Kairo-Jahrestag

25. Januar 2012

Hunderttausende haben sich zu einer beeindruckenden Kundgebung auf dem Tahrir versammelt. Von vereinzelten Zusammenstössen mit den Moslembrüdern abgesehen, ist bisher alles friedlich gebleiben. Die Gefährten von http://egyptianspring.blogsport.de/ haben gestern Abend einen Bericht aus Kairo  auf ihrem blog veröffentlicht, den wir im folgenden dokumentieren.

 

Ein Jahr Revolution. Morgen, am 25. Januar, wird der Tahrir-Platz ein Spiegel sein, der den Zustand Ägyptens ein Jahr nach Beginn der Revolution zeigt. Was wird geschehen? Es lässt sich so wenig sagen, wie es sich vor einem Jahr sagen ließ. Wird es blutige Zusammenstöße geben, wird das Militär das zu verhindern wissen, um das Bild der Revolutionsfeiern nicht zu stören? Wird es der Auftakt zu einer nächsten Welle der Revolution – oder deren Ende?

Wenn man heute die Mobilisierungsvideos für den 25. Januar anschaut, etwa das oben (dank an den anonymen Kommentator, der es mir zugesandt hat), so finden sich darin dieselben Bilder, die seit einem Jahr für Videos dieser Art, mehr oder weniger professionell zusammengeschnitten und mit Musik unterlegt, verwendet werden. Die 18 Tage Revolution, die zu Mubaraks Rücktritt führten, sind noch immer der Ausgangs- und Referenzpunkt aller politischen Aktivität in Ägypten, auch wenn neue Bilder zurück hinzugekommen sind: die Bilder der Proteste im Juli, vor allem aber im November und Dezember. Ein Unterschied aber fällt ins Auge, vergleicht man die jetzigen Zusammenschnitte mit denen aus dem Frühjahr. Keine Panzer sind mehr zu sehen, auf denen die Protestierenden tanzen, keine Verbrüderungen und Küsse zwischen Demonstranten und Soldaten. Die Zeit der großen Einheit, der Einheit des Volkes, aber auch der Einheit des Volkes mit der Armee, sind passé. Soldaten sind jetzt nur noch zu sehen, wie sie auf Demonstrierenden einprügeln und -treten; das Video schließt, quasi schon im Abspann, mit dem angeblich zufällig aufgenommenen „Spaziergang“ von Armeechef Tantawi im Anzug in der Kairoer Innenstadt im November, der weithin als Zeichen gedeutet wurde, dass der Armeechef sich darauf vorbereitet, selbst als nächster Präsident zu kandidieren. Es gibt keine mächtigen Verbündeten mehr, keinen Rückhalt von Seiten der Institutionen – die Bilder der jetzigen Videos zeigen nichts als die Träger der Revolution selbst, in ihrer ganzen erschreckenden Schlichtheit: Menschen auf der Straße, junge zumeist, arme zumeist, bloß, manchmal mit Steinen bewaffnet, von Tüchern geschützt, zumeist aber ohne jeden Schutz, ohne jede Waffe als den Zusammenhalt, die Entschlossenheit, sich die einmal erkämpfte Würde nicht mehr nehmen zu lassen. Menschen in bewunderswerter Stärke, in erschreckender Verletzlichkeit.

 

