[Kurdistan] Das Leben in den Bergen

kalasch

Einige Redakteure des Lower Class Magazine sind derzeit mit anderen Internationalist*innen irgendwo in Kurdistan unterwegs. Dabei sind bislang zwei Texte entstanden, in den kommenden Tagen folgen weitere.

 

Von Falken und Ameisen

Zehn Tage bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans (Teil I)

 

„Wir sind doch Revolutionäre“, sagt Heval A* zu uns, als wir mit traurigen Gesichtern in das Auto steigen, das uns abholen kommt. „Egal, wo wir sind, es ist immer schön. Denn die Revolution ist überall.“ Wir grüßen zum Abschied mit einem herzlichen „Serkeftin“. Die Trennung von den Freunden fällt uns so schwer, als hätten wir uns Jahre gekannt.

 

Das mag daran liegen, dass wir die zehn vorhergehenden Tage rund um die Uhr miteinander zu tun hatten. Es mag aber auch daran liegen, dass wir so viele und so surreal schöne Erfahrungen gemacht haben, dass uns diese kaum zwei Wochen in der Erinnerung wie Monate vorkommen. Wir haben in glasklaren, eiskalten Wasserfällen Bäder genommen, gelernt wir man aus Stachelschweinstacheln Füllfedern baut und vor dem Schlafen gehen über Abdullah Öcalans Philosophie diskutiert, während sich in der absoluten Stille der unberührten Natur das Zischen feindlicher Kampfflugzeuge mit dem Heulen von Wölfen mischten.

 

Als erstes fällt uns auf, wie sehr die Genoss*innen als Kollektiv funktionieren. Alle Handgriffe sind aufgeteilt, niemand bleibt passiv, der Umgang miteinander ist äußerst respektvoll. Man denkt zuerst an die anderen, niemals an sich selbst. Im Großen wie im Kleinen, denn die Hêzên Parastina Gel (HPG), die Volksverteidigungskräfte der PKK, begreifen sich als eine „Partei der Selbstaufopferung“, sagt uns Heval B. Als wir zusammen sitzen und über die jüngst in Schengal ausgebrochenen Gefechte in Schengal reden, sagt er: „Die Kämpfer der KDP“ - der halbfeudalen, aus einem Klansystem entstandenen Kolaborateurspartei Mesud Barzanis - „können nichts gegen uns ausrichten. Sie sind nicht wie wir, sie kämpfen für Geld. Danach gehen sie nachhause, zu ihren Familien. Wir aber, wir kämpfen nicht für Geld, sondern für Freiheit. Und wir haben nicht eine einzige Familie, eine Mutter oder einen Vater. Alle Mütter und Väter Kurdistans sind unsere Mütter und Väter. Wir haben nicht eine Frau, alle Frauen Kurdistans sind unsere Schwestern und Genossinnen. Der Kampf für die Revolution ist unser Leben und wir sind bereit in ihm zu sterben.“

 

Das klingt hart für uns, die wir daran gewöhnt sind, dass linke Politik etwas ist, das neben Studium und Job, Party und Hobbies, Familie und Karriere auch noch irgendwo seinen Platz haben soll. Aber das hier ist eben kein Spiel, keine Freizeitbeschäftigung und auch kein kulturelles Kapital zur eigenen Profilierung. Während der Gespräche merken wir, dass die Genoss*innen hier alle schon zahlreiche Freund*innen verloren haben. Wir sehen ein Video der jungen Kämpfer*innen, die im vergangenen Jahr in Bakur als Märtyrer gefallen sind. Heval A und Heval B kennen alle ihre Namen, wissen über viele Geschichten zu erzählen.

