[B] Der "Extremismus"-Kongress der AfD in Berlin und seine Redner

Dietrich Murswiek

Am Samstag, den 18.03.2017, veranstaltet die AfD einen bundesweiten „Extremismus“-Kongress in Berlin. Organisiert wurde er maßgeblich von den Innenpolitiker*innen der AfD in den Landtagen. Da aufgrund der Thematik sowie der Redner antifaschistische Proteste oder die Absage des angemieteten Raumes befürchtet werden, wird der genaue Ort weiterhin geheim gehalten. Aus diesem Grund werden auch die Aktionen gegen den Kongress sehr kurzfristig geplant werden müssen. Achtet hierfür auf weitere Ankündigungen! Es lohnt sich dennoch im Vorfeld ein Blick auf die eingeladenen Redner sowie das Konzept des Extremismus als politischen Kampfbegriff im Allgemeinen.

 

Fast ausschließlich Redner mit rechter Vergangenheit geladen

 

Beim Blick auf die Liste der angekündigten Redner fällt auf, dass viele von ihnen Schnittstellen oder enge Verflechtungen zu einem Milieu zwischen Neuer Rechten, Rechtskonservatismus und Rechtspopulismus aufweisen. Ein Beispiel ist der CDU’ler und Rechtswissenschaftler Dietrich Murswiek. Er publizierte unter anderem in der rechtskonservativen Zeitung „Criticón“, war zu Hoschschulzeiten im “Nationaldemokratischen Hochschulbund” in Heidelberg aktiv und arbeitete für den rechten “Deutschen Studenten- Anzeiger”. Ein weiterer Redner ist Andreas Lombard. Er verfasste das homophobe Buch “Homosexualität gibt es nicht. Abschied von einem leeren Versprechen” und erhielt im Jahr 2007 den von der rechtsreaktionären Wochenzeitung “Junge Freiheit” verliehenen „Gerhard- Löwenthal- Preis“. Doch Lombard schreibt nicht nur selbst, sondern hilft auch anderen ihre menschenverachtenden Gedanken zu verbreiten. So tritt er u.a. als Mitherausgeber des Buches “Attacke auf den Mainstream – Deutschland von Sinnen” von Akif Pirinçci auf. Wie üblich hetzt Pirinçci in besagtem Buch in einem zutiefst beleidigenden Tonfall gegen Homosexuelle, Migrant*innen und Frauen und verbindet auf diese Weise Ansichten eines konservativ rechten Lagers mit menschenfeindlichen und teilweise offen rechtsradikalen Parolen. Während die Ausbrüche von Pirinçci selbst für PEGIDA zu viel waren, sodass er seine Rede zum ersten Jahrestag am 19.10.2015 abbrechen musste, scheinen sie für Andreas Lombard noch durchaus vertretbar zu sein. Ebenfalls lohnt ein Blick auf Nicolai Sennels. Er ist ein dänischer Schulpsychologe, der früher in der rechten “Dänischen Volkspartei” aktiv war und sich heute durch antimuslimische Hetze einen Namen gemacht hat. In verschwörungstheoretischer Art bezichtigt er Muslim*a in Interviews pauschalisierend der Errichtung eines „Kalifats“ und schwafelt von “muslimischen Ghettos” in denen es “No- Go-Schariazonen” gebe. Er ist zudem Veranstalter des ersten dänischen PEGIDA- Marsches im Januar 2015.

