Lügner zweifeln nicht.

Erstveröffentlicht: 
13.10.2015

Portrait eines Aussagegutachters: Dieser Mann entlarvt die besten Lügen

 

Von Anja Reich

 

Max Steller befragt Menschen, die vor Gericht stehen, und stellt fest, ob sie die Wahrheit sagen. Er ist Deutschlands renommiertester Aussagegutachter – und nach über 40 Berufsjahren überzeugt, dass jeder unschuldig verurteilt werden kann.

 

Max Steller bittet darum, seine Adresse nicht zu nennen, auch das Viertel solle man lieber nicht beschreiben, nicht das Haus, die Wohnung, den Balkon. Niemand soll wissen, wo er zu finden ist. Es habe da schon Situationen gegeben, sagt er, „Situationen, die nicht schön waren“. Mitte der Neunzigerjahre war es am schlimmsten. Auf Veranstaltungen wurde er beschimpft, vor seinem Institut belagert, ein Privatdetektiv sollte sein Leben ausschnüffeln, Schwachstellen finden, irgendetwas, das ihn angreifbar machte. Auch jetzt, da er von zu Hause aus arbeitet, hat er keine Ruhe, bekommt Anrufe von Leuten, die er nicht kennt. Immer wieder klingelt während des Gesprächs sein Telefon im Arbeitszimmer. Max Steller sieht auf das Display. „Anonym“, sagt er, und geht nicht ran.

 

Max Steller, 71, emeritierter Professor für forensische Psychologie an der Berliner Charité, ist Aussagegutachter. Er befragt Menschen, die vor Gericht stehen und stellt fest, ob sie die Wahrheit sagen, sich irren, bewusst lügen oder Scheinerinnerungen erliegen. Aufgrund seiner Expertisen wurde der Moderator Andreas Türck von den Vorwürfen der Vergewaltigung freigesprochen sowie alle 24 Angeklagten in den berühmt-berüchtigten „Wormser Kindesmissbrauchprozessen“. Steller hat Mobbingopfer, denen niemand glauben wollte, zu ihrem Recht verholfen, Pfarrer, die sich an Kindern vergriffen, hinter Gitter gebracht, falsch beschuldigte Väter aus dem Gefängnis geholt und dabei nicht selten Polizisten, Staatsanwälten und Psychologen ihre Inkompetenz vorgeführt. Er hat viele Bewunderer. Und viele Feinde.

 

Er sitzt an seinem Schreibtisch, ein groß gewachsener Mann in Jeans und Polo-Shirt, das Gesicht weich, die Stimme ruhig. Hinter ihm im Regal stehen seine wissenschaftlichen Publikationen, vor ihm liegt ein schwarzes Hardcoverbuch, auf dem in roten Buchstaben „Nichts als die Wahrheit“, steht, und darunter: „Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann“. Das Buch ist gerade erschienen und so etwas wie eine Bilanz. Steller erzählt darin Fälle, die er in vier Jahrzehnten als Sachverständiger erlebt hat und zeigt die Schwachstellen der deutschen Justiz auf. Manche Geschichten klingen so abenteuerlich, dass man sie kaum glauben kann. Deshalb wollte der Verlag lieber einen anderen, schärferen Untertitel. „Vom Versagen der Justiz“ sollte auf dem Buchdeckel stehen. Steller war dagegen. Er sagt, das sei ihm zu plakativ gewesen. „Da wird ja auch vieles richtig gemacht.“

 

Aber stimmt es denn so, wie es jetzt da steht? Kann wirklich jeder zum Opfer von Falschaussagen werden?

 

„Ja“, sagt Steller. „Zum Beispiel nach einem Scheidungskonflikt. Stellen Sie sich vor, Sie haben das Sorgerecht für das kleine Kind. Und Ihr Mann ist sauer und beschuldigt Sie, es geschlagen oder missbraucht zu haben. Wenn der Verdacht erst mal in der Welt ist, was machen Sie dann? Wenn Sie zusammenbrechen, sind Sie es gewesen. Sagen Sie, was ist denn das für Blödsinn, waren Sie es auch.“ Meistens ist es allerdings andersherum. Die Frau beschuldigt den Mann. Der Vorsitzende des Deutschen Familientags hat vor ein paar Jahren in einer Rede gesagt, in jedem zweiten Nachscheidungskonflikt komme der Verdacht des sexuellen Missbrauchs auf. „Dann“, sagt Steller, „muss man ganz genau recherchieren, wie die Aussage entstanden ist.“