 

Wer keine Geschichte hat, hat keine Zukunft

 

Seit seinem Beginn ist dieser Krieg einer, der von der Türkei mit den grauenhaftesten Mitteln geführt wurde: Die Geschichte der Anfangsphase der PKK ist bereits mit jener des Gefängniswiderstands in Amed verbunden, wo die schlimmsten aller Folterer zu Beginn der 1980er Jahre ihr Unwesen trieben. Physische Gewalt, sexualisierte Erniedrigung, psychische Torturen wurden angewandt, um die Revolutionär*innen zu brechen. Und schon damals entwickelte sich jener Widerstandsgeist, den uns Heval A. in den Lektionen zur Parteigeschichte mit glänzenden Augen erzählt. Während wir unter einem gerade zu blühen beginnenden Baum sitzen und über uns Kampfjets zu hören sind, die nach Haftanin, Gare, Kandil oder eine der anderen Hochburgen der Bewegung fliegen, erklärt er uns die Geschichte Mazlum Dogans. Der hatte sich zum Newroz-Fest 1982 im Gefängnis in Amed selbst angezündet, aus Protest gegen die Unmenschlichkeit, die den Inhaftierten widerfuhr und als Zeichen seiner Unbeugsamkeit. „Er hatte nur drei Streichhölzer. Er zündete sie an, legte sie unter sich, nahm einen Strick und erhing sich über dem kleinen Feuer. Heval Mazlum wurde so zu einem Licht für alle anderen Gefangenen.“ Wenig später, am 17. Mai 1982, setzen vier weitere Genossen den Widerstand Mazlum Dogans fort: Ferhat Kurtay, Heval Esref, Heval Mahmut und Heval Necmi sammeln Gegenstände ihrer Freunde ein und verbrennen sich in ihrer Zelle: „Keinen Schrei, kein Geräusch hat der Feind gehört“, sagt Heval A. Aus der Selbstaufopferung dieser Genossen entstand eine breite Bewegung gegen den Folterknast in Amed.

 

Geschichte und Bildung

 

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ihrer Partei, ihres Landes und der revolutionärer Bewegungen weltweit nimmt einen festen Platz im Leben der drei Freunde ein, mit denen wir nun zusammenleben. „Wer keine Geschichte hat, hat keine Zukunft, erklärt uns Apo“, sagt Heval A oft. Die Erzählungen von Aktionen gefallener Freunde werden zu Liedern – es gibt sogar eines von Ahmet Kaya über Andrea Wolf -, zu Büchern, zu Filmen. Die persönlichen Gegenstände verstorbener Freunde werden in Gedenkorten, Sehitlik, ausgestellt oder an andere Genossen weitergeben. Die wenigen Nachrichten, die wir ein-, zweimal täglich hören, kommen zum Beispiel aus dem Radio gefallenen Freundes, das der wiederum an unseren Heval A verschenkt hatte. Die Kämpfer hier sind überzeugt: „Wenn wir nicht unsere Geschichte und die anderer revolutionärer Bewegungen so gut wie irgendwie möglich verstehen lernen, dann können wir gemachte Fehler nicht überwinden“.

 

Bildung, egitim, ist generell das wohl wichtigste Element im Alltag der PKK-Kämpfer. „Ich habe, bevor ich beigetreten bin, noch nie ein Buch gelesen“, sagt Heval C. „Jetzt ist das für mich ganz normal, ich lese gerne und oft.“ In oder zumindest nahe an vielen Stellungen der PKK existieren Bibliotheken. Die manchmal sehr jungen Guerillas sind außerordentlich klug und wissbegierig – und stolz auf ihre Organisation, die sie auf diesen Weg gebracht hat.

 

Bildung allerdings schließt nicht nur das lernen aus Büchern und aus der Geschichte mit ein. Es meint auch die praktische Ausbildung: Wie überlebt man in der Natur? Wie benutzt man möglichst effektiv eine Kalaschnikow, eine Handgranate oder eine Doschka? Wo bekommt man Essen her, wenn man hungrig ist, wie wärmt man sich, wenn es kalt ist, wie bleibt man unentdeckt vom technologisch hochgerüsteten Feind? Welche Taktiken setzt man ein, wenn man angreift, welche, wenn man sich verteidigt? Wie verhält man sich anderen und sich selbst gegenüber?

 

Die Bildungen gehören schon bald auch zu unserem normalen Tagesablauf. Manchmal lernen wir kurdisch, dann den Gerilla-Govend, eine Form des Halay-Tanzes. Manchmal gehen wir die Parteigeschichte durch und manchmal bauen wir mit verbundenen Augen Kalaschnikows auseinander und wieder zusammen – was gar nicht so leicht ist, wenn Heval A die Teile versteckt und lachend schreit „los, los, los, der Feind kommt“.