 

Das wissenschaftliche Feigenblatt

 

Auffällig ist, dass viele der Redner in wissenschaftlichen Kreisen kaum bekannt oder irrelevant sind, sodass der Gehalt des vermeintlichen Kongresses selbst für die AfD-Teilnehmenden höchst zweifelhaft ist. Der wissenschaftlich dickste Fisch in der Runde der Vortragenden ist ohne Zweifel Werner J. Patzelt. Breitere Bekanntheit erlangte der Professor der TU Dresden vor allem als großer „PEGIDA-Versteher“. In seinen eigenen Forschungen und zahlreichen Medieninterviews lässt er nichts unversucht, um die völkisch-nationalistischen Proteste in Dresden in einem möglichst positiven Licht erscheinen zu lassen. In seinen Augen besteht der protestierende Volksmob lediglich aus Menschen, die sich von Politik und Medien nicht mehr repräsentiert fühlen und ihre somit berechtigten Sorgen und Ängste nun auf die Straße tragen. Wenn sich diese „armen Bürger*innen“ dann diskriminierend äußern, ist das nur Ausdruck, dass sie es nicht besser wissen und Gewalt würde ohnehin nur von einer kleinen und damit nicht beachtenden Gruppe unter den PEGIDIAner*innen angewendet. In diesem Zusammenhang gefällt sich Patzelt als wissenschaftlicher und damit über alles erhabener Mittler, der „das Volk“ versteht und dessen „Willen“ und eine weniger aggressive und damit für den politischen Diskurs anschlussfähigere Form bringt. Diese „Veredelung des empirisch vorfindbaren Volkswillens“ ist jedoch nichts anderes als eine andere Verpackung diskriminierender und menschenfeindlicher Ansichten. Auf diese Weise sollen diese dann auch außerhalb des „besorgten Bürger*innen“ wahrgenommen und bestenfalls politisch umgesetzt werden. Bei einem solchen übersteigerten Mitteilungsbedürfnis verwunderst es wenig, dass Patzelt auch auf allen Hochzeiten tanzt. Von Interviews mit der „Jungen Freiheit“, über Vorträge im neurechten ThinkTank der Berliner „Bibliothek des Konservatismus“ bis zu Diskussionsveranstaltungen mit Thilo Sarrazin in Dresden – Patzelt ist sich für nichts zu schade. Da passt die Teilnahme beim „Extremismus“-Kongress der AfD gut ins Bild. Im Gegensatz zu den anderen Vortragenden ist Werner Patzelt jedoch in dem Sinne ein Sonderfall, da seine Arbeiten nicht nur in einem kleinen neurechten Kreis rezipiert werden, sondern in der gesamten (Medien-)Öffentlichkeit der BRD Anklang finden. Jetzt soll er auch noch federführend bei der Errichtung eines Bundesinstituts „für gesellschaftlichen Zusammenhalt“ in Dresden involviert sein. Sollten sich die Gerüchte bestätigen würden rund 37 Millionen Euro für fünf Jahre in potentiell politisch fragwürdige Forschungen fließen. Es wird also höchste Zeit, ihn spüren zu lassen, dass das Verständnis für Rassist*innen Konsequenzen hat.

 

