Freifahrt für alle und die Fußball-WM in Brasilien

Anfang 2011 startete das Movimento Passe Livre (MPL) wieder eine Kampagne für Freifahrt im Nah- und Fernverkehr, die dieser Tage in einer allgemeinen Protestbewegung zu gipfeln scheint, die breitere Teile der Gesellschaft erfasst und auch andere Forderungen aufgreift. Die Proteste richten ihren Unmut u.a. gegen Gentrifizierung, die dazu führt, dass im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Sommerolympiade 2016 in Rio de Janeiro die BewohnerInnen ganzer Favelas von der bis an die Zähne bewaffneten Staatsmacht vertrieben werden, um dem Größenwahn von FIFA und Olympischem Komitee Platz zu machen.

 

Während der bürgerliche Blätterwald wie üblich demokratische Grundrechte wie das Demonstrationsrecht als „Grund“ für die Gewalteskalation ausmacht, ruft die Diktatur-erprobte Polizeigewalt in São Paulo und anderen Städten gegen die Protestbewegung Bilder wach, die wir aktuell auch in der Türkei beobachten können. Vielleicht kein Zufall, dass die DemonstrantInnen in Brasilien rufen: „Taksim ist überall“.

Recht auf Mobilität


Recht auf Stadt auf brasilianisch: Am Donnerstag, den 13.6., gingen in São Paulo 10.000 Menschen, in Rio de Janeiro über 5.000 Leute und in mehreren anderen Städten wie Brasilia weitere Zehntausende Personen auf die Straße. „Zur Eröffnung des Confed Cup mischt sich der Unmut über die Fahrpreiserhöhungen mit der Empörung über Privatisierungen, der Verschwendung von Steuergeldern und Zwangsumsiedlungen im Rahmen der Vorbereitungen für die Fußballweltmeisterschaft im kommenden Jahr.“ [1] Bereits in den vergangenen Jahren wurde häufiger die Forderung nach einem kostenlosen Transportwesen auf die Straßen der brasilianischen Städte getragen. Das MPL, eine von SchülerInnen getragene soziale Bewegung, legte 2003 mehrere Tage den Verkehr in Salvador, Bundesstaat Bahia, lahm und konnte 2005 einen Erfolg erringen, als die Regierung aufgrund heftiger Proteste eine geplante Fahrpreiserhöhung zurücknehmen musste. [2]

 

 

„Das Modell des öffentlichen Transportwesens, das zulässt, dass private Firmen es ausbeuten und Fahrgelder einheben, ist gescheitert. Es wird krisenhaft bleiben, solange die urbane Mobilität der Warenlogik folgt – im Gegensatz zur Idee, dass städtische Mobilität ein grundlegendes Recht für jede/n ist. … [Die Profitlogik und die Preiserhöhungen sind] ein Akt der Gewalt gegen große Teile der Bevölkerung, die … sich zwischen Essen oder der Zahlung von Tickets im öffentlichen Verkehrswesen entscheiden müssen. [Die 37 Millionen BrasilianerInnen, die sich kein Ticket leisten können] kommen nicht aus dem Nirgendwo: durch jede 20 Cent Preiserhöhung wurde das Transportwesen … die dritthöchste Ausgabe der brasilianischen Familie, wodurch der Bevölkerung das Recht auf Mobilität gestohlen wird“, so heißt es in einer Stellungnahme einiger AktivistInnen des MPL vom 15.6. [3] Erst vor 18 Monaten gab es eine Preiserhöhung um zehn Prozent, jetzt stieg der Fahrpreis von 2,75 auf 2,95 Reais, wobei das Busfahren in São Paulo mit 3,20 Reais am kostspieligsten ist. „Wer täglich zwei Fahrten zurücklegen will, muss in diesen beiden größten Städten Brasiliens rund ein Viertel des monatlichen Mindestlohns (etwa 265€) opfern. Damit sind die Fahrtpreise in diesen beiden Städte in Relation zum Mindestlohn weltweit unter den höchsten“, schreibt der Freitag. [4]

Repression

Unter den zahlreichen Verletzten bei der Demonstration letzten Donnerstag  sind laut Bloomberg News auch sieben JournalistInnen der Zeitung Folha de São Paulo, eine von ihnen bekam ein Gummigeschoss der Polizei direkt in die Augen und wird vermutlich erblinden. In offiziellen Statements wird hingegen im Einklang mit dem Rauschen im bürgerlichen Blätterwald nur der Vandalismus von DemonstrantInnen kritisiert und darauf hingewiesen, dass die Regierung nicht mit Gewalttätern verhandeln werde. Schon richtig klischeehaft der Aufruf von Justizminister Cardozo an die Polizei, die „Anführer“ der Protestbewegung zu fassen, nachdem mehrere DemonstrantInnen, einige von ihnen mit Irokesenfrisur und den roten Fahnen der Kommunistischen Partei angeblich dabei gefilmt worden seien, wie sie Gebäude und Busfenster zerstörten. Punks als Parteikader der KP… ach wie originell, beinahe so amüsant wie Erdogans Çapulcu-Neurose.