 

 

Tekmil – Kritik und Selbstkritik

 

Eine wichtige Errungenschaft dabei ist die sogenannte „Tekmil“, die „Rückmeldung“. Täglich kommt die jeweilige Einheit zusammen und führt ein solches Gespräch durch, in dem Kritik und Selbstkritik geäußert und notiert werden: Wie hat man sich verhalten, wie lief der Tag und die Arbeit an dem Tag, was hat man an sich oder an einem Freund auszusetzen. Nachdem die Freunde uns bei unserer Tekmil, die uns zu einer Art Plenum geriet, zugesehen haben, korrigieren sie: „Eine Tekmil muss kurz sein. Nicht, weil es an Zeit mangelt, sondern weil man seine Gedanken kurz und klar ausdrücken können muss. Jeder spricht nur einmal und man macht sich vor der Tekmil Gedanken darüber, was man sagen will. Der Leiter der Tekmil rotiert und nach drei Tagen wertet man aus, wie sich ein kritisierter Freund entwickelt hat, ob es ihm gelingt, seine Mängel zu überwinden.“

 

So einfach und banal das klingt, es ist äußerst wichtig, wenn man ständig zusammen lebt. Denn man frisst seinen Gram über einen anderen nicht in sich hinein und verschließt auch nicht seine Augen vor den eigenen Fehlern. Kritik uns Selbstkritik werden ein normaler Teil des Lebens, nichts „Persönliches“. Es gibt so keinerlei Anfeindungen in unserer Gruppe. „Wenn wir uns hart kritisieren, ist das ein Zeichen unserer Freundschaft“, formuliert eine internationalistische Genossin.

 

Permanente Selbstkritik ist für die Guerilla lebensnotwendig. Als wir über die Freiheitsfalken Kurdistans, TAK, reden, erinnert uns Heval A an eine Metapher Abdullah Öcalans: „Apo hat gesagt, dass wir Kämpfer wie Falken sein müssen – nur in einem Punkt sogar besser. Der Falke ist aufmerksam, bevor er zuschlägt. Er sieht seinen Feind und beobachtet alles. Wenn er dann zuschlägt, ist er schnell. Die Guerilla muss genauso sein. Doch wenn der Falke seine Beute gefangen hat und frisst, wird er unvorsichtig. Das Blut steigt ihm zu Kopf. Nun ist der Moment, in dem man ihn fangen kann. Hier muss die Guerilla anders sein. Wir dürfen nicht siegestrunken werden.“

 

Für uns ist Tekmil auch deshalb wichtig, weil sie uns am Leben der Genossen hier teilnehmen lässt. Wir kritisieren, dass wir nicht genug in die Arbeiten eingebunden werden und man uns zu viel abnimmt. Die Genossen nehmen das an und mahnen uns dann in der nächsten Tekmil zu mehr Eigeninitiative. Ab dann funktioniert alles wie geschmiert.

 

Die Männlichkeit töten

 

Wichtig ist die Rückmeldung aber auch, weil wir noch nicht alle Verhaltensregeln kennen, die es hier gibt. Beim Sitzen und bei der Kleidung ist auf askerlik, soldatische Ordentlichkeit zu achten. Man lümmelt nicht, verwendet keine Schimpfwörter, selbst nicht gegen den Todfeind. Die meisten Verhaltensregeln greifen dann besonders streng, wenn weibliche Guerilleras im Camp sind. Man hat Haltung zu wahren, Sachen wie die Ankündigung eines Toilettengangs oder Zähneputzen sind verpönt. Selbstverständlich gibt es keinerlei Anzüglichkeiten, eine Atmosphäre größten Respekts herrscht vor. Die Einheiten der Guerilla sind im Alltag getrennt. Man kommt zu Bildungen, Feierlichkeiten, Aktionen zusammen, aber die Frauen haben ihren eigenen Raum, den ihnen niemand streitig zu machen hat.

 

„Das ist wichtig, denn wir wollen nicht mit falschen Verhaltensweisen die selbstbestimmte Entwicklung der Frauen blockieren“, erklärt Heval A. „Apo hat uns gelehrt, dass es wichtig ist, die Männlichkeit in uns zu überwinden. Die Befreiung der Frau und die Befreiung des Mannes gehen Hand in Hand.“ Die Teams der Guerilla schreiben ständig Berichte, über ihr Leben, ihre Tekmils, ihre Bildungen, ihre Aktionen. Einmal im Monat müssen sie über die Fortschritte in Sachen Überwindung von Geschlechterrollen schreiben.