Kritik des Extremismus-Begriffes


In der BRD befand sich der Begriff des „politischen Extremismus“ als rechtspolitische Kategorie erstmals im Bericht des Verfassungsschutzes von 1973. Als neue Kategorie lehnte er sich jedoch an die bereits bestehende Totalitarismusdebatte an, die im deutschen Kontext vor allem zur Erklärung der Entwicklungen in der Weimarer Republik angewendet wurde. Im Kern geht es dabei um eine Gleichsetzung der NSDAP und KPD als totalitäre und damit gegen die Demokratie gerichtete Kräfte. Ideologische Unterschiede der politischen Parteien und Strömungen spielen dabei keine Rolle. Auf diese Weise soll der Eindruck entstehen, als ob die Weimarer Republik gleichsam von Linken und Rechten unterhöhlt bzw. zerstört wurde. Dies entspricht jedoch kaum den historischen Tatsachen. Der Sozialdemokrat Theodor Geiger, der das Wahlverhalten der Bürger*innen in der Weimarer Republik untersuchte, kam im Rahmen seiner Studie „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ zu dem Ergebnis, dass vor allem eine von Abstiegsängsten bedrohte Mittelschicht für die Wahlerfolge der Nationalsozialisten verantwortlich war. Geigers Thesen wurden später vom Soziologen Seymour Martin Lipset zum Theorem des „Extremismus der Mitte“ weiterentwickelt. Dabei geht es nicht darum, diskriminierende und menschenfeindliche Einstellungen oder Verhaltensweisen an den Rändern der Gesellschaft zu verorten, sondern ihre Verbreitung in allen Teilen offenzulegen.
Doch warum konnte es zu einer Neuauflage des Totalitarismus-Begriffes in Form von „Extremismus“ kommen? Der Verfassungsschutz sagt von sich selbst, dass er sich Informationen beschaffe, um mögliche Bestrebungen, die sich gegen Verfassung und Staat richten, aufzuklären. Der „Extremismus“-Begriff sei dabei ein Werkzeug, um diese Bestrebungen zu erfassen. Doch was sind seine Hintergründe? Maßgeblich führend in der bundesdeutschen “Extremismus”-Debatte sind Uwe Backes und Eckard Jesse, welche zur Theorie des „politischen Extremismus“ ein Hufeisenmodell entworfen haben. Laut diesem Modell gibt es eine verfassungskonforme „Mitte der Gesellschaft“, die die Mitte eines Hufeisens bildet. Davon gehen links und rechts gleichermaßen „extreme“ Pole ab, die sich in ihren Methoden und vor allem ihrem Ziel, der vermeintlichen Abschaffung des “demokratischen Rechtsstaats”, annähern. Das linke Ende des Hufeisens wird mit „linksextrem“ und das rechte Ende mit „rechtsextrem“ gekennzeichnet, während der Weg zu den Enden mit „links“ und „linksradikal“ sowie „rechts“ und „rechtsradikal“ gekennzeichnet wird.
Das Modell des Hufeisens sowie der Begriff des „Extremismus“ sind in der Politikwissenschaft heftig umstritten, da die „politische Mitte“ eine Konstruktion darstellt, die immer abhängig vom jeweiligen Staatsmodell und der Verfassung ist und somit ein Mittel darstellt, andere Vorstellungen vom Zusammenleben als “verfassungsfeindlich” delegitimieren zu können. Problematisch ist, dass bei der Gleichstellung von „Linksextremismus“ und „Rechtsextremismus“ die inhaltlichen Differenzen kaum beachtet werden. So werden fundamentale Gleichheitsbestrebungen und antiautoritäre Ideen von Links mit Ungleichheitsideologien der extremen Rechten auf eine Stufe gestellt. Zudem ist die Vorstellung, dass rechte Ideologien und Übergriffe lediglich ein Randphänomen seien, ein Trugschluss, wie nicht zuletzt die Wahlerfolge der AfD zeigen. Insgesamt ist die Einteilung in „verfassungskonform“ oder “mittig” sowie „links- und rechtsextrem“ vor allem politisch motivierte Willkür.

 

Mit dem Bezug zum Extremismus-Konzepte versucht die AfD den politischen Kampfbegriff als Instrument zur Erklärung gesellschaftlicher Entwicklungen salonfähig zu machen. Ähnliche Vorstöße der CDU/CSU unter Kristina Schröder (vormals Köhler) sind vor wenigen Jahren bereits gescheitert, hatten aber in Form verschiedenster Extremismus-Klauseln deutliche Auswirkungen auf linke politische (Bildungs-)Arbeit. Dementsprechend ist das Extremismus-Konzept nicht nur eine (politik-)wissenschaftliche Theorie unter vielen. Es hat das Potential linke Arbeit nachhaltig zu erschweren, ob in den Händen des Verfassungsschutzes oder politischer Entscheidungsträger*innen. Wer vom Extremismus redet, will vor allem die eigenen menschenverachtenden Einstellungen als Teil der Mitte zu verschleiern. Das zeigen nicht zuletzt die eingeladenen Redner. Dieses Konzept der AfD darf nicht aufgehen.

 

Deshalb kommt am 18.03.2017 ab 8 Uhr auf die Straßen von Berlin Mitte!