 

„Lügen ist schwer“


Aussagepsychologie ist eine mehr als hundert Jahre alte Wissenschaft, und Max Steller ihr renommiertester deutscher Vertreter. Die richtigen Fragen stellen, Akten lesen, Widersprüche erkennen, skeptisch bleiben, sich nicht von Gefühlen überwältigen lassen – das ist eine große Kunst. Der Gutachter hält nichts von Traumdeutungen, Familienaufstellungen oder sogenannten Psychotraumatologen. Buchautoren, die ihren Lesern erklären, dass man Lügner am Rotwerden erkennt, sind für ihn Scharlatane. Und seit er in den USA über Lügendetektoren geforscht und seine Doktorarbeit darüber geschrieben hat, weiß er, dass diese Tests nur in Hollywoodfilmen funktionieren. Steller glaubt niemandem, bevor er nicht dessen Aussagen analysiert hat. Zu oft hat er Frauen gegenübergesessen, die sagten, sie seien Opfer einer Vergewaltigung, obwohl das nicht stimmte. Männern, die Verbrechen gestanden, die sie nicht begangen haben. Kindern, denen von Erziehern Dinge eingeflüstert wurden, die sie nie erlebt haben. Selbst im Fall Bill Cosby bleibt Max Steller skeptisch, auch wenn Frauen in Gruppeninterviews von ihren Missbrauchserfahrungen berichten. Oder gerade dann. „Denkbar ist alles“, sagt er, „Aber sollte man nicht auch mal an die Gefahr der Ansteckung denken und daran, dass Geld winkt?“

 

Im Gespräch sucht er manchmal lange nach dem richtigen Wort, und wenn er es nicht findet, überspringt er es lieber, statt ein anderes zu nehmen. Er erzählt von seinem ersten Fall, Anfang der Siebzigerjahre. In einem Heim sollte er ein 16-jähriges lernbehindertes Mädchen begutachten, das sagte, der Betreuer habe es missbraucht. Steller stellte schnell fest, dass sie recht hatte. Weil ihre Aussagen viel zu anschaulich waren, um sie sich auszudenken. „Lügen ist schwer“, sagt er. „Und je weniger begabt jemand ist, desto leichter ist es festzustellen, ob er die Wahrheit sagt oder nicht.“

 

Sein größter Fall war Worms: 25 Angeklagte. 16 angeblich missbrauchte Kinder. Alles begann damit, dass die Angestellte eines Vereins, der von sexuellem Missbrauch Betroffenen hilft, einen Verdacht hatte und auf eigene Faust ermittelte. Dann nahm die Sache ihren Lauf. Kinderärzte stellten leichtfertig Diagnosen, Gutachter suggestive Fragen, der Staatsanwaltschaft fiel nicht auf, dass eins der Kinder zum Zeitpunkt des Missbrauchs noch gar nicht auf der Welt war. Eltern, Tanten, Onkel mussten ins Gefängnis, verloren das Sorgerecht für ihre Kinder, ihre Arbeit, ihren Ruf. Steller wurde im Jahr 1995 eingeschaltet. Als Erstes hat er die Berge von Akten, die bis dahin nur chronologisch geordnet waren, den jeweiligen Kindern zugeordnet. „Plötzlich las sich alles ganz anders“, sagt er. „Da konnte man genau sehen, wie die Kinder von gut meinenden Erwachsenen unter Druck gesetzt worden waren, wie sich ihre Aussagen entwickelten, bis sie zu den Vorwürfen passten.“ Ein Gutachter beispielsweise ist mit einem Jungen zur Kneipe gefahren, in der er missbraucht worden sein sollte und fragte: „Kennst du die Kneipe?“ Der Junge sagte: „Nein.“ Später ist der Staatsanwalt mit dem Kind wieder dorthin gefahren, natürlich sagte der Junge nun, er kenne die Kneipe. Und der Staatsanwalt fragte nicht, woher.

