Ein Jahr nach dem Beginn der Proteste auf dem Kiewer Maidan lassen sich die Ergebnisse der großartigen prowestlichen „Revolution“ kurz zusammenfassen: Die ukrainische Volkswirtschaft ist ruiniert, den Menschen geht’s schlechter denn je und noch nie waren so viele Nazis und Oligarchen an den Hebeln der politischen Macht.
Gleich fünf von sechs im Parlament vertretenen Parteien haben sich vergangene Woche in Kiew zu einer neuen Koalition zusammengeschlossen: Der Block von Präsident Petro Poroschenko, die Volksfront von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, die Partei Samopomitsch (Selbsthilfe) des Bürgermeisters von Lwiw, Andrij Sadowi, die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko und die Radikale Partei des Populisten Oleg Ljaschko. Bei der Erklärung der Schwerpunkte der kommenden Koalition kam es zu wenigen Überraschungen: NATO-Beitritt, EU-Annäherung, IWF-Kredite und – ohne das geht ja nicht - „schmerzhafte Reformen“, vulgo: Sozialabbau bis die Schwarte kracht (obwohl man sich ein wenig fragt, was da denn noch abzubauen sein soll).
Die Zusammensetzung des neuen Parlaments und die ersten programmatischen Äußerung dieser Fünferbande wirken wie die konzentrierte Zusammenfassung dessen, was in den vergangenen zwölf Monaten in der Ukraine geschehen ist. Es sind dieselben grauenhaften Politikergestalten mit ihren Verbindungen zum Großkapital, die die Ukraine regieren. Neoliberale Programme wurden eingeleitet, Neonazis sind in der „Mitte“ der Gesellschaft akzeptiert und parteiübergreifend will man so schnell wie möglich in die NATO und die EU. Zeit für eine kleine Bilanz.
Oligarchenmacht ausgedehnt
Als wir im Februar 2014 den Maidan besuchten, bemerkten wir, dass die DemonstrantInnen dort auch vernünftige Gründe hatten, auf die Straße zu gehen, auch wenn diese durch chauvinistische und nationalistische Gedanken überlagert waren. Einer der vernünftigen Gründe war die Einsicht, dass mit den Oligarchen, die seit dem Ende der Sowjetunion die Ukraine wie kaum ein anderes Land im Griff haben, zu brechen ist. Am Ende brach der Maidan auch mit Oligarchen, allerdings nicht mit allen, sondern nur mit der Clique des früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch, die von den Futterstellen der Macht vertrieben wurde.
Aber weil der Aufstand eine nationalistische Form hatte und sich der Volkszorn auf die „prorussischen“ Oligarchen beschränkte, bedeutete er zugleich einen großen Machtzugewinn für die nationalistischen, chauvinistischen Eliten, also für die „pro-ukrainischen“ Oligarchen. Der Maidan, der einst – zumindest im Bewusstsein einiger seiner TeilnehmerInnen – dazu antrat, die Macht der Oligarchen in der Ukraine zu beschränken oder gar zu brechen, hat so zu deren Ausweitung beigetragen.
Das lässt sich schon daran ablesen, dass der gegenwärtige Präsident ein Vertreter dieser Zunft ist. Poroschenko, im Westen liebevoll „Zuckerkönig“ genannt, lässt nicht nur etwa 450 000 Tonnen Süßwaren jährlich produzieren, sondern macht auch in Automobilen, Landwirtschaft und Waffen. Auch wenn westliche Medien ihn gerne zum „Unternehmer“ bagatellisieren, er bleibt – das zeigt seine gesamte Erwerbs- und Politbiographie – ein typischer Vertreter der ukrainischen Oligarchen. Neben Poroschenko gewann durch den Maidan vor allem einer: Der Multimilliardär und für seine skrupellosen Geschäftspraktiken bekannte Bankier Igor Kolomoiski. Kolomoiski, dessen Imperium über 100 Firmen umfasst, hatte sich sehr früh für den Euro-Maidan eingesetzt und ihn auch mit seinen eigenen Massenmedien gefeatured. Das hat sich gelohnt, er konnte – auch durch die Finanzierung rechter Militäreinheiten – seinen Einfluss enorm erweitern.
Neonazis im Staatsapparat
Igor Kolomoiski unterstützt auch die stärkste Partei der Ukraine, die zugleich die im Westen beliebteste ist: Die „Volksfront“ des US-Lieblings und Premierministers Arseni Jazenjuk. Selbige vertritt nicht nur eine radikal neoliberale Position und einen kriegstreiberischen Kurs gegenüber den Aufständischen im Osten der Ukraine. Sie ist vor allem auch das zentrale Vehikel zur Integration bewaffneter Neonazis in den „regulären“ Staatsapparat. Vor der Wahl formierte Jazenjuk einen sogenannten „Militärrat“, in den er die Führer mehrerer militärischer Formationen einband, darunter viele Rechte. Mit dabei auch der Führer des faschistischen Azov-Bataillons und der Neonazi-Organisationen „Sozial-Nationale Versammlung“ (SNA) und „Patriot der Ukraine“, Andrij Biletzki.