 

Sie wissen dabei, dass die Gesellschaft hier, auch diejenigen Leute, die sie erreichen wollen, noch sehr patriarchal strukturiert ist. Doch sie haben auch einen Weg gefunden, damit umzugehen. „Du siehst“, sagt Heval B, „dass hier in den Bergen zum Beispiel nicht die Frauen den ganzen Tag in der Küche stehen und die Männer im Zelt sitzen und Tee trinken und sich bedienen lassen. Genau so läuft das aber oft bei Familien, bei denen wir zur Agitation zu Gast sind.“ Es helfe da aber nichts, mit intellektuellen Worten zu erklären, warum Patriarchat und Männlichkeit zu überwinden seien. „So können wir dort nicht reden, wir würden niemanden erreichen. Wir machen das anders. Wir stehen einfach auf und gehen in die Küche, kochen, waschen ab. Dann entstehen Gespräche, wieso wir das machen.“ Was diese Geschichte an einem ganz alltäglichen Beispiel erklärt, leben die Frauen Kurdistans auf vielen Ebenen. Die bewaffneten Guerilleras werden durch ihre Praxis zum Vorbild für andere Frauen, die sich aus Unterdrückungsverhältnissen befreien wollen.

 

Revolution, weltweit

 

Manchmal, auch als für einen Tag Heval D zu Gast ist, fragen wir, was sie denn nach der Revolution gerne machen würden und wie sie sich da ihr Leben vorstellen. Die Frage läuft ins Leere. „Wir sind Revolutionäre. Wir haben so gelernt zu leben und so werden wir weiter leben. Wenn die Revolution in Kurdistan abgeschlossen ist, gehen wir und helfen anderswo.“ Wie Che Guevara, fügt Heval D hinzu. Tatsächlich ist es ja schon jetzt so, dass die HPG revolutionäre Prozesse in erster Linie unterstützt, damit sich lokale Selbstverwaltung herausbilden kann. „Schau doch mal nach Minbic in Syrien“, sagt Heval A. „Das ist keine kurdische Stadt. Wir haben mitgeholfen, dass sich die Bevölkerung der Terroristen entledigen und eigene Verwaltungsorgane aufbauen kann. Dann sind wir wieder abgezogen.“ Heval A meint, wenn es einen funktionierenden Volksrat und funktionierende Selbstverteidigung gibt, gäbe es keinen Grund, länger zu bleiben. „Wenn das Volk seine Angelegenheiten selbst in die Hand nimmt, kann es für alles selber sorgen. Wir helfen dann nur bei der Ausbildung und ziehen weiter, dorthin, wo wir gebraucht werden.“ Kommt doch bald mal nach Deutschland, meinen wir im Scherz.

 

Schon jetzt ist dieses internationalistische Verständnis, dass tief in der Bewegung verankert ist, ein Bezugspunkt für Linke aus aller Welt. Auf unserem – noch sehr kurzen Weg – treffen wir Menschen aus 7 Nationen. Sie alle sind hier, um zu lernen: Politische Strategie, Entschlossenheit, aber auch und vor allem Rehevalti, Genossenschaftlichkeit, die uns in Europa schon vor längerer Zeit abhanden gekommen zu sein scheint.

 

Tun, was man kann

 

Als wir über Europa sprechen, sagt einer von uns, es sei manchmal schwer, den Mut nicht zu verlieren. Grabenkämpfe untereinander, eigene Disziplinlosigkeit und der generelle Mangel an Ernsthaftigkeit in der Linken lasse einen schnell verzweifeln.

 

Heval C, streicht durch seinen Revolutionärsschnurrbart und holt zu einer Geschichte aus. „Es gibt eine Anekdote, die von König Nimrud und einer Ameise handelt. Der tyrannische König Nimrud wollte den Propheten Ibrahim verbrennen. Er rief alle Dorfbewohner zusammen, um Holz für das Feuer zusammenzutragen. Einer der Dorfbewohner traf auf seinem Weg auf eine Ameise. Die Ameise hatte ihren winzigen Mund voller Wasser. Sie deutete auf ihren Mund und das Feuer. Sie hatte sich aufgemacht, um so die Verbrennung des Propheten Ibrahim zu verhindern.“ Die Metapher soll zeigen: Egal wie gering unsere Möglichkeiten sind und wie aussichtslos die Situation, wir müssen unseren Beitrag für das leisten, was wir für richtig halten. Gegen alle Widerstände und im Bewusstsein dessen, dass wir auf das richtige Ziel hinarbeiten.

