Splitter der Nacht

London ist überall

Die Londoner Riots und die gestörte Nachtruhe am Schanzenfest

"Hinsichtlich der geschichtlichen Funktion, gibt es einen Unterschied zwischen revolutionärer und reaktionärer Gewalt, zwischen der von Unterdrückten und der von Unterdrückern geübten Gewalt. Ethisch gesehen: Beide Formen der Gewalt sind unmenschlich und von Übel - aber seit wann wird Geschichte nach ethischen Maßstäben gemacht? Zu dem Zeitpunkt mit ihrer Anwendung beginnen, wo die Unterdrückten gegen die Unterdrücker aufbegehren, die Armen gegen die Verfügenden, heißt dem Interesse der tatsächlichen Gewalt dadurch dienen, daß man den Protest gegen sie schwächt."

(Herbert Marcuse)

 

Das obige Zitat soll uns Einleitung sein, um einige grundlegende Fragen, die sich um Gewalt und repressive Verhältnisse drehen, aufzugreifen. Wir, das ist ein autonomer Zusammenhang aus dem Umfeld der Roten Flora. Im Folgenden möchten wir einige Positionen zum Schanzenfest kritisieren, die These von einer vermeintliche Entpolitisierung der Gewalt als Teil des repressiven Arsenals der Sicherheitsgesellschaft zurückweisen und einen Bezug zu den Unruhen in England herstellen. Darauf folgt eine eigene Bewertung und subjektive Darstellung des Schanzenfestes und seiner Perspektiven.

 

Auf Indymedia wurden vor kurzem einige „Bemerkungen zum Schanzenfest“ veröffentlicht. Diesen wollen wir dabei eine eigene Sicht der Dinge entgegenstellen. Der Beschreibung von einigen Hamburger Autonomen (im Folgenden „einige Autonome“) ist einerseits irgendwie Enttäuschung anzumerken, dass es nicht stärker gekracht hat, andererseits verlieren sie sich in Nörgelei über diejenigen, welche auf der Straße waren. Wir haben dabei den Eindruck, dass ebenjene Fixierung auf den abendlichen Riot, welcher im Artikel bei Jugendlichen kritisiert wird, leider auch das eigene Blickfeld verstellt.
(Bemerkungen zum Schanzenfest: http://de.indymedia.org/2011/08/314362.shtml)

 

Der Text bereitet uns Unbehagen, weil seine Perspektive die der medialen und sicherheitspolitischen Diskussion reproduziert. Die Ereignisse am Abend werden auf Mackermilitanz reduziert und auf unsolidarische Weise ins Lächerliche gezogen. Der Ton ist von oben herab und wird damit weder den Menschen gerecht, die auf der Straße waren – beileibe übrigens nicht alles biologische Männer – noch dem, was sich dort gesellschaftlich abbildet. Damit wird ein differenzierter Blickwinkel unmöglich gemacht und in Folge der Konflikt insgesamt entsorgt. Eine eigene weitergehende gesellschaftliche Fragestellung bleibt auf diese Weise schon im Ansatz stecken.

 

Crowdsurfen


Die gefühlsmäßigen Vorbehalte der Gruppe gegenüber dem Geschehen werden schnell deutlich. Vereinzelte „Viva Palästina“ und „Free Öcalan“-Rufe, wurden zur Charakterisierung des Milieus und der Szenerie bemüht. Diese Momentaufnahme und unserer Wahrnehmung nach Randerscheinung sagt zwar nichts bis wenig über die Motivation der meisten Menschen und die Menge auf der Straße aus, scheint aber aus der eigenen politischen Perspektive hervorhebenswert. Nun können wir Vorbehalte gut verstehen, wenn auf dem Schanzenfest Palästina verteidigt werden soll, weil solche Symbolik dem unglückseeligen Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht gerecht wird, aber auch weil eine einseitige Parteinahme keine Perspektive für die Menschen dort ist. Was aber gegen Jugendliche einzuwenden ist, die offenbar mit der kurdischen PKK sympathisieren verstehen wir nicht.

 

Für uns sind Menschen aus der Türkei und Kurdistan, die sich in kommunistischen Organisationen zusammenfinden, bei aller notwendigen und richtigen Kritik an hierarchischen Organisationsstrukuren oder dogmatisch vertretenen Inhalten erstmal Genoss_innen. Wir finden gut, dass türkische und kurdische linke Gruppen mit zahlreichen Ständen auf dem Fest vertreten waren und beispielsweise über den 129a Prozess in Stuttgart informiert haben. Ein Schanzenfest, das visuell und vom Kontext, reiner Ausdruck einer deutschen linksradikalen Subkultur ist (sei es antideutsch, anarchistisch oder autonom), fänden wir in vielerlei Hinsicht einen Rückschritt in Theorie und Praxis. Dies betrifft sowohl Menschen aus anderen Ländern oder mit Migrationshintergrund, als auch sonstige Besucher_innen des Festes.