Es sind diese Bilder, die den Zustand der Revolutionsbewegung symbolisieren: Die falschen Freunde sind weggebrochen, aller Schmuck, alle Illusion ist auf dem Weg abgestreift. Die, die nur den Parlamentssitz haben wollten, einen Teil von Kuchen der Macht, sind auf der Strecke geblieben, die Unterstützer von einst haben sich als die Feinde von heute herausgestellt. Von der Revolution ist der Kern geblieben, er wird es sein, der morgen auf den Tahrir-Platz, auf all die Plätze stürmen wird. Und dort in seltsamen Kontrast auf eben jene Karikatur von Revolution, jenen Schatten von Revolution treffen wird, den das Militär sich wie einen schützenden Umhang umgelegt hat. Morgen werden sie sich ungeschützt gegenüber stehen: die Protagonisten der Revolution und die Militärs, die sich zum Hüter der Revolution erklärt haben und diese seit zwölf Monaten versuchen niederzuschlagen. Sie haben den 25. Januar zum Feiertag erklärt, und den Tag der ersten öffentlichen Erklärung des Militärrates, den 10. Februar, gleich dazu. Sie haben einen „Jahrmarkt der Regionen“ auf dem Tahrir-Platz angekündigt. Und einen Militäraufmarsch.

 

Das Militär, scheint sich, ist sich der Symbolkraft des Tages durchaus bewusst. Es hat, nach einer langen Phase, in der von Entgegenkommen gegenüber der Bewegung nichts zu spüren war und es dieser nur mit Schlägen und Schüssen auf ihre Forderungen antwortete, seit langem und überraschend wieder Zugeständnisse gemacht. Heute wurde Maikel Nabil Sanad freigelassen. Armeechef Tantawi hat in einer Ansprache angekündigt, ab morgen soll der Ausnahmezustand aufgehoben sein, der seit 30 Jahren gilt, eine alte und weiterhin unerfüllte Forderung. In der allgemeinen Überraschung ging fast unter, das er in Fällen von Thuggery („Verbrechertum“) weiterhin gelten soll – thuggery ist ein dermaßen weit gefasstes Feld, dass diese Definition die Anwendung willkürlicher Verhaftungen, Folter und Verurteilungen nicht verhindern wird, der Vorwurf der thuggery wurde darüberhinaus während des vergangenen Jahres klassischerweise gegen Protestierende oder mögliche Protestierende, das heißt zumeist jungen Männern aus einfachen Verhältnissen, angewandt.

Es regnet in Kairo. Und es ist eine seltsam zurückhaltende Stimmung, wenige Stunden vor dem Beginn des Jubliläums, auf das die Bewegung seit Monaten mobilisiert. Im Internet werden Berichte verschickt darüber, was vor genau einem Jahr geschah, die Frage, was morgen geschehen wird, wird vermieden. von Euphorie ist wenig zu spüren, und wenn die bekannte Aktivistin Lobna auf Twitter schreibt: Butterflies in my stomach, bleibt offen, wie das zu verstehen ist. Hoffnung auf einen erneuten Aufstand? Angst vor eben einem solchen? Die blutigen Angriffe des Militärs, die verzweifelten, doch hoffnungslosen Kämpfe und vielen Opfer des November und Dezember lasten schwer auf der Bewegung. Die Furcht vor mehr Opfern, mehr Blut in den Straßen, spricht aus vielen Äußerungen, selbst Amnesty hat, wohl in berechtigter Sorge, wie das Militär auf die geplanten Proteste reagieren werde, ein Statement veröffentlicht, indem es die Militärs aufruft, friedliche Demonstrationen zu schützen. Das Staatsfernsehen interviewt den Vater eines der Martyrer der Revolution und bricht die Übertragung ab, als der kritisiert, das Militär sei sehr langsam bei der Aufarbeitung der Fälle.