 

Die Ameise hat es mit diesem Maß an Überzeugung bis in den Koran geschafft, die von kaum zwei Dutzend Revolutionär*innen gegründete PKK in die künftigen Geschichtsbücher der befreiten Welt.

 

 

„Wir kämpfen, um zu leben, nicht um zu sterben“

Zehn Tage bei der Guerilla in den Bergen Kurdistans (Teil II)

 

Heval Azads Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: Çiya, Berg. Wir haben etwas Freizeit, sitzen bei Tee und Zigaretten im Tarnzelt und einer von uns hatte den Freund aufgefordert, uns doch einfach irgendwelche Wörter auf Kurdisch zu sagen, damit wir etwas lernen können. Auf Berg folgt stêrk, Stern, xweza, Natur, und dann beginnen wir über die Tiere zu reden, die es in der Gegend gibt. Teyrebazen, Falken, sehen wir oft, ein Rudel von çeqel, Schakalen, kommt nachts zum Jagen in unsere Gegend, auch Wölfe, gur, gibt es. In manchen höher gelegenen Gegenden trifft man auf hirç, Bären. In manchen Flüssen, in denen wir baden, gibt es Fische. Wildschweine, Steinböcke, Adler – Kurdistans Umwelt, wo sie noch nicht von AKP und KDP oder ausländischen Konzernen verheert wurde, ist intakt.

 

Dass die ersten Worte, die einem Gerilla einfallen, von dem handeln, was ihn täglich umgibt, verwundert nicht. Dass Menschen, die so leben, eine ökologische Komponente in ihrem politischen Paradigma verankern, ebenso wenig. Die Kämpfer betrachten dieses Land als ihr Land, eines, dass es zu bewahren gilt. Den Kapitalismus lehnen sie auch deshalb ab, weil er diese ihre Natur, ihre Umgebung irreversibel zerstört. Der Kampf hat die Guerilla zu einem Teil der sie umgebenden Natur werden lassen. Sie bewegen sich auf den Pfaden der Tiere, trinken aus denselben Quellen, kennen jede Pflanze: "Diese Nuss hier kann man essen", erklärt uns Heval Cekdar*. "Diese hier zerreiben wir und nutzen sie als Balsam in den Schuhen, wenn wir lange Märsche zu bewältigen haben." Das Tempo, mit dem die Kämpfer Hügel und Berge erklimmen, ist für uns gewöhnungsbedürftig. Wenn man aber oben ankommt, ist die Belohnung jedes Mal den Aufstieg wert. Berge, grüne Wiesen, Bäche, Flüsse, tausende Gesteinsformationen: Manche steigen schroff und herrisch bis über die Wolken auf, andere wölben sich weich in den Boden, sehen aus wie die Finger eines Riesen, der sich am Boden festkrallt. Es gibt weiße Felsen und graue, schwarze und rote. Manche sind voller Höhlen, andere sind glatt.

 

Hin und wieder sieht man aus der Ferne kleine Dörfer oder kommt an Obstbäumen der lokalen Bauern vorbei: Granatäpfel, Trauben, Äpfel, Birnen. Gerade tragen die Bäume noch keine Früchte, aber im Sommer hängen hier festliche Mahlzeiten für die Guerilla. Jagen ist den Kämpfern untersagt – außer, sie können nichts anderes zu Essen finden. "Natürlich, wenn wir vom Feind in einem Gebiet eingekreist sind, keine Logistik zur Verfügung steht, dann essen wir auch erlegte Wildtiere", sagt Heval Azad. Generell gilt für das Leben hier, so sagt er: "Wenn du die Natur nicht liebst, blockiert sie dich, wird zu deinem Feind. Aber wenn du dich mit ihr anfreundest, ist sie dir eine Hilfe."

