Niemand ist vergessen!

Dieter Eich

Am 25. Mai 2000 verübten vier Neonazis in Berlin, im Stadtteil Buch, einen brutalen Mord. Dieter Eich, der damals Sozialhilfe empfing, fiel den Neonazis zum Opfer, weil er aus ihrer Sicht ein „Asozialer“ war. Erst schlugen sie ihn in seiner Wohnung zusammen, später erstachen sie ihn, um eine eventuelle Zeugenaussage zu verhindern. Anlässlich des zehnten Todestages von Dieter Eich wird an den Mord erinnert. Am 23. Mai wird darum in Berlin-Buch unter dem Motto „Niemand ist vergessen“ eine Demonstration stattfinden.
Anspruch der Veranstaltungen, der Gedenkdemonstration am 23. Mai und der Gedenkkundgebung am 25.Mai , zu der überregional in Städten wie Rostock, Greifswald, Cottbus, Magdeburg, Potsdam mobilisiert wurde, ist eine umfassende Beschäftigung mit dem Mord und seinen Ursachen. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf einer kritischen Auseinandersetzung mit der (deutschen) Leistungsgesellschaft, die Arbeit zum höchsten Gut erhebt und somit den Ausschluss von nicht arbeitenden Menschen permanent vorantreibt. Der andauernde Ruf nach mehr Zwang für Erwerbslose, schafft den Rückenwind für die Gewaltexzesse gegen so genannte „Sozialschmarotzer“. Die aktuelle Hartz IV-Debatte, die Behandlung so genannter „Asozialer“ im Nationalsozialismus und die Kritik an der Arbeitsgesellschaft im Allgemeinen sind Schwerpunkt der Veranstaltungen und des Gedenkens. Außerdem soll über die Hintergründe des Mordes sowie die aktuellen rechten Aktivitäten in Buch und Umgebung berichtet werden.

Artikel-Serie:
1. Teil: "Der Mord an Dieter Eich" || 2. Teil: Rechte Gewalt und ein “unpolitischer Messerstoß”? || 3. Teil: „Asozial“ - Über die staatliche Legitimierung zu Morden || 4. Teil: Abwertung und Gewalt gegen „Asoziale“ || 5. Teil: Zwangspsychiatrie - Kontinuitäten und Brüche || 6.Teil: Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit... || 7.Teil: Kein Platz für Schmarotzer || 8. Teil: Umgang der Politik und bürgerlichen Presse || ...

 

weitere Infos: Feature (de.indymedia.org) || Feature (linksunten.indymedia.org) || http://www.niemand-ist-vergessen.de/

 

Aktionen:

Farbe gegen Neonazi-Anwalt (21.05.2010) || Buttersäure verpestet Anwaltsbüros (Berliner Zeitung, 28.06.1994)  || ...

 

Aufrufe, Bürger_innen-Flyer, Texte:
Bündis-Aufruf: "Niemand ist vergessen!“ || Nachbarschaftsflyer || Aufruf der North East Antifascists (NEA): deutsch // schwedisch // niederländisch // tschechisch // polnisch // dänisch

Presse:

Farbe gegen Neonazi-Anwalt (ND-Bewegungsmelder, 26.05.2010) || PM zur Dieter Eich-Gedenk-Demo (24.05.2010) || Presseerklärung zur antifaschistischen Gedenkdemonstration vom 19.05.2010 || Vor zehn Jahren von Rechtsradikalen ermordet: Dieter Eich (Tagesspiegel, 23.05.2010) || In der eigenen Wohnung von Nazis erstochen (ND, 22.05.2010) || Gedenken nach Mord von Rechtsextremen (taz, 21.05.2010) || »Niemand ist vergessen« (jungeWelt, 21.05.2010)

 

Presse aus dem Jahr 2000: Tagesspiegel, 15.11.2000, Prozess gegen Rechtsextrem // Berliner Morgenpost, 15.11.2000, Saufen, raufen - töten // taz, 15.11.2000, Motivsuche bei rechten Tätern

Media:

Dieter Eich Gedenkdemo in Buch (2010,kanalB.org) || Mobilisierungsvideo von Leftvision || Interview mit Damion Davis von Spokenview || Video: Dach-Aktion bei LL-Demo || Gedenken in Buch 2009

 

Fotos:
23.05.2010 Demonstration (Medienkollektiv) || 23.05.2010 Demonstration ||  Dieter Eich Gedenkdemonstration 23.05.2010 Berlin Buch || Bilder von den Aktionen im Gedenken an Dieter Eich 2000 – 2009

Radio:
Radiointerview bei Radio Corax (18 MB)

