Umstrittene Demo-Parole in Berlin: Drastischer Zugriff

Erstveröffentlicht: 
06.07.2015

Ist „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ eine zulässige Äußerung? Nach einer Griechenland-Solidemo ermittelt die Polizei gegen 21 Personen.

 

BERLIN taz | Die Debatte über Griechenland wird nicht erst seit Sonntag immer hitziger – dem will die Berliner Polizei offenbar einen Riegel vorschieben: Gegen 21 Personen, die vergangenen Freitag an einer Demonstration gegen die europäischen Sparvorgaben teilnahmen, ermittelt die Polizei jetzt wegen „Verunglimpfung des Staates“. Der Grund: ein 22 Meter langes Transparent der linken Gruppe Theorie Organisation Praxis Berlin (TOP) mit der prägnanten Aufschrift „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“.

Noch am Auftaktort, dem Kreuzberger Oranienplatz, habe die Polizei das Transparent beschlagnahmt und einen Kessel um alle gebildet, die sich in der Nähe aufhielten, berichtet ein Aktivist aus dem Vorbereitungskreis der Demonstration. Als Grund hätten die Beamten wörtlich „Beleidigung von Deutschland“ angegeben. Über zwei Stunden habe das Aufnehmen der Personalien gedauert, in dieser Zeit habe die Demonstration nicht beginnen können.

Wer „die Bundesrepublik Deutschland beschimpft oder böswillig verächtlich macht“, kann laut Strafgesetzbuch mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Dass DemonstrantInnen aufgrund dieses Paragrafen in Gewahrsam genommen werden, ist in Berlin allerdings unüblich „In meiner langjährigen Tätigkeit habe ich das noch nie erlebt“, sagt der Rechtsanwalt Ulrich von Klinggräff, der am Freitag vor Ort mit der Polizei verhandelte. Der Vorwurf sei auch in diesem Fall nicht haltbar: „Diese Aufschrift steht hier klar im Kontext eines Meinungskampfes, in dem man sehr wohl auch zu drastischen Äußerungen greifen darf“, so Klinggräff.

Nachdem das Transparent beschlagnahmt wurde, druckten DemonstrantInnen die strittige Parole in einem nahe gelegenen Copy-Shop aus und stellten sich mit den Plakaten vor die Polizei. „Diese spontane Solidarität hat uns sehr gefreut“, sagt Marlies Sommer, Sprecherin der Gruppe TOP.

Sie seien „sehr optimistisch, dass diese absurde Maßnahme keinen Bestand hat“, sagt Sommer. Alle Betroffenen seien eingeladen, sich zu melden, um ein gemeinsames Vorgehen zu koordinieren. Aus ihrer Sicht ist das Verhalten der Polizei bezeichnend für die aktuelle Debatte: „Während deutsche Politiker glauben, sich als neue europäische Supermacht aufspielen und die Menschen in Griechenland nach Lust und Laune beleidigen und herab würdigen zu können, reagiert der deutsche Staat auf jede Kritik äußerst empfindlich.“

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Redebeitrag von TOP B3RLIN auf der Demonstration "Nein! Oxi! No! zur Sparpolitik - Ja zur Demokratie!" am 3. Juli 2015.

 

Bekanntlich will die griechischen Regierung am Sonntag über die ihnen von der EU angebotenen Sparmaßnahmen abstimmen lassen. Aus Panik davor, dass im Referendum eine Absage an die deutsch-europäische Austeritätspolitik erteilt wird, bildet sich in Deutschland eine neoliberale Einheitsfront aus Regierung, Medien und Stammtisch. Ihr Hass und ihre Nervosität speist sich aus der Angst, dass nicht mehr deutsches Kapital und deutsche Herrenmenschenpolitiker*innen den Ton in Europa angeben könnten. Vergessen und vorbei sind alle Reden und Schwüre auf das Prinzip demokratischer Souveränität, der Lack ist ab: Demokratie ist im Kapitalismus eben immer nur dazu da, das Rad der kapitalistischen Verwertung und Ausbeutung möglichst geschmeidig am Laufen zu halten. Schon eine linkssozialdemokratische Regierung wie die griechische ist da eine Zumutung für die deutschen Zuchtmeister*innen des Krisenregimes, in deren Augen sich die griechische Demokratie schon länger auf dem gleichen Ramschniveau befindet wie die griechischen Staatsanleihen.

Dass es sich bei den Bedingungen der sogenannten „Rettungsmaßnahmen“ vor allem um einen Angriff auf Lohnabhängige und Arbeitslose handeln könnte, dass Hartz IV, verarmte Griech*innen und der Exportweltmeistertitel in einem Zusammenhang stehen könnten, dass „vernünftige Sparpolitik“ in Deutschland wie in Europa nichts anderes heißt als Klassenkampf von oben, scheint hierzulande jegliche Vorstellungskraft zu sprengen. Schon der sachliche Hinweis, dass der überwiegende Teil der europäischen Hilfsgelder in Griechenland dafür verwendet werden musste, um vornehmlich deutsche und französische Investitionseinlagen zu retten, gilt hierzulande als Aberglaube, wenn nicht als Hochverrat. Fast unnötig anzufügen, dass am Ende nicht „der Steuerzahler“ gewinnt, sondern das Kapital – auch wenn die deutschen Staatsbürger*innen im und mit dem Krisengewinnerland Deutschland vergleichweise gut durch die Krise gekommen sind, selbst wenn hierzulande die Gürtel enger geschnallt werden und immer mehr einfach aus der „Schicksalsgemeinschaft“ rausfliegen.

Ginge es tatsächlich um das Wohl der Menschen in Griechenland und Europa und wäre der Anspruch tatsächlich, die Krise „zu lösen“, so müsste die Frage nicht lauten: Sparpaket Ja oder Nein, sondern Kapitalismus Ja oder Nein. Denn egal, wie sich die Wähler*innen am Sonntag entscheiden, die nächste Krise kommt bestimmt. Denn krisenhaft und irrational ist jeder Kapitalismus, ob sozialdemokratisch, neoliberal oder grün.

Ein Nein im Referendum bedeutet zwar die Zurückweisung der aktuellen Zumutungen der deutsch-europäischen Austeritätspolitik, also eine Ablehnung des brutalsten Neoliberalismus der Troika aus IWF, EZB und EU-Kommission, und ist daher zu unterstützen. Sie ist aber noch lange nicht die Lösung der wahren Krisenursache: des Kapitalismus. Ein Nein am Sonntag macht also nur Sinn, wenn sie als Türöffner für eine Perspektive jenseits von Staat, Nation und Kapital verstanden wird.

Deshalb heißt Solidarität für uns nicht, die Griechenlandfahne auszupacken und andere Nationen hochleben zu lassen, sondern Deutschland, dieser mehrfach gestaffelten Institutionalisierung aus Größenwahn und Untertanentum, aus arroganter Einsamkeit und aggressiver Gefühlskälte, als neoliberalen Mitverursacher der gesellschatlichen Gesamtscheiße zu benennen und all jene zu Unterstützen, die mit ihrem Nein zum Sparpaket ein Nein zu einem Europa des Kapitalismus verbinden. Das Problem heißt Kapitalismus, das Problem heißt Deutschland.

Oder um es mit den Worten unserer griechischen Genoss*innen zu sagen:

Nein zum kapitalistischen Totalitarismus
Nein zur Diktatur des Marktes
OXI ΣTON KAΠITAΛIΣTIKO OΛOKΛHPΩTIΣMO
OXI ΣTH ΔIKTATOPIA TΩN AΓOPΩN

Für den Kommunismus.