 

Gleichzeitig greift für uns auch ein tradierter politischer Ansatz, der „Unser Viertel“ gegen „Yuppies und Bullen“ als Feindbildfiguren verteidigen will, zu kurz, weil die Priviliegien, Hierarchien und Ausgrenzungsformen weitaus komplexer verlaufen als in diesen schlichten Bildern von oben und unten. Das wirklich Interessante und Progressive am Schanzenfest ist nicht autonome Selbstinszenierung, subkulturelle Abgrenzung oder ewiggestrige Klassenkampfromantik, sondern eine Multitude* im Sinne Hardt/Negris, welche sich hier temporär als verwobene Gemeinschaft mit dem kleinen Konsens zusammenfindet, ein unangemeldetes Fest zu feiern, an dessen Ende die Fäden und Interessen wieder auseinanderlaufen.

 

Wir sehen deren Empire-Theorie in vielen Dingen eher kritisch, aber interessant finden wir, dass sie eine Erklärung und ein politisches Verhältnis herstellen, wo andere lediglich einen unpolitischen Charakter beklagen, sei es des Festes, der Gewalt oder der Jugendunruhen in London. Obwohl das Konzept der Multitude teilweise auch die Privilegien und Herrschaftsverhältnisse zwischen ihren Akteur_innen verschleiert, so lässt es doch Raum für die Heterogenität und Uneindeutigkeit des Politischen. Der gegenteilige Ausschlag wäre die These vom „kommenden Aufstand“, welche dazu neigt, die „Gewalt von unten“ zu ästhetisieren und zu vereindeutigen, statt sie politisch als ein immer auch in sich gebrochenes Ereignis zu bestimmen.

 

Verelendungstheorie und Markenfetisch


Wir halten eine schlichte Analogie zu den Unruhen in England für falsch, wie sie durch die Medien geisterte und als Parole „London ist überall“ am Abend des Schanzenfestes an den verbarrikadierten Fensterfronten der Hamburger Sparkasse erschien. Gleichzeitig sind Militanz und Krawall kein Privileg für Unterdrückte in London oder markenbewusste Autonome. Sicher lässt sich, wie bei jedem Krawall, einiges an den Ereignissen nach dem Schanzenfest kritisieren. So etwas finden wir prinzipiell auch gut. Der Text „einiger Autonomer“ aber macht sich in seiner gesamten Haltung zum verbalen Wassereimer, um ein Feuer zu löschen, ohne über dessen Entstehung etwas zu sagen, das über die übliche mediale Verurteilung vermeintlich erlebnissorientierter Jugendlicher hinausgeht. Stattdessen wird in eher hämischer Art und Weise der Verlauf kommentiert und über Motivationen der Akteur_innen spekuliert. Eine Art, die wir sonst eher aus der Bildzeitung kennen. Da passt dann auch ins Format, dass letztlich gar die Bullen verbal in Schutz genommen werden: „Da konnte auch die Polizei nur schwer nein sagen“. Unter solidarischer, autonomer Diskussionskultur haben wir uns bisher eigentlich etwas anderes vorgestellt.

 

Statt den Angriff der Polizei politisch einzuordnen, wird das Ereignis selbst entpolitisiert. Dies fängt bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei an und hört mit dem Schanzenfest selbst auf. „Hat sich das Schanzenfest überlebt?“ wird suggestiv im letzten Satz gefragt, nicht ohne vorher noch einem möglichen „emanzipatorischen Anspruch“ einen „stumpfen Gewaltgestus“ entgegenzustellen. Das hätte so nicht nur das Hamburger Abendblatt schreiben können, sondern in dieser hingeworfenen Folgerung nach mehreren Absätzen Publikumsschelte liegt auch ein Grundproblem.

 

Es existiert weder eine Idee vom Fest als politische Veranstaltung, noch ein echtes Verhältnis. Entsprechend wird analog zu den Medienberichten keine größere Notiz von den Inhalten und dem Motto des Tages genommen. Dass es möglicherweise ein Politikum und Erfolg ist, wenn mehrere 10 000 Menschen ein unangemeldetes Fest feiern, das sich erklärtermaßen gegen steigende Mieten und repressive Gefahrengebiete richtet, kommt den Autor_innen ebenso wenig in den Sinn, wie eine wirkliche Analyse und Einschätzung des polizeilichen Handelns.

 

Blenden und Blickwinkel


Es mag ja sein, dass manche selbst keinen Anlass zum Krawall am Abend des Schanzenfestes sahen. Anderen ging es jedoch anders! Bereits Wochen vor dem Fest ist eine Diskussion über die Anzahl der Bullen und ein mögliches Gefahrengebiet losgetreten worden. Am Tag des Schanzenfestes selbst wurde die Hamburger Messe in ein riesiges Polizeilager verwandelt. Ab 18 Uhr zogen starke Polizeikräfte rund um das Fest auf. Eine Hundertschaft durchfuhr die zum Fest gehörige Schanzennstraße gegen 19 Uhr mit Blaulicht. Wir finden es völlig falsch, solchen Zuständen den Anstrich von Normalität zu geben.