In Nasr-City, heißt es, sind Aktivisten unterwegs und verteilen Flugblätter. Über 55 Gruppen rufen für morgen zu Demonstrationen auf, die an allein 12 Punkten in Kairo starten und auf dem Tahrir-Platz enden (die Routen können auf einer Karte gesehen werden, die Ahram-Online ins Netz gestellt hat), doch die Forderungen sind so diffus wie widersprüchlich; fast jede der aufrufenden Gruppen geht mit ganz eigenen Forderungen auf die Straße. Die Bewegung plant seit Monaten aufwendig, während des Zuges durch die Stadt mit Videos, Bildern und Plakaten auf die Menschenrechtsverletzungen des herrschenden Militärrates aufmerksam zu machen und gegen die Militärherrschaft zu protestieren. Viele der Demonstrationen finden unter den Namen derer Stadt, die in diesem Jahr im Kampf gegen die Militärherrschaft ihr Leben gelassen haben: „Mina Daniel“ heißt der Marsch aus Shubra in Gedenken an den jungen koptischen Aktivisten, den Soldaten am 9. Oktober in Maspiro erschossen und mit einem Panzerfahrzeug überrollt haben. Unter dem Namen „Sheik Emat Effat“ wollen Tausende von der berühmten Azhar-Moschee zum Tahrir marschieren, der bekannte Glaubensgelehrte und stete Unterstützer der Revolution war bei den Angriffen des Militärs auf den Protest vor dem Kabinettsgebäude im Dezember aus nächster Nähe von einem Soldaten erschossen worden.


Die Muslimbrüder haben ihre Anhänger zu Geduld aufgerufen und sich von den Aufrufen distanziert, auch sie werden, wie andere religiöse Gruppen und weitere Parteien, demonstrieren, doch nicht gegen den Militärrat – eher in Feier der Revolution, die sie unverhofft ins Parlament und an die Seite der Machthaber gespült hat. Sie haben bereits eine (streng bewachte Bühne) auf dem Tahrir-Platz aufgebaut, von wo sie den alten Spruch „Armee und Volk – Hand in Hand“ wiederholen, zum Ärger Tausender militärkritischer Demonstrierender, die sich trotz des Regens ebenfalls bereits auf dem Tahrir-Platz versammelt haben. Die Salafitische Front hat angekündigt, ebenfalls auf dem Tahrir präsent zu sein – um Angriffe auf Gebäude oder Einrichtungen und Zusammenstöße zwischen Bewegung und Militär zu verhindern. Sie demonstrieren gleichzeitig, die Ausarbeitung der neuen Verfassung auf die Zeit nach der Präsidentschaftswahl zu verschieben – im Gegensatz zu anderen salafitischen Gruppen, die, da sie jetzt stark im Parlament vertreten sind, eine sofortige Machtübergabe des Militärs an eben dieses und zivilie Regierung fordern. Mohammed El-Baradei, liberaler Präsidentschaftskandidat, der seine Kandidatur wegen der andauernden Herrschaft des Militärs kürzlich zurückgezogen hat, wird mit zahlreichen anderen namhaften Politikern an der Demonstration aus Gizah teilnehmen.

 

gepostet von recherchegruppe aufstand

 

http://uprising.blogsport.de/

Zeige Kommentare: ausgeklappt | moderiert

»Veränderungen sind in Ägypten ausgeblieben«


Vor einem Jahr begann in Kairo der Aufstand gegen das Regime von Hosni Mubarak. Ein Gespräch mit Mouin Rabbani
Interview: Raoul Rigault

Mouin Rabbani lebt in der jordanischen Hauptstadt Amman. Er ist Redakteur des Middle East Report und Mitarbeiter der linken arabischen Online­zeitschrift Jadaliyya (­Dialektik)

Der morgige Mittwoch ist der erste Jahrestag des Beginns des Aufstandes gegen das Mubarak-Regime in Ägypten. Welche vorläufige Bilanz läßt sich ziehen – insbesondere nach der ersten freien Parlamentswahl?
Für Ägypten und die gesamte Region war das ein außerordentlich bedeutendes Jahr. Was wir erlebt haben, war zwar von jedem Gesichtspunkt aus dramatisch, aber die Veränderungen, die sich die Menschen – oder zumindest ein Teil von ihnen – in Ägypten erhofft hatten, sind bisher ausgeblieben. Die Streitkräfte haben die Erwartungen enttäuscht, die die Bevölkerung in sie gesetzt hatte, nachdem Hosni Mubarak am 11. Februar 2011 gestürzt wurde.