Achtet auf weitere Ankündigungen unter antifa-nordost.org oder unter Twitter @antifanordost und #b1803

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Gegen jeden Extremismusbegriff.
Linke, antifaschistische Politik und Kultur sind nicht „extremistisch“, sondern extrem wichtig!

Seit Anfang des Jahres 2008 sind die außerparlamentarische Linke sowie links-alternative Kulturprojekte in Sachsen wieder einmal Ziel einer Diffamierungskampagne, die durch das Innenministerium Sachsen, angeführt von Albrecht Buttolo, ins Rollen gebracht wurde. Unterstützt wird der sächsische Innenminister dabei von VertreterInnen aus Wissenschaft und Medien. Ziel ist es Repressionen gegenüber AntifaschistInnen und Linksalternativen zu rechtfertigen und gegebenenfalls politisch unliebsamen Projekten die Existenzgrundlage zu entziehen.

Als Argument für solche Maßnahmen wird immer wieder das Modell des politischen Extremismus angeführt. Dieses besagt, dass es eine demokratische Mitte der Gesellschaft gäbe, die durch extremistische Ränder bedroht sei. Diese klare Aufteilung verharmlost Rassismus, Antisemitismus und andere Ungleichwertigkeitsideologien, die sich durch alle gesellschaftlichen Bereiche ziehen, oder blendet sie gänzlich aus. Zudem werden linke Gesellschaftskritik und antifaschistischer Widerstand mit dem Denken und Handeln von Nazis gleichgesetzt. Verkannt wird dabei unter anderem, dass die Gefahr, Opfer eines Naziübergriffs zu werden, dort wesentlich geringer ist, wo sich linksalternative Kulturprojekte, antifaschistische und andere Gruppen gegen Nazis, rassistische Gewalt und Diskriminierung einsetzen.

Die Gleichsetzung von Links und Rechts durch Politik und Medien wollen wir nicht länger hinnehmen. Statt Diffamierung und Repression braucht es mehr Freiräume für antifaschistische und linksalternative Kultur und Politik!

Sind die Linken das Problem? – Der Extremismusbegriff in der Praxis.

Am 12. März diesen Jahres veröffentlichte die Leipziger Volkszeitung einen offenen Brief von Innenminister Buttolo an den Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung. In diesem Schreiben stellt Buttolo Leipzigs „Diskokrieg“ und die Ausschreitungen um diverse Fußballspiele mit Aktivitäten gegen Naziaufmärsche und dem Betreiben linker Kulturprojekte in engen Zusammenhang. Buttolo beklagt neben mangelndem „bürgerlichen Engagement in der Stadt Leipzig“ auch die „Untätigkeit der Stadtverwaltung hinsichtlich der Stützpunkte linksextremistischer Gewalttäter in Connewitz“ und der damit zusammenhängenden „Gewaltexzesse anlässlich rechtsextremer Demonstrationen“. Das Schreiben Buttolos ist in sofern ein Skandal, als dass es die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Leipziger Innenstadt dazu instrumentalisiert, eine öffentliche Stimmungsmache gegen die linke Szene voranzutreiben.
Als grundlegendes Argument dient Buttolo dabei immer der Verweis auf den Extremismusbegriff, der besagt, dass „Linksextreme“ genauso gefährlich seien wie „Rechtsextreme“. Wie sich dieses Denken in Sachsen schon länger in die Praxis umsetzt, zeigen einige Beispiele aus dem Jahr 2007.

