[Stolberg] Nazis erwarten 1000 TeilnehmerInnen

Deconstruct the Myth of Stolberg

Neonazis, NPDler_innen und Freie Kameradschaften haben ihre Mobilisierung zum bundesweiten Neonaziaufmarsch am 4.4.2009 nachStolberg begonnen. Neben örtlicher NPD, der NPD-nahen Kameradschaft Aachener Land mobilisiert das NIT-Rheinland mit. Es stellte unlängst eine Mobilisierungshomepage online. Auch kündigten sich bereits Faschist_innen aus dem europäischen Ausland an.

 

Den bundesweiten Neonazi-Aufmarsch in Stolberg/Rheinland am 4.4 verhindern!


Beweggrund der NS-Szene ist eine tödliche Auseinandersetzung, die 2008 stattfand. Im rheinländischen Stolberg bei Aachen kam es am Abend des 4. April zu einem Streit zwischen zwei Gruppen. Kevin P., der mit mindestens einem Neonazis unterwegs war, wurde im Zuge dieser Streitigkeiten erstochen. Dieses Ereignis wird und wurde von Neonazis zum Anlass genommen ein bundes- wenn nicht europaweites Großereignis der extremen Rechten zu etablieren.

Bereits Stunden nach der Tötung am 4.4.2008 diskutierten Neonazis in ihren Foren das Ereignis. Schnell stand fest, dass weit über die Region hinaus die extreme Rechte den Tod des Jungen für sich zu vereinnahmen suchte. Genauso wie Kevin P. zu einem Märtyrer und Neonazi stilisiert wurde, konstruierte die NS-Szene den für die Tat verhafteten Staatenlosen als „Ausländer“.

Infolge dieses Ereignisses fanden im April 2008 in rascher Folge zwei Aufmärsche der extremen Rechten im nordrheinwestfälischen Stolberg bei Aachen statt. Am 12.4.2008 beteiligten sich spektrums- und länderübergreifend 800 Neonazis an einem von Christian Worch mitorganisierten Aufmarsch. Parallel dazu fanden in mehreren Städten spontane Manifestationen der extremen Rechten statt. Auch während des Stolberger Aufmarsches, aber auch am Tag nach dem tödlichen Konflikt, wurden massive Drohungen gegen Migrant_innen laut. Zwei Wochen später marschierten erneut 450 Neonazis auf – diesmal aus dem NPD-Spektrum.

An beiden Demonstrationen beteiligten sich neben der gesammelten deutschen ‚Naziprominenz’ Neofaschist_innen aus dem europäischen Ausland. Nach den Aufmärschen tönte Worch: „Die letzten drei Wochen waren geprägt von Aktionen oder parlamentarischen Engagement wie es die Region in dieser Art und Weise von nationaler Seite noch nicht erlebt haben dürfte – dies sollte aber erst der Anfang sein!“ und kündigte an: „Wir werden jedes Jahr für Kevin auf die Straße gehen!“. Inzwischen hat die örtliche NPD unter Ingo Haller bis 2018 jährliche Demonstrationen angemeldet.

Stolberg ist ein Ort, der für Szenekenner_innen kein unbeschriebenes Blatt sein dürfte. Rund 25 Jahre – bis 1991- befand sich in Stolberg der Sitz der inzwischen verbotenen neonazistischen Wiking-Jugend. Wolfgang Nahrath und später sein Sohn Wolfram betrieben von ihrem Privathaus in Stolberg-Büsbach aus die Bundeszentrale dieser Organisation. Zudem hat die NPD in Stolberg gleich zwei Ratsmandate inne, die DVU ein weiteres. Die passende Stadt zum Ereignis – so scheint es.

Auch in der Folgezeit verschwand Stolberg nicht aus den Debatten der NS-Szene. Ob in Presseorganen der Parteigebundenen oder „Freien“, ein Großteil der extremen Rechten strickte fleißig und ausdauernd an der Mythenbildung. „Der Mord von Stolberg“ wurde nicht nur in der NPD Zeitung „Deutschen Stimme“ zum Slogan für die Ereignisse.
Zum Urteil im Prozess um die tödliche Auseinandersetzung entstand eine erneute Diskussion. Nazis debattierten das Gerichtsurteil vom Oktober 2008, das 6 Jahre Haft für den Beschuldigten vorsah. Zuvor kündigte Christian Worch an, in dem Falle eines „zu milden“ Urteils, werde er in Aachen vor dem Amtsgericht aufmarschieren lassen. Anscheinend im Gegensatz zu Worch fanden die User_innen von Altermedia das Urteil tatsächlich zu milde und diskutieren frei heraus Todesstrafe und Selbstjustiz.

Die Debatten, ob der Getötete nun einer der Ihren war, ein „Nationalist“ oder eben ‚nur’ ein „junger Deutscher“, zogen sich durch das gesamte Jahr. In jedem Fall, so die NS-Szene sei aber deutlich, dass die Ereignisse in Stolberg ein prima Beweis für „Ausländerkriminalität“ seien, ein Beweis, der das Selbstbild der extremen Rechten als Opfer bestärken soll.