 

Die Sozialismus-Vorstellungen der jungen Kämpfer orientieren sich ebenfalls an dem, was sie aus dem Alltag und der Geschichte ihrer Umgebung kennen. Als wir fragen, wie sie sich denn die Produktion vorstellen, wenn mal der Demokratische Konföderalismus verwirklicht ist, greift Heval Azad – wohl auch wegen meines schlechten Türkisch – zu einem simplen Beispiel: "Früher in den Dörfern war es so: Sagen wir du verfügst über ein Feld, der Freund da drüben über eines, ich über eines und der Freund da in der Ecke auch. Zur Aussaat und zur Ernte helfen wir uns jeweils gegenseitig beim Bestellen des Feldes. Der Ertrag wird in unserem Dorf unter allen aufgeteilt." Wir haken nach: "Aber was ist denn mit schwierigerer, spezialisierter Produktion? In Rojava habt ihr zum Beispiel Erdöl. Wir hier können ja kein Öl verarbeiten?" Heval Azad weiß das natürlich: "Es ist ja nicht nur das Erdöl. Kurdistan ist ein sehr reiches Land, dessen Ressourcen von der Türkei, den USA und anderen Ländern gestohlen werden. Nehmen wir Rojava: Durch den Krieg sind viele spezialisierte Arbeiter geflohen, Daesh hat notwendige Maschinerie zerstört. Wir müssen uns nun als Gesellschaft, die Fähigkeiten wieder aneignen, um diese Ressourcen zu nutzen. Innerhalb des Demokratischen Konföderalismus müssen sie dann so genutzt werden, dass dadurch kein Unterschied zwischen Arm und Reich entsteht. Du sollst haben, was du zum Leben brauchst, der Freund dort drüben auch und ich auch."

 

Rojava, unser Kind

 

Um das durchzusetzen, braucht es aber gerade im Mittleren Osten eine kluge Strategie. "Schau nach Syrien", sagt Heval Azad. "Wie viele Länder dort kämpfen – die USA, Russland, der Iran, die Türkei, die Golfstaaten. Und so weiter. Wir können dort nicht kopflos agieren. Wir müssen genau sehen, wie wir unser eigenes Projekt durchsetzen können. Nehmen wir Minbic. Die Türkei ist bei Jarablus eingedrungen, hat einen Korridor geschaffen. Die USA haben ein Interesse, dass wir Raqqa befreien. Jetzt sagen wir: es ist doch offenkundig, wenn wir unsere Kräfte alle nach Raqqa verschieben, dann greift die Türkei Minbic an. Damit können wir Druck auf die USA machen, Minbic zu schützen. Gleichzeitig verhandeln wir mit dem Regime und den Russen. Der Militärrat von Minbic hat dem Regime einen Korridor zugesichert. Auch das syrische Regime und die Russen kennen die Türkei. Sie wissen, was ihre Ziele sind und wollen sie nicht in Syrien haben."

 

Diese Strategie funktioniert weitgehend. Das Spiel mit den Kräften, die man gegeneinander richtet und die sich so gegenseitig aufheben, öffnet jenen Freiraum, der den Aufbau eines politischen Projektes eröffnet. "Rojava ist noch ein Kind. Es ist wenige Jahre alt. Es muss sich noch entwickeln, ökonomisch, politisch und auf der Ebene des Bewußtseins, das noch vertieft werden muss. Und doch ist es für uns ein strategisch sehr bedeutender Ort. Wir können dort in der Praxis zeigen, wie unser System funktioniert." Heval Azad hebt besonders hervor, dass dieses System in der Lage ist, den Rassismus in der Region zu überwinden. "Im Mittleren Osten gibt es hunderte Identitäten, die gegeneinander stehen. Araber gegen Kurden, Schiiten gegen Sunniten. Diese Trennungen nutzt der Kapitalismus. Wir wollen sie überwinden. Wir wollen die Revolution nicht nur für Kurden. Wir wollen sie für alle Menschen." Manbic sei ein Beispiel für die Überwindung dieser Trennungen: "Die arabischen Freunde sehen das System, das Apo entworfen hat. Und sie nehmen es an. Sie verwalten sich selbst."