Zum Beispiel Mügeln: Dort kam es im Sommer letzten Jahres bei einem Volksfest zu einer Hetzjagd auf MigrantInnen. Trotz empörter öffentlicher Reaktionen, in deren Folge sich die Stadt teils als Opfer, teils reumütig präsentierte, reagierte die Verwaltung abstruserweise mit der Schließung des einzigen alternativen Jugendclubs „Free Time In“.
Zum Beispiel Mittweida, wo die Staatsanwaltschaft im vergangenen Jahr gegen die Nazigruppierung „Sturm 34″ ermittelte: Hier verbot der Oberbürgermeister eine antifaschistische Veranstaltung, den „Antifaschistischen Ratschlag“, um deutlich zu machen, dass Widerstand unerwünscht ist.
Zum Beispiel Colditz: Nachdem Nazis mehrmals eine Turnhalle angegriffen hatten, in der alternative Konzerte stattfanden, reagierte die Stadt Colditz, in dem sie die Konzerte einfach absagte.

Doch nicht nur im ländlichen Raum Sachsens kommt es zu solchen Vorgehensweisen. Als Anfang diesen Jahres ca. 300 Nazis im Leipziger Stadtteil Reudnitz demonstrierten, durfte die Demonstration trotz zahlreicher warnender Hinweise vor einem Haus eine Zwischenkundgebung abhalten , in dem vorwiegend Studierende, junge Familien, linke oder alternative Menschen wohnen. Die BewohnerInnen versuchten dieser Situation zivilen Widerstand entgegenzusetzen, indem sie die Straße mit Musik beschallten und ein Transparent ausrollten. Daraufhin stürmte die Polizei das Haus, ging mit massiver Brutalität gegen die BewohnerInnen vor und zerstörte sämtliche Sicherungen, so dass das Haus ohne Stromversorgung war. Antifaschistisches Engagement wurde an diesem Tag somit stärker als das Treiben der Nazis durch die Polizei behindert.

Dass sich die linke Szene, AntifaschistInnen und Kulturlinke Repressionen ausgesetzt sehen, ist nichts Neues. Schon im Jahr 2000 ermittelte die Staatsanwaltschaft eifrig gegen „Linksextremisten“. Damals versuchte man politische Aktivitäten über §129 StGB, der die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung unter Strafe stellt, zu unterbinden. Nachdem wahllos Wohnungen durchsucht, Telefone abgehört und Menschen schikaniert und kriminalisiert wurden, kam es schließlich zur vollständigen Einstellung aller Ermittlungsverfahren. Auch der Kampf des Soziokulturellen Zentrums Conne Island mit dem Finanzamt Leipzig vor vier Jahren zeigt, auf welchen Wegen versucht wird, linke Politik zu vereiteln. Damals sollte dem Conne Island die Gemeinnützigkeit entzogen werden, weil es auf jede Eintrittskarte 1 Mark extra nahm, um damit antifaschistische Arbeit zu finanzieren.

In all diesen Fällen wird deutlich, was Buttolo in seinem offenem Brief schon angedeutet hat. „Besonders der Linksextremismus ist in der Vergangenheit unterschätzt worden“, ist sich der sächsische Innenminister dort sicher. Für ihn sind nicht die Nazis das Problem, sondern der Extremismus im allgemeinen. Und zum Extremisten wird man schneller als gedacht, das zeigen die Beispiele von Mügeln, Colditz, Mittweida oder Leipzig.

Mit dieser Meinung steht Buttolo keineswegs alleine da. Als es in der Silvesternacht 2007/2008 zu Auseinandersetzungen zwischen PartybesucherInnen und Polizei kam, wobei die Polizei wahl- und hemmungslos Feiernde oder PassantInnen verprügelte, machte die Leipziger Volkszeitung die „Ausschreitungen“ zum politischen Wochenthema. Sie interviewte dazu den Extremismusforscher Eckhard Jesse, der jede Gelegenheit nutzt, um vor den Gefahren des „Linksextremismus“ zu warnen. Zwar verfügt Jesse in Sachsen über die Deutungshoheit, wenn es um „Extremismus“ geht, sein aus der Totalitarismustheorie hervorgegangener Extremismusansatz wird aber in akademischen Kreisen, insbesondere von renommierten SozialwissenschaftlerInnen und „RechtsextremismusforscherInnen“ wie z.B. Richard Stöss, Christoph Butterwegge oder Oliver Decker und Elmar Brähler abgelehnt.

