Zahlreiche Einwohner bestreiten die Existenz der Bundesrepublik, lehnen Ausweis und Steuern ab. Und pöbeln auf Ämtern.
Als die Polizei Anfang September nach Oderwitz eilt, weiß sie nur etwas von einer Geiselnahme. Tatsächlich verbarrikadierte sich ein 60-jähriger Mann im Haus, ließ seinen 86-jährigen Vater nicht gehen und drohte mit einer Waffe. Der Mann gibt auf, ehe ein Spezialeinsatzkommando der Polizei das Haus stürmt. Bei seiner Festnahme bezeichnet er sich gegenüber den Beamten als „Reichsbürger“.
Der Oderwitzer steht nicht allein. Polizeieinsätze gegen Reichsbürger sind auch aus den Landkreisen Bautzen und Meißen bekannt. Bislang ist die Szene im Landkreis Görlitz nicht durch besonders schwere Straftaten aufgefallen. Aber die Behörden haben gar nicht so selten mit Leuten zu tun, die die Bundesrepublik nicht anerkennen, sondern behaupten, das Deutsche Reich bestehe fort. In der Reichsbürgerbewegung tummeln sich Verschwörungstheoretiker, Spinner, Querulanten, aber auch Rechtsextreme und Waffennarren. Der Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, Carlo Weber, äußerte in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, dass „ein nationalistisch-revisionistisches, rassistisches, den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung ablehnendes und in Teilen gewaltbefürwortendes Gedankengut“ für diese Gruppe kennzeichnend sei.
Lange Zeit wurden sie nicht wirklich ernst genommen. Noch im Juli schätzte das Bundesinnenministerium ein, dass die „unstrukturierte, zersplitterte Reichsbürgerszene“ bislang „keine konkrete Gefahr“ für die öffentliche Ordnung und das Zusammenleben in Deutschland darstelle. Spätestens seit dem 19. Oktober ist das anders. Damals erschoss ein „Reichsbürger“ im bayerischen Georgensmünd einen Polizisten.
Seitdem laufen bei den Sicherheitsbehörden hektische Bemühungen, sich einen Überblick über die Reichsbürgerszene zu machen. Schließlich erwägt der Bund, die Reichsbürgerszene ab Anfang nächsten Jahres vom Bundesamt für Verfassungsschutz deutschlandweit beobachten zu lassen. Doch dazu benötigen die Experten erst einmal Klarheit über die Szene. Doch das ist gar nicht so einfach. So weiß zwar die Görlitzer Polizei von einzelnen Straftaten mit Beteiligung sogenannter Reichsbürger. „Gesonderte Statistiken zu Aktivitäten von ,Reichsbürgern’ werden in den Behörden des Freistaates Sachsen nicht geführt“, räumt Polizeisprecher Thomas Knaup ein.
Auch eine SZ-Umfrage ergab keine genauen Zahlen, da auch die Kreis-, Stadt- und Gemeindeverwaltungen keine Statistik über selbst erklärte Anhänger dieser Szene führen. Über Erfahrungen mit ihnen äußern sich aber fast alle angefragten Ämter. So berichtet das Görlitzer Einwohnermeldeamt von Fantasiedokumenten, die die Mitarbeiter vorgelegt bekommen. In der Kämmerei weigern sie sich, Steuern oder Bußgelder zu bezahlen. Auch rühren sich die „Reichsbürger“ nicht, wenn ihr Ausweis abgelaufen ist. Dabei herrscht in Deutschland Ausweispflicht. Wer sie umgeht, dem droht ein Bußgeld. Wird der Personalausweis zerstört, kann gegebenenfalls Strafantrag wegen Sachbeschädigung gestellt werden, da Ausweisdokumente Eigentum der Bundesrepublik sind.“
So ist das Problem mittlerweile auch bei der Bußgeldstelle des Landkreises gut bekannt. Tendenz steigend. Denn hier landen alle Ausweisverweigerer, die den Staat nicht anerkennen. „Kollegen werden beschimpft, und es werden Fantasieschreiben zu laufenden Verfahren eingereicht“, erklärt Kreis-Sprecherin Marina Michel. Zwar versuchten die Meldeämter, die selbst ernannten Reichsbürger und Ausweisverweigerer auf die von ihnen verursachte Ordnungswidrigkeit hinzuweisen. „Empfohlen wird allerdings, sich mit ihnen auf keine Diskussion einzulassen und nur pauschal zu antworten“, so Marina Michel.