 

Der Krieg, der derzeit im gesamten Mittleren Osten tobt, ist für die Kämpfer zugleich eine Chance. „Die Imperialisten beginnen den Krieg, um ihre eigene Neuordnung der Region durchzusetzen. Wir nutzen diese Gelegenheit, um dagegen unsere durchzusetzen“, sagt Heval Azad. „Derzeit ist in allen vier Teilen Kurdistans Krieg. In Bakur, Basur und Rojava ist es ein heißer Krieg. In Rojhelat ist es ruhiger, aber auch hier nimmt der Widerstand zu.“ Dass nun auch der aus Deutschland und den USA hochgerüstete Erdogan-Kollaborateur Mesud Barzani mit seiner KDP begonnen hat, die Selbstverwaltung der Jesid*innen anzugreifen, um den Weg zwischen Schengal und Rojava zu durchtrennen, bewerten die Kämpfer nicht als allzu große Gefahr. „Die Peschmerga wollen nicht kämpfen und wir sitzen in allen Bergen um sie herum. Die Attacke wurde international verurteilt und die kurdische Bevölkerung in Basur beginnt zu sehen, was Barzani für ein Spiel spielt.“

 

In den kommenden Tagen hören wir noch viele Nachrichten aus Schengal. Wir sehen das Video, das zeigt, wie zwei HPG-Kämpfer versuchen, Panzerfahrzeuge der „Roj Peschmerga“, wie die angreifenden Banden heißen, ohne Beschuss zu stoppen und dabei ermordet werden.

 

Mafia, Sniper, Bre

 

Die Selbstverwaltung, die die Bewegung erkämpfen will, kann in einer Region, in der – wie die kurdische Bewegung einschätzt – der "dritte Weltkrieg" vonstatten geht, nicht ohne Waffen bestehen. "Selbstverteidigung ist immens wichtig." Im Ganzen der Bewegung wie auf individueller Ebene. Als wir einmal Heval Azad fragen, ob wir ihm die Kalasch abnehmen sollen, weil er gerade viel zu tragen hat, lacht er: "Nein. Sie ist ein Teil von mir. Wie mein Arm. Ich spüre sie nicht einmal beim Tragen." Gerade in den Bergen braucht man das Gewehr, denn ansonsten ist man nicht nur gegen den Feind schutzlos. Wenn Wölfe hungrig sind, man auf Bären oder wilde Hunde trifft, muss man etwas zur Hand haben. "Die Tiere haben ihr Gebiss oder ihre Stacheln. Der Mensch hat so etwas zur Selbstverteidigung nicht."

 

Die Freunde, insbesondere Heval Berxwedan, der noch sehr jung ist, erzählen uns begeistert von den verschiedenen Waffensystemen der HPG. Wir, die wir kaum etwas von solchen Dingen wissen, hören, welche Doschkas man mit Eseln transportieren kann und welche man auf die Trageflächen von Toyota-Geländewagen schraubt. Stolz sind die Freunde besonders auf die Abschüsse von Kampfjets und Hubschraubern, denn in denen fühlt sich der Feind besonders sicher. Wir lernen, Geräusche zu unterscheiden: Ein Reiseflugzeug brummt, ist aber langsamer als ein Kampfjet, der eher zischt. Ein entferntes Auto kann man an seiner Bewegungsrichtung erkennen, ein Hubschrauber an dem Flapp-Flapp der Rotoren. Am wichtigsten ist es, Drohnen zu erkennen. Sie sind am gefährlichsten, denn sie geben die Position durch, die die Kampfjets anfliegen. Das Gehör der Guerilla ist scharf. Mitten in einem lauten Gespräch, während des Singens oder Radio-Hörens erkennen sie die leisesten technischen Geräusche sofort.

 

Auch die Spiele der Guerilla sind eine Art Training. Wenn wir Freizeit haben, treffen wir uns je nach Wetterlage zu einer Runde Mafia, Sniper oder Bre. Mafia (oder Vampir) funktioniert so, dass zwei Genoss*innen als Mafia/Vampire fungieren, es einen Spielleiter gibt und die anderen – sagen wir ca. zehn Leute -, das "Volk", die beiden Vampire finden muss. Die zwei Bösewichte wissen voneinander, alle anderen wissen zu Spielbeginn nichts. Man muss dann durch fragen, Erkennen der Strategie der beiden Undercover-Vampire, Deuten der Gestik und so weiter herausfinden, wer die Übeltäter sind. Wenn man jemanden verdächtigt, gibt es eine Abstimmung, ob die Person rausfliegt oder nicht. Ziel der Vampire ist es, dass sich das Volk durch falsche Verdächtigungen gegenseitig aus dem Spiel wirft. Das Spiel klingt langweilig, aber es ist großartig. Nach wenigen Minuten rauchen die Köpfe.