Ältere Aufrufe:
2009 NEA|| 2008 NEA || 2003 AANO || 2002 AANO

www.niemand-ist-vergessen.de || siempre antifascista || ... weitere Links

 

Am 25.Mai 2000 ermordeten vier jugendliche Neonazis Dieter Eich in seiner Wohnung im Berliner Stadtteil Pankow-Buch. Vor Gericht gaben sie später an, sie hätten den 60-jährigen Sozialhilfeempfänger umgebracht, weil sie einen "Assi klatschen" wollten.
Zehn Jahre nach diesem Mord soll mit einer Gedenkdemonstration und weiteren Veranstaltungen sowohl die Erinnerung an die Tat wach gehalten werden, als auch die gesellschaftlichen Hintergründe aufgezeigt werden, die diese Tat erst ermöglichten.

Die Vorraussetzungen für solch einen Mord schaffen nicht in erster Linie gewaltbereite Neonazis, sondern auch ein tief in der Mehrheitsgesellschaft verwurzelter Arbeitsethos, der die Würde von Menschen größtenteils anhand ihrer Verwertbarkeit für den Kapitalismus misst. Die aktuelle Debatte um Hartz IV zeigt den staatlichen Ausdruck der Entwürdigung Erwerbsloser in diesem System. So empfahl beispielsweise Berlins Finanzsenator Thilo Sarrazin Hartz IV-Empfänger_innen öfter kalt zu duschen. Dies schmälere nicht nur die Staatsausgaben, sondern bringe auch die Körper der vermeintlich "Arbeitsscheuen" in Form. Roland Koch legte nach und forderte den sofortigen Arbeitszwang für Erwerbslose. SPD-Vize Hannelore Kraft hingegen empfahl unter Bezugnahme auf die allgemeine Arbeitsknapppheit, Hartz IV-Bezieher_innen sollten für ein entsprechendes Zubrot im Park Laub harken oder andere Tätigkeiten übernehmen. Was Kraft blumig als „Gemeinwohl-orientierten Arbeitsmarkt“ beschreibt, ist letzten Endes nichts anderes als die Forderung nach der Schaffung eines weiteren Niedriglohnsektors für Erwerbslose. Auf diese Weise wird in der Öffentlichkeit ein alles und jede_n umfassendes Wertesystem gefestigt, das (Lohn)arbeit zum höchsten Gut erhebt und Menschen, die nicht arbeiten können oder wollen von sozialer Teilhabe und dem gesellschaftlichem Reichtum ausschließt. Ohne diesen funktionalen Arbeitsethos wäre die staatliche und gesellschaftliche Ausgrenzung nicht Leistungsfähiger/ -bereiter, die alltägliche Konkurrenz aber auch die daraus resultierende Gewaltbereitschaft gegen sozial Ausgegrenzte nicht denkbar. Im Rahmen dieses mehrheitsgesellschaftlichen Diskurses wird es den Mörder_innen so genannter "Asozialer" ermöglicht und erleichtert, ihr Handeln öffentlich zu legitimieren.

Die Vorstellung, dass mensch um jeden Preis arbeiten müsse, so schlecht die Bedingungen auch sein mögen, hat eine lange Durchsetzungsgeschichte. Über Jahrtausende wurde bereitwillig (oder auch durch Zwang) wechselweise für Gott, Vaterland und zur Erhaltung des nationalen Standorts mühselig schwerste Arbeit verrichtet. Dieses Prinzip ist über eine lange Zeit durch und für Menschen geschaffen und erhalten worden – es zu beseitigen liegt darum in der Hand von jedem_jeder selbst. Es ist die Verantwortung von uns allen, Arbeitszwang, Leistungsdruck und soziale Ausgrenzung zu überwinden. So gilt es also auch mit den eigenen Zwangsvorstellungen zu brechen und dem Staat mit all seinen Schikanen, die er gegen vermeintliche „Sozialschmarotzer“ ausübt, eine klare Absage zu erteilen. Am 23. und 25.Mai wurde daher für eine Gesellschaft auf die Straße gegangen, die den Anspruch in sich trägt, jegliche Form von Diskriminierung und Unterdrückung Geschichte werden zu lassen.

Der Mord an Dieter Eich steht in einer langen Reihe von Morden und Gewalttaten, die seit dem Mauerfall von Neonazis in Deutschland verübt wurden und reiht sich auch in eine seit Jahren nicht endende Welle rechter Morde in Europa ein. Verschiedene Gruppen wollen daher Dieter Eich gedenken, so wie allen anderen Opfern rechter und sozial-chauvinistischer Gewalt.

Informationen:
Niemand ist Vergessen!