Bei einem weiteren Großereignis der (nord)europäischen Rechten, beim Salemmarsch 2008 rief der Neonazi Patrick Müller die Tötung des jungen Mannes in Stolberg in Erinnerung.
In Salem, einem Vorort Stockholms, wurde im Jahr 2000 ein junger Neonazi in einer Auseinandersetzung mit Migrant_innen umgebracht. Auch dort wurde der Tote umgehend zum Märtyrer stilisiert. Seitdem findet in Salem jedes Jahr einer der größten NS-Aufmärsche Nordeuropas statt. An diese ‚Tradition’ schien man in Sachen Stolberg anknüpfen zu wollen. Einer der prominentesten deutschen Teilnehmer des Aufmarsches im schwedischen Salem ist Christian Worch, der offensichtlich ein Faible für Märtyrer hat. Er fragte – nicht als einziger – bereits am 27.4.2008 im Bezug auf Stolberg rhetorisch: „Wird Stolberg das ‚deutsche Salem’?“
In der Rede Müllers in Salem 2008 wurden beide Ereignisse, Salem wie Stolberg in Bezug zueinander gesetzt und für rassistische Implikationen genutzt. Phantasiert wird von einer permanenten Gewalt ausgehend von Migrant_innen gegen „Nationalisten“. Explizit geht Müller auf Stolberg ein, schreibt dem getöteten Kevin P. zu, er habe sterben müssen „weil er sich zu Deutschland und seinem Volk bekannte“.

Es geht der extremen Rechten bei Veranstaltungen wie in Salem und Stolberg um den Beweis und die Bestärkung der Disziplin, um die Einschüchterung vermeintlicher Gegner_innen und um die Erinnerung an die Pflicht gegenüber der Kameradschaft. Zudem soll der Opferkult der extremen Rechten durch alljährliche Rituale zum Gedenken der Märtyrer aufrechterhalten werden.

Die Neonazi-Szene versucht in Stolberg ein symbolisches Datum, ein Großereignis zu etablieren, mit dem bundesweit ein Aufmarschanlass geschaffen und zudem eine teils taktisch zerstrittene Szene geeint werden soll. Und so setzt sich in Neonazikreisen eine Konstruktion der Ereignisse durch, die auf Opfermythos, Märtyrerkult und rassistische Implikationen setzt. Es wird ein Bild gezeichnet, nachdem die Tat nur ein weiteres Beispiel für eine ständige Verfolgung „der Deutschen“, der Nationalist_innen durch Migrant_innen, durch Linke und durch eine breite Öffentlichkeit sei, gegen die sie sich gemeinsam, entschlossen und gewaltsam zur Wehr setzten müssten.

Dass diese Ereignisse so viel Aufmerksamkeit in der Neonazi-Szene erreichen konnten, hat nicht zuletzt mit der Funktion des Märtyrergedankens zu tun. Funktion des ritualisierten Gedenkens ist die Schaffung eines gemeinsamen Selbstbildes, eines kollektiven „Wir“ der Teilnehmer_innen. Durch Erinnerungskult kann so eine idealisierte Form des Handelns transportiert werden: Belebt wird das männliche Bild des Kämpfers, des Standhaften, des Opferbereiten, des Unbeugbaren. Der Märtyrer-Mythos verlangt nach einer Stilisierung des geopferten „Helden“.

Der historische Opferdiskurs der extremen Rechten wird immer wieder angestrengt. Sei es in Dresden oder Wunsiedel, wo sich Rechte als Opfer der Alliierten generieren, sei es in dem Themenfeld der Meinungsfreiheit, in dem sich ausgerechnet Neonazis als Träger_innen eingeschränkter Rechte und Betroffene staatlicher Repression wahrnehmen oder sei es im Bereich Migrationspolitik, in dem ‚Deutsche’ der extremen Rechten als Opfer demographischer Entwicklungen oder durch überall als präsent imaginierte Gewalt gelten. ‚Opfer-sein’ ist bei extrem Rechten nicht zuletzt deshalb so beliebt, weil aus einer unterdrückten Position heraus der verzweifelt heroische Kampf mit allen Mitteln gegen die vermeintlichen Unterdrücker legitimiert werden kann.
Die Mythologisierung der Ereignisse in Stolberg bietet einen Anschlusspunkt für rassistische Opferdiskurse und bedient so eines der wichtigsten Kampffelder der Rechten. Es geht bei der Konstruktion eines Märtyrers eben nicht um die konkrete Person, sondern um die Funktion, die ihr Tod einnehmen kann.