Privatisierung des Transportsektors

In Rio de Janeiro liegt das urbane Verkehrswesen zur Gänze in privater Hand. „Doch trotz der immer höheren Preise ist der angebotene Service prekär: Fahrpläne gibt es fast keine, die Fahrtzeiten sind unregelmäßig, die Busse überfüllt. Fahrer und Kassierer werden teils illegal unterhalb des Mindestlohns bezahlt, manche sogar pro gefahrener Runde: Je schneller sie fahren, desto besser fällt der ansonsten magere Lohn aus. Ein Umstand, der immer wieder zu Unfällen führt: Erst im April diesen Jahres durchbrach ein voller Bus die Leitplanke eines Viaduktes, ein Unfall der zehn Personen das Leben kostete.“ [5]

Friede den Stadien, Krieg den Favelas

„Während sich die Lage rund um den Personennahverkehr verschärft, werden Milliarden an öffentlichen Mitteln in fragwürdige Infrastrukturprojekte investiert: Allein für fünf neue Stadtautobahnen werden rund 5,7 Milliarden Reais (zwei Milliarden Euro) ausgegeben, wobei deren Nutzen jenseits der Spiele hoch umstritten ist. Ihre Kehrseite mussten schon jetzt viele Personen am eigenen Leib erfahren. Allein um Platz für die fünf großen Straßenprojekte zu schaffen, wurden bereits über tausend Familien enteignet und aus ihren Häusern vertrieben, weitere 4200 Familien sind durch die Planungen bedroht. Wie das „Volkskomitee WM und Olympia“ berichtet, sind in Rio de Janeiro seit 2011 insgesamt 3100 Familien enteignet worden, weiteren 8000 droht die Vertreibung. Von den Räumungsaktionen sind fast ausschließlich Bewohnerinnen der vielen Favelas in Rio de Janeiro betroffen, ganze Viertel mit jahrzehntelanger Tradition werden zerstört.“ [6]

Laut der NGO Hafen Community Forum in Rio de Janeiro sind allein in Morro da Providência, der ältesten Favela Brasiliens, 832 Häuser zum Abriss vorgesehen und wurden bereits 140 Häuser zerstört (Stand: Dezember 2012), um verschiedenen Projekten zu weichen, die im Vorfeld von Fußball-WM und Olympiade geplant sind. Dazu gehören neben einer Funicular Bahn Arbeiten an Straßen und Sanitäranlagen sowie der Bau von Sportstätten. Selbst auf denkmalgeschützte Gebäude wird dabei keine Rücksicht genommen. „Dahinter stehen zwei wesentliche Themen. Eines ist die Staatsgewalt, welche die Implementierung von Infrastrukturprojekten rechtfertigt. Ein Beispiel dafür sind die UPPs [„Polizeieinheiten zur Befriedung“, die vorgeblich gegen die (Drogen-)Kriminalität in den Favelas vorgehen soll] in Rio de Janeiro, die ausschließlich in jenen Favelas eingesetzt werden, die die Stätten der großen Sportereignisse umgeben. Das ist eine Stadt zum Verkauf. Die Maßnahmen zur Bevölkerungskontrolle dienen dazu, die Menschen akzeptieren zu lassen, was noch kommt … Die andere Sache ist die Verwendung von öffentlichen Plätzen, die über viele Jahre hinweg vernachlässigt wurden. Jetzt ist der Boden wertvoll geworden und die gesamte Umgebung wurde umstrukturiert, es gibt also mehr und mehr Spekulation“, kommentiert Caroline Rodrigues da Silva vom Hafen Community Forum. [7]

In einem Artikel über die eigens vom brasilianischen Parlament auf Druck der FIFA verabschiedeten „FIFA-Gesetze“ beschreibt Raúl Zibechi die Auswirkungen dieser Gesetze, die größtenteils gegen nationales Recht verstoßen. Dabei werden u.a. sämtliche Einnahmen aus dem Merchandising etc. exklusiv denjenigen garantiert, die von der FIFA zertifiziert wurden; das Alkoholverbot in den brasilianischen Stadien soll aufgehoben werden; die Bannmeilen werden u.a. demokratische Grundrechte wie das Demonstrationsrecht außer Kraft setzen, wie es bereits im Bundesstaat  Minas Gerais festgelegt wurde; eine spezielle Gerichtsbarkeit für Fälle rund um die WM soll eingerichtet werden; die Visa-Gesetze sollen zum Vorteil des Geschäftsinteresses der FIFA angepasst werden; und alle FIFA-MitarbeiterInnen sollen von den Steuergesetzen ausgenommen bleiben. [8]

 

 

Quellen:

[1] http://www.freitag.de/autoren/felix-martens/zum-auftakt-der-spiele-brasilien-gibt-gummi

[2] http://www.vice.com/de/read/freie-fahrt-fur-alle-0000081-v7n12

[3] http://farefreebrazil.blogspot.tw/2013/06/protests-in-sao-paulo-why-we-are-in_9939.html

[4] http://www.freitag.de/autoren/felix-martens/zum-auftakt-der-spiele-brasilien-gibt-gummi

[5] ebenda

[6] ebenda

{7] http://www.ipsnews.net/2012/12/favelas-the-football-in-the-run-up-to-brazils-world-cup

[8] http://www.cipamericas.org/archives/6434

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danke für den informativen Artikel.

Eine anarchistische Reflexion über die aktuelle Lage in Rio de Janeiro

http://de.contrainfo.espiv.net/files/2013/06/Genozid-und-Spektakel.pdf

Allein in Rio de Janeiro waren laut Guardian am Montag wohl 100.000 Menschen auf der Straße. Sporadische Auseinandersetzungen mit der Polizei in verschiedenen Städten. Der Confed Cup wird zum Ziel politischer Proteste.
http://www.guardian.co.uk/world/2013/jun/18/brazil-protests-erupt-huge-s...