Polizei“, der Einsatz von besonders ausgebildeten Kommunikationsteams habe sich als hilfreich erwiesen. Juliane Nagel meinte, dass durch das Zulassen von Protest in Hör- und Sichtweite befürchtete Eskalationen vermieden werden konnten.
Kritik übte die Linken-Politikerin, weil die Polizei „alle Protestkundgebungen, ungeachtet ihres Verlaufs, per Videografie in die Einsatzzentrale der Polizei übertragen“ habe. Dies sei ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der Demonstranten. Gleiches gelte auch für die Entscheidung des sächsischen Innenministeriums, für das gesamte Stadtgebiet einen Kon-trollbereich anzuordnen. Nach Angaben der Polizei galt dies bereits für den Freitagabend vor den Demos und über den Sonnabend hinaus. Nagel monierte, dass die Polizei ausgiebig von der Möglichkeit verdachtsunabhängiger Personenkon-trollen Gebrauch gemacht habe. „Zu beiden Aspekten werde ich kritische Nachfragen an die Staatsregierung stellen“, kündigte sie an.
Auch „Leipzig nimmt Platz“ zieht bei allem Lob für die Polizei klare Grenzen der Zusammenarbeit. Während die Polizei per Twitter erklärte: „Es gibt zahlreiche Versuche, auf die Aufzugsstrecke der rechten Demo zu gelangen. Dies können wir nicht zulassen!“, richtete Netzwerk-Sprecherin Irena Rudolph-Kokot „einen besonderen Dank an alle Aktivisten, die trotz eines Großaufgebotes der Polizei an vielen Stellen versucht hatten, Absperrungen zu überwinden und den Aufmarsch zu verhindern. Zu diesem Ziel bekennt sich das Aktionsnetzwerk.“
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Es war ein Protest der besonderen Art: Während Neonazis ihre Zwischenkundgebung am Deutschen Platz abhielten, gab es an der Philipp-Rosenthal-Straße eine Mahnwache. Bei einer Installation wurden Bilder von Gerda Taro gezeigt. Der Todestag der Fotografin, die sich in den 1930er-Jahren gegen Nationalismus und Faschismus engagierte, jährt sich zum 80. Mal.
Es versammelten sich Mitglieder des Bürgervereins Messemagistrale mit den Initiatoren der Installation, dem Bund der Antifaschisten Leipzig und der AG Willkommen. Dem Aufruf „Für ein antifaschistisches und solidarisches Leipzig im Sinne von Gerda Taro“ folgten etwa 40 Personen. Zunächst hätte es zwar Zugangsprobleme gegeben, so Wolfgang Denecke, der Vorsitzende des Bürgervereins. Doch die Polizei sei kooperativ gewesen und man hätte das Problem später gelöst. David Knapp
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