Im Programm der SNA heißt es: „Unser Nationalismus ist nichts als ein Schloss aus Sand, wenn er nicht auf den Grundfesten des Blutes und der Rasse beruht.“ Biletzki und seine Kämpfer meinen das ernst. Deshalb sieht er das Azov, das mittlerweile vom ukrainischen Innenministerium zu einem offiziellen „Regiment“ ernannt wurde, in einem „Kreuzzug gegen die von Semiten geführten Untermenschen“, in dem „die weißen Rassen der Welt“ um ihr Überleben kämpfen. In hochrangigen Funktionen in der „Volksfront“ finden sich zudem langjährige Neonazi-Aktivisten wie der frühere Gründer der Sozial-Nationalen Partei der Ukraine, Andrij Parubij, oder die früher in der rechtsterroristischen UNA-UNSO aktive Tetjana Tschornowol.
Faschisten und Neonazis sind – obwohl sowohl Rechter Sektor wie Svoboda, also die beiden im Westen bekanntesten faschistischen Formationen bei den Parlamentswahlen schlecht abgeschnitten haben – im Parlament über sämtliche Fraktionsgrenzen hinweg und als Direktkandidaten zahlreich vertreten. Das lohnt sich für die Faschisten. In den Formationen der Nationalgarde, in Armee und Geheimdienst haben sie bereits Machtpositionen inne. Nun bauen sie diese auch in den regulären Polizeieinheiten aus. So wurde das SNA-Mitglied Vadim Trojan (eigentlich ein Pseudonym) zum Kiewer Polizeichef ernannt, vom Innenminister Arsen Awakov, der selbst Mitglied der „Volksfront“ ist, in der Trojans Chef Biletzki eine zentrale Rolle spielt.
Privatisierung und Sozialabbau
Was diese Koalition aus neoliberalen Politikern, Großkapital, Nationalisten und Faschisten nun durchsetzt, lässt sich kurz in drei Bereichen umreissen. Außenpolitisch wirkt man auf eine schnellstmögliche Westbindung hin, samt (unrealistischer) EU- und NATO-Mitgliedschaft. Innenpolitisch ist der Hauptfokus der Sieg im Krieg gegen die Aufständischen in Donezk und Lugansk sowie die Ausschaltung jedweder Opposition zu den neuen Machthabern, sei sie bewaffnet oder nicht, sei sie separatistisch oder nicht. Und sozialpolitisch wird ein harter Kurs der Privatisierung, Austerität und weiteren Verarmung durchgesetzt.
Die wirtschaftlichen Folgen des Euromaidan sind enorm: Die Hrywna hat abgewertet, viele Güter des alltäglichen Bedarfs sind teurer geworden. Die Industrieproduktion ging zurück, 2014 befindet sich die Ukraine in einer Rezession. Verschiedenen Schätzungen zufolge wird in diesem Jahr die ukrainische Wirtschaftsleistung zwischen 6 und 10 Prozent zurückgehen.
Als Gegenleistung für Kredite westlicher Geldgeber, vor allem des IWF, sind bereits weitgehende Maßnahmen beschlossen, deren Auswirkungen auf die Volkswirtschaft und die Lebensverhältnisse der ärmeren Teile der Bevölkerung verheerend sein könnten. Bereits im Juli 2014 verkündete Jazenjuk den Start des größten Privatisierungsprogramms in der Geschichte des Landes. Gehandelt wird nach der IWF-typischen Devise: „Alles muss raus!“ Hunderte Betriebe will der Staat in den nächsten Jahren an die bestbietenden verscherbeln.
Die Gaspreise sollen erhöht werden, eine Katastrophe für Privathaushalte. Das Pensionsalter wird angehoben, zahlreiche staatliche Unterstützungsleistungen, etwa im Elektrizitäts- oder Bildungssektor, sollen wegfallen. Wir können uns eine genauere Analyse sparen, es reichen zwei Feststellungen: Zum einen sind die Kredite, die die ukrainische Regierung aufgenommen hat, gebunden an weitreichende Austeritätsmaßnahmen, die das Land weiter in den Abgrund führen werden. Die „Bedingungen für die Kredite zusammen mit der politischen und ökonomischen Krise, in der sich die Ukraine befindet, sind ein Rezept für ein Desaster“, kommentiert Josh Cohen in Foreign Policy.