Der Verwaltungsverband Weißer Schöps/Neiße mit Sitz in Kodersdorf machte ganz früh Erfahrungen mit Reichsbürgern. Im Dezember 2012 kamen zwei Bürger mit zerschnittenen Ausweisen an. Derzeit sind dem Verband jeweils ein Reichsbürger im Schöpstal, einer in Neißeaue und zwei in Horka bekannt. Das Reichenbacher Rathaus weiß von zwei Einwohnern, die ihren Ausweis verweigern. Im Verwaltungsverband Diehsa, der die Gemeinden Hohendubrau, Mücka, Quitzdorf am See und Waldhufen umfasst, entzündet sich der Widerstand gegen staatliches Handeln oftmals bei Grundsteuererhöhungen. „In jüngster Zeit“, so sagt der Vorsitzende des Verbandes, Dirk Beck, „werden die Betreffenden wieder lauter und radikaler“. Häufiger hätten ihm selbst gemalte Unterlagen von Menschen aus dem gesamten Verbandsgebiet vorgelegen. Er hält sich ähnlich wie die Mitarbeiter in Kodersdorf an die Marschrichtung des Kreises: „Wir lassen uns diesbezüglich auf keinerlei Diskussionen mit diesen Bürgern ein, obwohl wir meistens auf das Übelste beleidigt werden und uns mit Anzeige gedroht wird.“ Auch die Mitarbeiter des Görlitzer Rathauses sind immer wieder mit Schreiben kruden Inhalts konfrontiert. Allein das ist aber noch keine Straftat. Allerdings, so bestätigt Sprecherin Sylvia Otto, wurden auch bereits Strafanträge gestellt – wegen Beleidigungen, Drohungen und in einem Fall auch Körperverletzung.
Das bestätigt auch die Görlitzer Staatsanwaltschaft. Die Verfahren werden jedoch auch hier nicht im Einzelnen erfasst, teilt Pressesprecher Till Neumann mit, so dass die Behörde innerhalb einer Woche nicht sagen kann, wie viele Verfahren bei ihr laufen oder bereits abgeschlossen wurden. Jedoch sei zu beobachten, sagt Neumann, dass „sich die Taten überwiegend auf Beleidigungsdelikte sowie Straftaten der versuchten Nötigung oder Erpressung sowie Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte beschränken“. Selbst ein Fall der Insolvenzverschleppung sei dabei. Doch einen Überblick sucht man hier wie überall bei den Behörden vergebens.
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Wolfgang Gerhard Günter Ebel, Begründer der zurzeit kursierenden Reichsideologie und selbsternannter erster Reichskanzler nach Adolf Hitler, ist kürzlich verstorben. Elemente aus seiner Vorstellungswelt sind unter anderem bei den Montagsmahnwachen und Pegida zu finden.
Von Jan Rathje
Alles begann mit einem außergewöhnlichen Streik im Jahr 1980. Gemäß alliierter Abkommen, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen worden waren, war die Deutsche Reichsbahn der DDR auch für den S-Bahnbetrieb in Westberlin zuständig. Ab dem 17. September 1980 streikten die Westberliner Angestellten gegen eine faktische Lohnsenkung. Auch Wolfgang Gerhard Günter Ebel arbeitete damals für das DDR-Staatsunternehmen. Am 25. September 1980 endete der Streik schließlich, nachdem sowjetische Soldaten bereits Stellwerke geräumt hatten. Ebel wurde zusammen mit anderen Streikenden entlassen. Anschließend strengte er verschiedene Gerichtsverfahren zu seiner finanziellen und gesundheitlichen Absicherung in Westberlin an.
Im Zuge dieser Geschehnisse soll es zu einem herausragenden Ereignis in Ebels Leben gekommen sein. Nach eigenen Angaben offenbarten ihm Abgesandte der Alliierten die wahren Verhältnisse auf deutschem Boden: Das Deutsche Reich bestehe weiterhin fort, es befinde sich aber unter Besatzung und verfüge weder über eine politische Führung noch über einen Friedensvertrag mit den Alliierten.
Zwischen 1981 bis 1985 muss er aus diesem Erweckungserlebnis die derzeit gängige Form der Reichsideologie entwickelt haben. Dazu zählt der Glaube, die Bundesrepublik Deutschland sei eine illegale Verschwörung gegen das »deutsche Volk« und das Deutsche Reich bestehe weiter, sei jedoch führerlos. Letzteres zu beheben und über ersteres aufzuklären, sah Ebel fortan als seine wichtigste Aufgabe an – stets in scheinbarem Einklang mit den alliierten Mächten.
Die Beziehung Ebels zur Deutschen Reichsbahn nahm in seinem Leben eine besondere Rolle ein. Seine Arbeit in dem DDR-Staatsunternehmen führte ihn offensichtlich zu der Annahme, Staatsbeamter des Deutschen Reiches zu sein. Am 8. Mai 1985 begann nach Ebels Angaben dann seine Karriere als Reichsfunktionär. Zum 40. Jahrestag des Sieges der Alliierten über Nazideutschland übernahm er als vermeintlicher Reichsbeamter die Amtsgeschäfte des Präsidenten des Kommissarischen Reichsgerichts sowie des Generaldirektors der Reichsautobahn und Reichsbahn. 2012 behauptete Ebel darüber hinaus, ebenfalls Generalbevollmächtigter für das Deutsche Reich und Berlin geworden zu sein.
