Die für heute angesetzte mündliche Verhandlung zum Buch "Stuttgarter NS - Täter"
ist kurzfristig abgesagt worden. Grund ist der Rückzug des Antrags auf
einstweilige Verfügung durch den Kläger, des Stuttgarter Rechtsanwaltes
Volker Lemp. Dieser geht juristisch wegen des Kapitels über seinen
Großvater Karl Lempp gegen den Autor, Arzt und NS-Forscher Karl-Horst
Marquart sowie dessen Verleger, Hermann G. Abmayr vor.
Karl Lempp, ehemaliger Leiter des Städtischen Kinderheims sowie des
Städtischen Gesundheitsamtes war laut Darstellung des Buches als
leitender städtischer Beamter an Zwangsterilisierungen und an
Kindereuthanasie beteiligt. Sein Enkel wollte mittels
Unterlassungsklage erzwingen, die Verbreitung des Buches "sofort
und so lange einzustellen, bis die Seiten, die Herrn Dr. Karl Lempp
betreffen, aus dem Buch entfernt oder unkenntlich gemacht worden sind,
einschließlich der Namensnennung auf der rückwärtigen Umschlagseite und
im Inhaltsverzeichnis". Für den Fall der Zuwiderhandlung wurde
beantragt, dem Verleger und dem Autor ein Ordnungsgeld bis zu je
250.000,00 € bzw. Ordnungshaft bis zu sechs Monaten anzudrohen.
Der
für die heutige Verhandlung vorhergesehene Raum 155 des Stuttgarter war
mit weit über 100 Teilnehmern völlig überfüllt. Auf dem Gang vor dem Saal drängten sich dutzende
weitere Interessierte, darunter eine Schulklasse. Vertreter des Arbeitskreis „Euthanasie“, der Stolperstein-Initiativen, von den AnStiftern, des Schmetterling Verlages sowie Herausgeber und Autoren informierten die Anwesenden im Gerichtssaal kurz über die Ereignisse.
Mit "gemischten Gefühlen"
wurde die geplatzte Verhandlung von den Vertretern der Initativen
aufgenommen. Auch wenn damit vorerst der Druck und auch die
wirtschaftlichen Folgen von Verlag und Herausgeber genommen sein
dürfte, bliebe damit doch die Stuttgarter "Kultur des Wegschauens" vorerst unangetastet. "Bei einer Verhandlung wären die Vertreter der Stadt zu einer Stellungnahme gezwungen worden",
so einer der Vertreter. Schließlich schlummern in den Archiven der
Stadt meterweise Akten über die an den Verbrechen während des
Faschismus Beteiligten, die noch immer nicht aufgearbeitet wurden. Das
unterstreicht die Notwendigkeit eines Dokumentationszentrums, das nach
den Vorstellungen der Initiative Gedenkort Hotel Silber in der ehemaligen GeStaPo Zentrale eingerichtet werden soll. Aktuell ist das ehemalige Hotel jedoch vom Abriß bedroht.
Volker
Lempp erhielt gestern abend durch die Anwälte der Beklagten
umfangreiche Post. Mit der 12 seitigen Erwiderung und der ergänzenden
15 seitigen Anlage belegen die Verteidiger, dass "(...) Dr. Lempp federführend in das Zwangssterilisationsverfahren im hiesigen Raum involviert war (...)".
Zugleich wird klargestellt, dass die Faschisten die Euthanasie und die
darin verstrickten verantwortlichen Personen naturgemäß "diskret" behandelten, wie auch die Abläufe der Geheimhaltung unterlagen. So ist "bekannt,
daß Ärzte nur in Zusammenhang mit einschlägigen Euthanasiefällen Zugang
zum Kriminaltechnischen Institut des Reichssicherungshauptamtest hatten" und dass die in den historischen Dokumenten geäußerten Bezeichnungen ""Behandlung" in Wahrheit "Tötung durch Verabreichung einer Überdosis von Tabletten oder Spritzen bedeutet." Betraut mit der Besorgung des in der Euthanasie bevorzugt verwendeten Medikamentes "Luminal" war die Assistentin Lempps, Dr. Schütte. Sie und der "an höchster Stelle angesiedelte Medizinalbeamte" Prof. Dr. Eugen Stähle, der das Euthanasieprogramm in Baden - Württemberg organisierte und sich "mithin in der Rolle des Vorgesetzten von Dr. Lempp" befand, waren auch die "Entlastungszeugen" für Dr. Lempp während dessen Entnazifizierungsprozesses. In diesem Geflecht aus gegenseitigem Schutz und Verschweigen der Wahrheit wird deutlich, warum in der so genannten "Entnazifizierung" Dr. Karl Lempp lediglich als "Mitläufer"
charakterisiert und lediglich zur Zahlung eines "Sühnebeitrages" von
2000 Mark verurteilt und danach nie wieder angeklagt wurde. Für Volker
Lempp war das Urteil in dem Spruchkammerverfahren von 1947 jedoch
entscheidend. Er forderte in seiner Klage den "postmortalen Persönlichkeitsschutz" seines Großvaters.
Ob
die Erwiderung für Volker Lempp ausschlagggebend war, den Antrag auf
einstweilige Verfügung zurückzuziehen konnte heute nicht geklärt werden
- von seiner Seite gab es zumindest im Gerichtssaal keine
Verlautbarung. Auch sonst enthielt sich der Anwalt, der laut
”Stuttgarter Nachrichten” vom 30.11.09 wegen des Buches für seine
Familie befürchtet, “darauf angesprochen oder geschnitten zu werden”, öffentlichen Diskussionen, die ihm mehrfach angeboten wurden. Ob er die Geister, die er rief so wieder los wird?
In
der Hauptsache wolle er jedoch an der Klage festhalten, so die
Beklagten. Der Schmetterling Verlag will jetzt überprüfen, ob der
Vertrieb an den Handel wieder aufgenommen werden kann, aber auch, ob
Schadensersatz gefordert wird. Bis zur Klärung kann das 383 seitige
Buch mit 48 Schwarz-Weiß-Abbildungen beim Verlag Hermann G. Abmayr zum
Preis von 19,80 € bestellt werden. Am 12.12. wird um 15:30 h im Kino
Atelier der Film „Spur der Erinnerung“ gezeigt. Dabei gibt es auch die
Gelegenheit über den Fall des "Täterbuchs" zu sprechen.
Siehe auch:
- die StattWeb Beiträge Neues vom Angriff auf das Buch "Stuttgarter NS-Täter" und "Stuttgart: Zensur gegen das NS-Täter Buch?"
- den "taz" Beitrag: "Persönlichkeitsschutz für NS-Täter"
- Stellungnahme des Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart & Region: "Gegen Geschichtsumschreibung und politische Zensurversuche"