Und unter diesen Bedingungen einer völlig abgefuckten Volkswirtschaft möchte die ukrainische Regierung ihr Land dann in den gemeinsamen Wirtschaftsraum – und damit in die offene Konkurrenzsituation - mit den wesentlich stärkeren Nationen der Europäischen Union führen. Wir brauchen keine Hellseher zu sein, um uns ausmalen zu können, dass der Großteil der Bevölkerung der Ukraine von dieser Strategie nichts Gutes zu erwarten hat.
Unsere neuen Hurensöhne
Soweit, so schlecht. Wir als in Deutschland tätige Linke konnten in diesem einen Jahr Euromaidan aber noch etwas anderes lernen. Wir konnten beobachten, wie schnell sich Medienberichterstattung und politische Willensbekundungen neuen Gemengelagen anpassen, wenn es um ökonomische und geostrategische Interessen geht.
Die Verharmlosung von Faschismus und Neonazismus wurden im Zuge der Ukraine-Krise deutsche Staatsräson. Wer nicht glauben wollte oder konnte, dass Neonazis, Bandera-Fans und Rassisten in der Ukraine keine Rolle spielen, wurde kurzerhand zum „Putinisten“ erklärt.
Am Ende doch ein wenig verwundert mussten wir feststellen, dass aus der Mitte des liberalen, demokratischen und aufgeklärten Bürgertums kein Einspruch dagegen zu hören war, dass nun auch Swoboda, Rechter Sektor, Azov, Bandera-Fans oder jene Julia Timoschenko, die bekundete am liebsten die gesamte russischsprachige Bevölkerung der Ukraine ausrotten zu wollen, ganz offiziell zu den Rettern „europäischer Werte“ stilisiert wurden. Im Gegenteil: Es war die bürgerliche „Linke“, SPD und Grüne, die sich als die Vorhut neu-deutscher Einflussnahme in der Ukraine, präsentiert haben.
Das Ergebnis: Keine 70 Jahre nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition über den deutschen Faschismus bilden heute deutsche Bullen in Kiew Neonazis an der Waffe aus, im Rahmen einer EU-Mission. „Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn“, hat US-Präsident Franklin D. Roosevelt über den nikaraguanischen Verbrecher und Tyrannen Somoza einmal gesagt. „Unsere Hurensöhne“ laufen heute mit Wolfsangel, Keltenkreuz und Kalaschnikow durch die Ukraine.
- Von Peter Schaber / lowerclassmag.com / facebook / twitter
schöner text
lese eure artikel immer sehr gern. weiter so!
?
Also was ist denn dieser oder dieses "Hrywna"? Hab ne micro recherche gemacht und nicht wirklich schlau geworden, ist das sowas wie der aktienindex (zb. wie "dow jones" oder "dax) ?
Hrywna ist die ukrainische Währung
Was wir in diesem Jahr vor allem sehen konnten, ist
dass doch viele Leute eher Putinfans sind (von links bis rechts), als dass sie für Emanzipation eintreten; dass sich viele Leute doch von den russischen Staatsmedien auf den neuen Krieg einstimmen lassen (Medienkompetenz sieht anders aus) oder kremeltreue Medien wie Junge Welt und Telepolis plötzlich höhere Auflagen oder Klickzahlen erreichen; dass es vielen Leuten nicht ins Weltbild passt, dass Krieg mal nicht von der USA, sondern diesmal von Russland ausgeht; dass vielen Leuten die Menschen in der Ukraine egal sind, sich aber um den armen Putin sorgen; dass viele Leute ein neues Feindbild haben (Kiew). Na klar, die neuen Machthaber in der Ukraine bringen auch nicht das große Glück. Wer hätte anderes erwartet. Doch vor 2 Jahren gab es das große Glück auch nicht. Veränderungen zum besseren Leben wären durch Frieden wahrscheinlich leichter. Den Krieg hat ja wohl kaum die Ukraine angefangen. Gäbe es Frieden, gäbe es wahrscheinlich auch weniger Neonazis mit Waffen in der Ukraine.
die nächste "Revolution"
Nach der orangenen Revolution vor zehn Jahren zog ein Ukrainer mir gegenüber die ernüchternde Bilanz: Nach sechs Wochen war alles wieder beim Alten. (Bericht: http://de.indymedia.org/2012/04/328261.shtml) Das Land bleibt im Griff der Oligarchen, diesmal eben derjenigen, die rechtzeitig mit dem Westfähnchen gewunken haben. Die Revolution, die auch am System was ändert, muss erst noch gemacht werden.