Jesse und seine MitstreiterInnen wie Uwe Backes werden einerseits von Institutionen wie dem Verfassungsschutz, der Bundeszentrale für politische Bildung, der CDU in Bund und Land oder der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung hofiert und finanziert. Andererseits ist es kein Geheimnis, dass Jesse auch Kontakte zu ProtagonistInnen der Neuen Rechten und bekennenden Nazis pflegt. Durch die gemeinsame Buchveröffentlichung mit Rainer Zitelmann zum Thema „Historisierung des Nationalsozialismus“, die enge Zusammenarbeit mit Joseph Kneifel, aktives Mitglied der Naziorganisation „Hilfsgemeinschaft für Nationale Gefangene“ und seine wiederholten antisemitischen Äußerungen zeigt Jesse deutlich seine Nähe zu rechten Kreisen und Ideologien.
Nichtsdestotrotz wird der Extremismusbegriff von der sächsischen CDU und regionalen Medien wie der LVZ stets aufs Neue lanciert und von der breiten Bevölkerung mitgetragen. In diesem Zusammenhang wird auch und immer wieder gern zugunsten der Forderung nach einem starken Staat das Recht auf Versammlungsfreiheit in Frage gestellt. Linke Gruppen und AntifaschistInnen werden dadurch mit StalinistInnen, IslamistInnen, HolocaustleugnerInnen und Nazis in einen Topf geworfen.

Die Theorie zur Praxis: Die „Extremismusformel“
Den Begriffen „Rechts- und Linksextremismus“ liegt die Extremismustheorie zugrunde: das Verständnis einer Bedrohung der Gesellschaft durch „Extremisten“. Eine Differenzierung nach Einstellungen und politischen Zielen erfolgt nicht. Vermittelt wird vielmehr, dass eine politische Mitte der Gesellschaft existiert, die sich von diesen Extremen klar abgrenzen lässt.

In den Problemwahrnehmungen und in der politischen Praxis werden rechte Einstellungen dann meist erstens als Jugendproblem, zweitens als Gewaltproblem und drittens als Abweichung von nicht genauer definierten politischen Normalitätsbereichen beschrieben. Dass diese Beschreibung keine empirische Entsprechung hat, zeigen die Ergebnisse zahlreicher Studien z.B. von den Leipziger Forschern Decker & Brähler oder von Wilhelm Heitmeyer. Rassismus, Antisemitismus, völkischer Nationalismus, autoritäre Ordnungsvorstellungen, sexistische Rollenzuweisungen, Sozialdarwinismus und andere Versatzstücke nationalsozialistischer Ideologie sind danach für weite Teile der Bevölkerung konsensfähig, unabhängig von Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Einkommensverhältnissen oder Parteipräferenz.

Nach der Logik der „Extremismusformel“ gilt es den demokratischen Verfassungsstaat gegen politische Extreme zu verteidigen, da diese „in der Regel auf grundsätzlicher Ablehnung gesellschaftlicher Vielfalt, Toleranz und Offenheit basieren“. Dabei spielt die Betonung der formalen Gleichheit von linkem, rechtem und seit einigen Jahren auch „Ausländer-“Extremismus eine entscheidende Rolle. Aus diesen festen Bestandteilen ergibt sich auch die politische Relevanz der Extremismusformel. Denn auch wenn sie eigentlich aufs wissenschaftliche und politische Abstellgleis gehört, dient sie staatlichen Ordnungsorganen und PolitikerInnen als Handlungsgrundlage, wenn es darum geht, politische Aktivitäten von all jenen zu delegitimieren, die zentrale Elemente der Naziideologie ablehnen, sei es das Leitbild einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft oder der Ruf nach dem autoritären Staat.