Im Oktober 1985 will er vom stellvertretenden amerikanischen Stadtkommandanten und späteren Botschafter der USA, John C. Kornblum, den Auftrag erhalten haben, Reichsverkehrsminister zu werden. In dieser Funktion sollte er den »Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa vom Atlantik, einschließlich des Mittelmeerraums, bis zum Ural« leiten. Unklar bleibt, ab wann sich Ebel auch als Reichskanzler bezeichnete. 2013 sagte er, die Ernennung sei ebenfalls im Mai 1985 erfolgt. In dieser Zeit dürfte sich auch die erste »Kommissarische Reichsregierung« (KRR) um den vermeintlichen Reichskanzler gebildet haben.
Die Regierungsgeschäfte der KRR bestanden vornehmlich darin, juristische Auseinandersetzungen mit der Bundesrepublik zu führen, Lehrgänge in der Reichsideologie abzuhalten und Ausweisdokumente zu verkaufen. Von besonders praktischer Natur war schließlich die Beteiligung von Anhängerinnen und Anhängern der KRR an dem 2009 gescheiterten Versuch, im brandenburgischen Krampfer das »Fürstentum Germania« zu errichten.
Schon 1987 gerieten die von der KRR angestrengten juristischen Auseinandersetzungen an einen Punkt, an dem Ebel schließlich für schuldunfähig nach Paragraph 20 des Strafgesetzbuchs erklärt wurde. Grund hierfür waren seine Vorstellungen von der Fortexistenz des Deutschen Reiches. Innerhalb der Gemeinschaft, die sich im Laufe der Jahre um sowie schließlich auch gegen und neben Ebel gebildet hatte, war diese Beurteilung des Zustands des Reichskanzlers von doppelter Bedeutung. So dienten die darauf basierenden Einstellungen von Verfahren gegen Ebel seinen Anhängerinnen und Anhängern als Beweis der politischen Immunität ihres Reichskanzlers, also einer Anerkennung seines Amtes durch die Bundesrepublik Deutschland. Andere Gruppen nutzten das psychologische Gutachten zur Delegitimierung der Konkurrenz. Sie hatten sich abgespalten, da die Unterordnung Ebels unter die Alliierten ihrem Verständnis von deutscher Souveränität zuwiderlief. Derzeit gibt es ungefähr 40 »Reichsregierungen«, deren Betätigungsgrad und Mitgliederzahl sich erheblich unterscheiden. Hinzu kommen Einzelpersonen, die der Reichsideologie anhängen.
Zu den derzeit bekanntesten Vertretern der Reichsideologie oder Verfechtern einzelner ihrer Elemente zählen Xavier Naidoo und Peter Fitzek, der besser bekannt ist als König des »Königreichs Deutschland« im sachsen-anhaltinischen Wittenberg. Ebels gedankliche Konstrukte sind inzwischen anschlussfähig geworden. Die Beobachtung der Montagsmahnwachen für den Frieden, der »Hooligans gegen Salafisten« und der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« hat gezeigt, dass gerade die verschwörungsideologischen Elemente von nicht wenigen geteilt werden. So zeugen diese Demonstrationen davon, dass sich ein Transfer dieser Ideologie aus dem Netz auf die Plätze vollzieht, wie Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin es jüngst treffend formulierte. Dabei wird über die sozialen Netzwerke, Konferenzen und Szenemagazine wie Compact und Magazin 2000Plus die diffuse Forderung nach »deutscher Souveränität« verbreitet, inklusive der notwendigen Konstruktion von Feindgruppen. Wie viele Menschen dem Glauben folgen, dass das »deutsche Volk« durch eine Verschwörung politischer Eliten (Fed, »BRD GmbH«) und der Medien (»Lügenpresse«) manipuliert wird, lässt sich nicht bestimmen. Eine Wiederholung der Studien zum autoritären Charakter wäre in der Bundesrepublik nicht nur angesichts dieser Phänomene angebracht.
Ebel besaß jedenfalls ein eindeutig rechtsextremes Weltbild. Er verbreitete antisemitisch chiffrierte, verschwörungsideologische Ansichten, etwa wenn er die Mär von der jüdischen Abstammung Helmut Kohls reproduzierte. Die Forderung nach einem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 ist ein weiterer, aggressiv-gesch-ichtsrevisionistischer Aspekt seines rechtsextremen Weltbilds.
Um die Gesundheit des »Reichskanzlers« stand es seit längerem nicht gut. 2013 erlitt Ebel einen Schlaganfall. Am 29. Dezember 2014 starb er schließlich im Alter von 75 Jahren. Er hinterlässt eine Ideologie, die dem deutschen Bedürfnis nach der widerspruchsfreien Volksgemeinschaft eine besondere, bisweilen skurrile Ausdrucksform verleiht und im Internet einen ewigen Jungbrunnen gefunden hat.
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12.2.2015