Das diesjährige Motto „Sicher leben – ohne Multikulti“ bringt die rassistische Instrumentalisierung der Tötung auf den Punkt. Als Gedenkmarsch deklariert, werden hunderte Neonazis, „freie und parteigebundene Kräfte“ geeint, durch das migrantische Viertel marschieren, um dort ihre rassistischen Phantasien denen entgegenzuschleudern, die ihre menschenverachtende Gewalt fokussiert. Allerdings steht bislang die Route der Neonazis nicht fest. Taktische Vorschläge – anknüpfend an die Ereignisse in Dresden 2009 – wurden aber bereits formuliert: „Wir sollten eine Taktik anwenden wie sie sich in Dresden bewährt hat. Die Gegendemo der Zecken muss mit entsprechenden Stosstrupps schnell und brutal zerschlagen werden. Am Besten in Seitengassen“.

Ein solches – bundesweit diskutiertes – Ereignis wie in Stolberg, wirkt auf die Szene zurück. So feierten die „Autonomen Nationalisten“ bundesweit den ersten Stolberger Aufmarsch als den ersten großen militant agierenden „Schwarzen Block“ – noch vor dem ersten Mai 2008 in Hamburg. „Freie Kameradschaften“ und NPD zeigten eine selten so offen zur Schau gestellte Einigkeit. Diese drückt sich auch darin aus, dass dieses Jahr – im Gegensatz zum letzten – ein gemeinsamer Aufmarsch-Termin angesetzt wurde.

Allerdings zeichnen sich bereits während der Mobilisierung zum kommenden Aufmarsch interne Differenzen ab. So polemisiert die "Kameradschaft Aachener Land" auf Altermedia gegen sog. „Autonome Nationalisten“ und beklagt erneut, dass sich 2008 „gewisse Herrschaften einfach über die Abmachung hinweg setzten“. Angespielt wird hier auf handgreifliche Auseinandersetzungen während eines Stolberger Aufmarsches, auf dem der NPD Ordner_innendienst Schwarzgekleidete ausschloss. Ein_e andere_r User_in kündigt an, eine Teilnahme des örtlichen NPD Vorsitzende Willibert Kunkel, werde zu einem Boykott des Aufmarsches etlicher potentieller Teilnehmer_innen führen. Des Weiteren befürchten „freie Kräfte“, dass der Stolberger Aufmarsch zu einer NPD-„Wahlkampf-Demo“ wird. Mit dem „NPD-Ordnerdienst“ sei „Ärger jetzt schon vorprogrammiert“. Zündstoff bot wohl auch Ingo Hallers Ankündigung als Demonstrationsleiter, NPD Symbole seien durchaus vorgesehen. Den Forderungen der „Freien Kräfte“ erteilte er damit eine klare Absage. Eine Altermedia-Userin bringt die Konfliktlinien auf den Punkt und prophezeit: „Ich sehe vorraus: Es wird eine NPD Demo, Wahlkampfreden werden gehalten (inplizit) [sic], der NPD Ordnerdienst spielt sich auf und es gibt internen Streß, der Alkoholiker Kunkel hält eine Rede (was ebenfalls zu Streß mit den Freien führen wird)…“. Dabei ist Kunkel echt eine Reise wert…

… zurück zum Thema:
Antifaschist_innen planen unterdessen Gegenaktivitäten. Neben einem (sehr) bürgerlichen Bündnis werden sich die intervenierenden Widerstände auf das migrantische Viertel, durch das die Nazis marschieren wollen, konzentrieren. Bereits im letzten Jahr war dieses Viertel, das Mühlener Viertel, der Ort, an dem es die einzigen eingreifenden Proteste gab. Diesbezüglich ist eine Kundgebung der Gruppen AK Antifa Colone und AK Antifa Aachen ab 9:30 Uhr am Mühlener Markt angemeldet worden.

Nun könnten wir uns damit retten, zu sagen: Das ist doch nur ein kleines Dorf im Nirgendwo. Das Ereignis, was dort aber konstruiert wird, kann erstarkend auf die gesamte Neonaziszene wirken.
In einem Neonaziforum formulierte unlängst jemand, „Dresden, eine gemeinsame große Maidemo und diese Demo [also Stolberg] sollten als Großdemos jedes Jahr sich wiederholen, ihr werdet sehen das [sic] automatisch immer mehr Teilnehmer kommen werden“.

Eine sich einstellende Routine, ein Großereignis für die extreme Rechte, müssen wir, müssen Antifaschist_innen aufbrechen, bevor es sich etabliert, bevor es zu einem festen Datum in einem jeden Nazikalender wird, bevor der Mythos sich durchgesetzt hat.

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Sehr gut, ich hoffe mal das viele Antifaschisten und Demonstranten überhaupt kommen werden. In Leipzig ist es immer schwierig die Bürger zu Demos gegen rechts zu motivieren. dabei wird eine Demo erst wirkungsvoll wenn nicht nur erkennbar aktive Antifaschisten und Antirassisten teilnehmen, sondern einfach engagierte Bürger. Da muss man noch viel tun!