Des Weiteren lässt sich auf politischer Ebene mit Rückgriff auf den Begriff des politischen Extremismus trefflich die Existenz von Nazistrukturen und der sie unterstützenden Rahmenbedingungen verharmlosen. So kann über Nazigruppen und deren Aktivitäten geschwiegen werden, wenn die Gefahr für die Demokratie angeblich von linken Gruppierungen, die gegen Rassismus und Antisemitismus vorgehen, ausgeht. Debattiert wird dann wochenlang und öffentlichkeitswirksam über „Randale“ in Connewitz oder über „kriminelle Ausländerbanden“, während die steigende Zahl der Naziübergriffe und – aktivitäten sowie von Alltagsrassismus und anderen Diskriminierungen eine Randnotiz bleibt.

Und schließlich eignet sich die Formel des Extremismus, um eine vermeintlich „normale Mitte“ von ihren „Rändern“ zu trennen. Dort, wo Naziideologien zum Randphänomen erklärt werden und damit deren Verbindung zur bundesrepublikanischen Normalität geleugnet wird, dort gibt es auch keinen Platz für eine notwendige und berechtigte linke Kritik z.B. an institutionellem Rassismus in deutschen Gesetzen oder Behörden und alltäglichem Rassismus und Antisemitismus. Rechte Ideologie wird in diesem Zusammenhang zur Randerscheinung gemacht und die „demokratische Mitte“ kann sich ihrer moralischen Legitimation sicher sein.

Und nun? Für eine Stärkung linker emanzipatorischer Projekte!
Eine Phalanx konservativer PolitikerInnen und Medien instrumentalisiert die gewalttätigen Zusammenstöße in der Leipziger Innenstadt genau auf Grundlage dieses äußerst umstrittenen Extremismusbegriffs. Antinazipolitik wird durch die Zuschreibung „extrem“ diffamiert und verhindert. Dabei ist es doch klar, dass der Extremismusbegriff das Naziproblem nicht erklären kann. Scheinbar ist es nicht das Ansinnen, eine Lösung zur Verhinderung weiterer Gewalttaten zu finden, vielmehr wird die stadtweite Aufregung und polizeiliche Ratlosigkeit zum Anlass genommen, um gegen die linke Szene Stimmung zu machen. Es ist offensichtlich, dass die existenzielle Grundlage linker Kulturprojekte und antifaschistischer Politik Ziel dieses Vorgehens ist. Eine derartige Diffamierung antifaschistischer und kultureller Arbeit können wir nicht hinnehmen.

Es ist heute dringend notwendig, eine radikale Gesellschaftskritik zu formulieren und damit auch Naziideologien in der sogenannten Mitte der Gesellschaft und Nazistrukturen zu bekämpfen. Hierfür brauchen wir nicht weniger, sondern mehr unabhängige linke Projekte!

Initiative gegen jeden Extremismusbegriff

Wenn Sie diesen offenen Brief unterstützen möchten, schreiben sie bitte eine Email mit Ihrem Namen/dem Namen Ihrer Organisation oder Initiative an folgende Adresse:

initiative_gegen_extremismusbegriff, bei: gmx.de"

 

http://inex.blogsport.de/images/offenerbriefinex.pdf

 

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  1. Vortrag von Alexander Busch zur Totalitarimustheorie, ihrer Geschichte und ihrer politischen Funktion. Auch der Extremismusbegriff und die sogenannte neue Rechte finden Erwähnung.
    Zu finden bei der Antifa-AG Uni Bielefeld.
    Leicht nachbearbeitete Fassung hier (mp3, mono, 48 kBit/s; 1:11 h mit Diskussion, 24,3 MB).
  2. Vortrag einer Referentin der Initiative gegen jeden Extremismusbegriff samt Diskussion: »Was ist falsch am Extremismusbegriff?«.
    Beschreibung und Download via Bildungskollektiv Chemnitz. (mp3/ogg, 1:50 h, verschiedene Formate, Klangqualität mäßig)

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http://audioarchiv.blogsport.de/tag/extremismus/

 

http://audioarchiv.blogsport.de/tag/totalitarismustheorie/