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5. Teil der Artikelserie: Zwangspsychiatrie - Kontinuitäten und Brüche
http://de.indymedia.org/2010/05/281896.shtml

Interview mit Damion Davis von Spokenview
http://www.youtube.com/watch?v=VD3b0J1z67k

Am Sonntag, den 23.5.2010, waren wir mit einer kleinen Gruppe der AJB in Berlin-Buch, um auf einer Demonstration an Dieter Eich zu erinnern, der am 20. Mai 2000 von vier betrunkenen Neonazis in seiner Wohnung überfallen, verprügelt und später erstochen wurde.

Wie die spätere Aufklärung dieses Mordes bewies, ließen sich die Täter allein von ihrem Hass auf den „Assi“ leiten, den sie zunächst eigentlich ‚nur‘ „abklatschen“ wollten. Aus Angst vor den rechtlichen Folgen entschieden sie sich, den einzigen Tatzeugen – das Opfer Dieter Eich – zu beseitigen. Sie brachten ihn deshalb kaltblütig um.
Eine pikante Sache an der Geschichte ist, dass es allen voran den damals aktiven AntifaschistInnen und JournalistInnen zu verdanken ist, dass dieser Mord nicht nur als das Resultat einer dumpfen Übergriffigkeit von alkoholgetränkten Angehörigen der ‚Unterschicht‘ abgehandelt wurde. Nur zu gern hätten die Repräsentanten des deutschen Bürgertums die viel weiter reichenden und in gesellschaftlichen Bedingungen wurzelnden Beweggründe für den Mord an einem Sozialhilfeempfänger unter den Teppich gekehrt. Immerhin neigen solche ‚Vorfälle‘ für gewöhnlich dazu, das Ansehen und die Attraktivität einer Stadt – erst recht im ‚geläuterten‘ Deutschland – in den schmutzigen Abgrund der deutschen Wirklichkeit hinabzuziehen. Eine opferfeindliche Praxis ist das, die wir nur zu gut aus unseren eigenen Gefilden kennen, wo die Staatsanwaltschaft im Fall des Mordes an Josef Anton Gera tatsächlich der Meinung war, das offen eingestandene Motiv der Homophobie sei lediglich eine „Schutzbehauptung“ der Täter gewesen.
Neben dieser erkennen wir auch andere Parallelen im Umgang mit den Morden an Eich und Gera (nicht zu vergessen: Thomas Schulz, ermordet: 2005), die in unserem Beitrag zur Broschüre der NEA dargelegt ist.

Die Geschichte des Mordes an Dieter Eich führt uns vor Augen, wie wenig aufgearbeitet die Geschichte des Bochumers Josef Anton Gera eigentlich ist. Wir können bis Weilen immer noch nicht genügend beschreiben, wer er war. Gab es Menschen in seinem Umfeld, die um ihn trauerten? Wie kam es dazu, dass er am Abend, als er fast tot geprügelt wurde, zuvor noch mit seinen Peinigern trank und feierte? Warum wurde er im Krankenhaus augenscheinlich nicht entsprechend seines gesundheitlichen Zustandes behandelt? All dies ist eigentlich nötig um Gera ein würdiges Gedenken am 16.10.2010 in Bochum angedeihen zu lassen.

Die Demonstration am Sonntag, die am 10. Todestag (!) mit etwa 300 TeilnehmerInnen verhältnismäßig viele Menschen in einen nicht gerade zentral gelegenen Stadtteil zog, führte uns in den vielen gehaltenen Redebeiträgen sehr nah vor Augen, „wie das damals war“. Es gab am Rande der Demo kleinere Provokationen von Nazis, auf die die Demonstration aber nur in soweit einging, als dass sie den AnwohnerInnen in Reden erläuterte, was von (solchen) Deutschen zu halten ist.

Schon im Vorfeld und bei der Mobilisierung zur Demo fiel uns auf, wie ernsthaft und tiefgehend die Analyse der gesellschaftlichen und historischen Bedingungen betrieben wurde, in deren Kontext der Mord an Eich zu verorten ist. Schmal ist der Grad zwischen einem ehrlichen und würdevollen antifaschistischen Gedenken, bei dem die tieferliegenden Gründe nicht hintenüber fallen, und andererseits einer bloßen Instrumentalisierung des Opfers zum Zwecke der Agitation. Im ersteren Sinne ist die Demonstration aus unserer Sicht sehr gelungen.
In diesem Sinne bedanken wir uns bei den OrganisatorInnen des Bündnisses Niemand ist Vergessen! für diesen Beitrag.

Mögen Dieter Eich, Josef Anton Gera, Thomas Schulz und all die anderen Opfer faschistischer und rassistischer Gewalt uns immer in Erinnerung bleiben.