Die entscheidenden Fragen für die Zukunft des Landes lauten: Wird die Militärjunta den Zivilisten alle Macht überlassen, so wie sie es vor einem Jahr versprach? Und werden die Moslembrüder als Wahlsieger sein Programm abschwächen und eine neue Verfassung ausarbeiten, die die Rechte aller Bürger garantiert?

Womit rechnen Sie?
Die Signale deuten darauf hin, daß das Militär alles Erdenkliche tut, um wichtige Machtbefugnisse zu behalten. Um dieses Ziel zu erreichen, könnte es ihr faktisch bestehendes Bündnis mit der Moslembruderschaft noch enger gestalten. Die könnte dann freie Hand bekommen für die Durchsetzung rigider gesellschaftlicher Regeln und einer konservativen Verfassung.

Wird sich die Bruderschaft auf diese engere Zusammenarbeit einlassen?
Ich glaube nicht, daß sie vorhat, Zwang oder Gewalt anzuwenden. Sie hat bereits viel erreicht: Gerade mal ein Jahr nach ihrer Legalisierung hat sie schon die relative Mehrheit im Parlament errungen, sie kann also erst einmal zufrieden sein.

Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß eine weitere islamistische Kraft wider alle Erwartungen ein hervorragendes Wahlergebnis erzielt hat: Die Salafisten nämlich, die sehr viel radikaler als die Moslembruderschaft sind. Sie werden deren Führer vor sich her treiben und ihnen vorwerfen, nicht an der sofortigen Umwandlung Ägyptens in einen islamischen Staat zu arbeiten. Dieser Druck könnte die Bruderschaft zwingen, ihre Politik zu radikalisieren und sie zu Schritten veranlassen, an die sie heute noch gar nicht denkt.

Neben Armee und islamischen Bewegungen gibt es in Ägypten auch fortschrittliche Kräfte, wie etwa die weiterhin aktiven jungen Revolutionäre. Sind sie ein Gegengewicht?
Die Entschlossenheit der Jugendlichen – vor allem derjenigen, die mit der Linken verbunden sind – könnte ein Gegengewicht zu der Allianz von Militär und Islamisten sein. Die Jugend wird nicht auf die Veränderungen verzichten, die sie seit Jahren forder. Sie wird auch nicht zögern, ihren Forderungen mit erneuten Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz Nachdruck zu verleihen. Außerdem ist die Jugendorganisation der Moslembruderschaft zum Teil in die Kämpfe ihrer nichtreligiösen Altersgenossen eingebunden. Das wird die Entscheidungen der älteren Funktionäre mit Sicherheit beeinflussen. Ein weiterer Faktor sind zum Beispiel. die Arbeiter, die unbeirrt weiter für höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und so weiter kämpfen.

Welche Auswirkungen hat die Wirtschaftskrise auf die künftige Entwicklung Ägyptens?
Sie könnte dazu führen, daß die Karten neu verteilt werden. Weder die Parlamentsmehrheit noch die Militärjunta haben einen Plan, wie sie mit der Krise umgehen sollen. Und sie werden wohl kaum binnen weniger Monate wirkungsvolle Lösungen anbieten können. Die künftige Regierung läuft Gefahr, an den wirtschaftlichen Problemen zu scheitern.

Für Aufsehen sorgte vor wenigen Tagen der Verzicht des ehemaligen Leiters der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), Mohammed ElBaradei, auf eine Kanditatur bei den Präsidentschaftswahlen. Wie ist das zu bewerten?
Für ihn gab es keine andere Wahl. Er hat begriffen, daß das Verhalten der Streitkräfte und die erdrückende Mehrheit der islamistischen Parteien die Rolle des Staatschefs zweitrangig werden lassen. Er weiß auch, daß das Parlament nicht das Laboratorium des multikulturellen und pluralistischen Ägyptens sein wird, von dem viele träumen.

 

(Übersetzung aus Junge Welt, 24.01.12)