 

Zwei Jahre war Steller mit den Wormser Fällen beschäftigt, hat sich in dem Geflecht aus Lügen und Scheinwahrheiten vergraben und alles andere um sich vergessen. Nicht einmal Weihnachten ist er nach Hause nach Berlin gefahren. Seine Ehe ist in der Zeit zerbrochen. Akten zu lesen war ihm wichtiger, schließlich saßen Menschen im Gefängnis, die nicht wussten, wie ihnen geschehen war.

 

Die Staatsanwaltschaft, sagt Steller, habe sich damals völlig verrannt. „Die hatten gerade ein neues Dezernat eröffnet und wollten nun Erfolge vorweisen.“ Es war die Zeit, als sexueller Missbrauch plötzlich in aller Munde war, die Zeit der Aufklärungen, aber, wie Steller sagt, „leider auch der falschen Verdächtigungen und falschen Propheten“. Die behaupteten zum Beispiel, missbrauchte Kinder könnten nicht über das reden, was ihnen angetan wurde. „So ein Quatsch“, sagt Steller. „Ich hatte seit anderthalb Jahrzehnten mit missbrauchten Kindern zu tun. Die haben alle gesprochen. Die können nicht lügen. Zwölfjährige können das, aber keine Fünfjährigen.“

 

Schweigen, auch das sagt der Professor, ist die erste Form des Lügens. In seinem Buch hat er ein ganzes Kapitel über wahre und erlogene Aussagen, Irrtümer und Scheinerinnerungen geschrieben. Da erfährt man, dass Lügner nicht zweifeln, gerne chronologisch und weniger anschaulich erzählen als Menschen, die die Wahrheit sagen. Ein Beispiel dafür ist Nicole, eine junge Frau, die Max Steller begutachtete, nachdem sie ihren Vater, ihre Brüder und mehrere Polizisten des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte. Der Vater saß bereits seit drei Jahren im Gefängnis, als eine Staatsanwältin stutzig wurde und den Charité-Gutachter einschaltete. Nicole kam mit ihrer Anwältin nach Berlin gereist und versuchte sofort, die Kontrolle über die Gespräche zu übernehmen, wollte nur über einen Vorfall pro Sitzung reden und antwortete so schleppend und ausweichend, dass Steller der Kragen platzte und er ihr erklärte, sie solle doch bitte auf seine konkreten Fragen auch konkret antworten. Daraufhin warf sich Nicole auf den Boden, schlug Füße und Kopf gegen die Wand. Steller teilte der Staatsanwältin mit, dass er erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt von Nicoles Aussagen habe und eine Borderlinestörung vermute, aber die Frau log und manipulierte noch lange weiter. Erst dem Hamburger Anwalt Johann Schwenn, der auch den Wettermoderator Jörg Kachelmann verteidigte, gelang es, sie zu stoppen und mithilfe eines Wiederaufnahmeverfahrens ihren Vater aus dem Gefängnis zu holen. Da hatte der 70-Jährige schon sieben Jahre Haft hinter sich.

 

Max Steller schüttelt den Kopf. Nicole sei damals nicht einmal zur Rechenschaft gezogen worden, sagt er. Schuldunfähig, lautete die Begründung, dabei gab es viele Hinweise darauf, dass sie bewusst gelogen hatte. Am meisten aber ärgert sich der Gutachter über all die mitfühlenden Psychologen, Anwälte und Polizeibeamten, die nie an Nicoles Aussagen zweifelten. „Überbehütung“ nennt Steller dieses Phänomen, das man sonst von Eltern kennt, die ihre Kinder keinen Moment aus den Augen lassen und ihnen immer recht geben. Er findet, dass Missbrauchsanzeigen mit der gleichen gesunden Skepsis hinterfragt werden sollten wie Autodiebstähle. Und dass die Ausbildung von Polizisten und Juristen besser werden muss. „Im Jurastudium kommt Aussagepsychologie nicht einmal vor. Und Polizeischüler hören nur davon, wenn zufällig mal ein Experte eingeladen wird.“

 