 

Sniper ist ähnlich. Man sitzt im Kreis, einer ist der Scharfschütze, die anderen müssen herausfinden wer. Man blickt im Kreis, immer in die Augen des anderen. Wenn einen der Sniper schnell anblinzelt, stirbt man. Wenn aber ein anderer diesen Vorgang beobachtet, ist der Sniper enttarnt und hat verloren. Das Spiel wirkt nach. Tage lang können wir uns nicht in die Augen schauen, ohne dass einer blinzelt und alle zu lachen beginnen.

 

Bre, "Schneiden", ist das mit Abstand lustigste Spiel, aber man braucht gutes Wetter, ein freies Feld und ein größere Anzahl von Genoss*innen. Man baut aus Steinen eine Karakol, eine Militärstation. Die eine Gruppe spielt als Soldaten – will natürlich keiner –, die andere als Guerilla. Ziel der Guerilla ist, den Steinhaufen zu zertreten. Wenn ein*e Guerilla von einem Soldaten berührt wird, ist sie schawuti, verbrannt. Aber die Guerilla kann auch Soldaten aus dem Spiel werfen. Einer lockt den/die Soldat*in von der Karakol weg, eine andere "schneidet" ihn ab, indem sie zwischen Karakol und Feind durchläuft. Das Spiel ist sehr taktisch und ein wunderbarer Sport.

 

Der Kampf gegen uns selbst

 

Allen Waffen, aller Gewöhnung an den Krieg zum Trotz sind die Freunde keine "Soldaten" in dem Sinne, wie wir das Wort verwenden. "Bei uns gehören Ideologie, Lebensweise und der militärische Kampf zusammen, sie sind ein und dasselbe. Wir laufen ja nicht mit der Kalaschnikow in einer Hand, mit einem Buch in der anderen Hand herum, sondern unsere Lebensweise ist die Einheit von revolutionärem Gedanken und realer Praxis", erklärt Heval Azad. "Das kritisieren wir auch oft an der Linken in anderen Ländern. Sie reden in schönsten Worten von der Revolution auf ihren Treffen. Dann gehen sie ins Café oder in die Bar oder nachhause."

 

Der Zusammenhang von Theorie und Praxis wird in einem Kampf hergestellt, der noch gar nichts mit dem äußeren Feind zu tun hat. "Der wichtigste Kampf ist der in uns. Um unser eigenes Leben. Nur wenn wir diesen Kampf führen, können wir einen Kampf gegen den äußeren Feind führen", sagt Heval Azad. Er trifft einen wunden Punkt, denn genau aus diesem Grund sind wir hier. Wir wollen von der Disziplin der Freunde lernen, eben diesen Kampf zu führen. Wir erklären dem Freund unsere eigenen Schwächen. Er zeichnet eine Linie auf der Decke, die unter unserem Fühstück liegt. "Der Weg der Revolution ist gerade. Wenn ihr euch hier, links oder rechts von diesem Weg aufhaltet, werden die jüngeren, die euch als Vorbild nehmen, eben diesen Weg gehen. Das ist schlecht."

 

*die Kampfnamen der Freundewurden verändert. Der genaue Ort unseres Aufenthalt wird nicht genannt.

 

*Wir dürfen weder sagen, wo der Ort liegt, noch wie die Freunde heißen, über die wir schreiben. Deshalb fangen wir im Alphabet vorne an und schreiben einfach von „Heval A“, „Heval B“ und so fort. Das Titelbild ist auch nicht während unseres jetzigen Aufenthalts entstanden, sondern vergangenes Jahr.

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der Mut macht!

Das ist wohl das stalinistische Umfeld der MLKP, das solche Artikel schreibt und einen der ewiggestrigen Führer zu verklären versucht.

Das ist einer revolutionären Linken nicht würdig, stalinistische Organisationen wie die PKK und ihren Führerkult derart unkritisch zu verklären.