Max Steller sagt, dass nach dem Schock über die Wormser Missbrauchsprozesse und die Aufdeckung anderer falscher Anschuldigungen das Klima in der Gesellschaft eine Zeit lang besser geworden sei, weniger aufgeregt. Aber in letzter Zeit hat er das Gefühl, dass die Erinnerungen daran verblassen, und die neue Generation von Staatsanwälten und Richtern zu wenig über Aussagepsychologie weiß. Wahrscheinlich hat dieses Gefühl auch damit zu tun, dass Max Stellers Arbeitgeber, die Berliner Charité, seine Stelle gestrichen hat, als er 2009 in Rente ging. Die Zeit schrieb damals einen wütenden Text über den „Untergang des Sachverstandes“. Max Steller hatte die einzige Professorenstelle für Rechtspsychologie im ganzen Land. Bis heute wurde sie nicht wiederbesetzt.

 

Hinterm Gebüsch versteckt


Hat er sich mal geirrt in all den Jahren?

 

Er lacht. „Gute Frage.“ Dann erzählt er von einer 35-jährigen Frau, die sich bei der Polizei meldete und berichtete, im Alter von acht Jahren beobachtet zu haben, wie ihre Tante deren Sohn, den kleinen Markus, mit einer Nylonstrumpfhose erdrosselte. Sie habe, hinter einem Gebüsch versteckt, alles beobachtet, aber nie darüber gesprochen, weil Markus’ Mutter drohte, sie umzubringen, wenn sie das Geheimnis verrate. Die Polizei, die jahrelang nach Markus’ Mörder gesucht hatte, nahm die Mutter fest. Die Staatsanwaltschaft aber hatte Zweifel, auch weil die Zeugin mit einer Persönlichkeitsstörung diagnostiziert worden war. Wieder kam Max Steller ins Spiel. Bei seinen Befragungen lernte er eine blasse Frau kennen, die ununterbrochen weinte, aber detailreich und ohne sich zu widersprechen erzählte, wie sie auf ihrem Kinderrad ihrer Tante zum Einkaufscenter gefolgt sei, wie sie eine Abkürzung nahm, weil die Tante so schnell war, wie sich Türen automatisch öffneten und schlossen, wie ein Mann mit ihr schimpfte. Das Problem war nur, zu dieser Zeit gab es in Oldenburg noch gar kein Einkaufscenter. Das fand der Richter heraus, und Steller, der die Aussagen der Frau im Großen und Ganzen für glaubwürdig befunden hatte, musste sein Gutachten revidieren. Die Mutter wurde freigesprochen, Markus’ Mörder bis heute nicht gefunden.

 

Max Stellers Telefon klingelt wieder. Wieder steht „anonym“ auf dem Display. Wieder lässt Steller es klingeln. Er geht nicht mehr ins Gericht und nur noch selten ins Institut, persönliche Befragungen hat er schon eine Weile nicht mehr durchgeführt. „Ich hab genug Tränen gesehen“, sagt er. Weiter macht er trotzdem, begutachtet andere Gutachten, gerade hat er eins aus Österreich auf dem Tisch. Ein Kollege hat bei verschiedenen Sorgerechtskonflikten immer dieselben Begründungen verwendet, oft sogar ohne das Geschlecht zu ändern. „Copy und paste“, sagt Steller. „Völlig absurd.“ Und dann liegen in seinem Keller noch die 42 Bände aus den Wormser Prozessen. Manchmal fragt er sich, was aus den Menschen geworden ist, die damals falsch beschuldigt wurden – und aus den Kindern. Wie leben die heute, wie gehen sie mit dem um, was ihnen passiert ist? Er würde sie gerne danach fragen, sagt er. „Aber wer weiß, was man damit auslöst?“

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Interessant, was es in der Juristerei alles gibt: Aussagegutachter, die belegen wollen, ob ein Angeklagter lügt oder die Wahrheit sagt.

Und das, wie der Artikel zeigt, auch in Fällen von Vergewaltigungen. Dem Opfer wird nicht geglaubt. Sicher gibt es Frauen, die eine Vergewaltigung behaupten, die nie stattgefunden hat. Aber das ist die Ausnahme.

Weil Frauen allesamt gute Menschen sind?

 

Und was in das Problem dabei Aussagen in Zweifel zu ziehen und daraufhin nach Beweisen zu suchen, die die Zweifel bestätigen?