 

Historisch betrachtet hat die Polizei unter Innensenator Olaf Scholz – ja der Olaf Scholz welcher nun Hamburger Bürgermeister ist – die Auseinandersetzungen nach dem Schanzenfest begonnen. Mit immer gewaltigeren Polizeiaufgeboten wurde das Fest überfallen, um einige damals noch vergleichsweise kleine Lagerfeuer zu löschen. Unter Schwarz/Schill eskalierten diese Einsätze völlig. Von den Organisator_innen des Festes wurde immer abgelehnt, sich zu distanzieren oder eine Spaltung in gute Anwohner_innen und böse auswärtige Jugendliche mitzumachen.

 

Wir finden dies richtig, denn die politische Verantwortung für die Auseinandersetzungen in der Nacht nach dem Fest tragen andere. Zum Beispiel die Hamburger Innenbehörde, die seit Jahren bei jedem Konflikt Öl ins Feuer gießende Polizeigewerkschaft, vor allem aber eine strukturelle Gewalt, die uns umgibt und zum Normalfall erklärt wird. Innensenator Ahlhausahab griff im letzten Jahr das laufende Fest bereits um 18 Uhr an. Dieser Angriff führte zu derart massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei, dass es zu einem Umdenkprozess in der Innenbehörde kam. Ein Verbot des Festes scheint erstmal vom Tisch, auch ein früher Angriff auf das Fest wird seither vermieden. In diesem Jahr gab es zudem den Versuch eines vergleichsweise umsichtigen Einsatzes, der möglichst wenig „Unbeteiligte“ trifft. Dies mag alles schön und gut und auch ein direkter Erfolg der Kämpfe der vergangenen Jahre sein. Es bedeutet aber nicht, dass es nicht auch in diesem Jahr polizeiliche Repression, willkürliche Angriffe auf Besucher_innen des Festes, Gewahrsamnahmen und Verletzte gegeben hätte.

 

Interessant finden wir dabei, dass Einiges, was auf der Straße gelaufen ist, von der Polizei erst nicht erwähnt wurde, offensichtlich um die Auseinandersetzungen unbedeutender und den polizeilichen Erfolg umfassender erscheinen zu lassen. Entsprechend wurde der Glasbruch bei einem Biomarkt in einem Neubau mit Eigentumswohnungen, in der Presse zuerst ebenso wenig erwähnt, wie vier beschädigte Polizeifahrzeuge und ein brennendes Auto. Ziel und Effekt sind offenkundig eine Relativierung der Ereignisse. Vor diesem Hintergrund bedient eine Haltung, die sich über die Auseinandersetzungen lustig macht oder diesen eine politische Motivation pauschal abspricht, unbewusst die polizeiliche Strategie des Abends.

 

Strukturen der Gewalt


Die gesamte Blickrichtung von „einige Autonome“ ist von außen. Mit dem Geschehen auf der Straße hat mensch selbst wenig zu tun. Statt eigener Bezugspunkte gibt es deshalb Manöverkritik von oben herab. Es wird bemängelt: „Auf die angekündigten „krassen Aktionen“ wartete mensch den ganzen Abend lang vergeblich“. Mit gutem Beispiel wurde offenbar lieber nicht vorangegangen. Dafür gibt es süffisante Bemerkungen aus den hinteren Reihen: „Es ist aber schon sehr verwirrend, dass sich Leute immer noch mit Rammböcken und Bengalos an den Rolländen und dem Panzerglas der HASPA Fronttür abarbeiten“. Dass mit einem Rammbock mal das nicht gerade dünne Panzerglas der Deutschen Bank geknackt wurde, sei mal dahingestellt. Der Flaschenwurf auf eine Bank mag eine hilflose Geste sein, aber es ist eine der Wut und des Zorns, die als solche auch ernstgenommen und nicht aus Zuschauerperspektive belächelt werden sollte.

 

Für uns übrigens eine die Situation abcheckernde Geste, die auf eine eigene Straßenkampferfahrung als exklusives Wissen verweist und von der wir nicht wissen, ob sie strukturell im Verhältnis weniger patriarchal ist als das beklagte Verhalten. Das Patriarchat lässt sich eben eben nicht individuell per Erklärung abschütteln, sondern durchdringt uns alle auf die ein oder andere Weise. Wir erleben auch die meisten vermeintlich politisch korrekteren Riots, z.B. im Umfeld von antifaschistischen Aktionen oder anerkannten politischen Konflikten, oft nicht so viel weniger mackermillitant. Es gibt interessanterweise eine nicht gerade kleine Schnittmenge von Jugendlichen, über die am Schanzenfest gemeckert wird, wenn die Mülltonne vor der Haustür abfackelt, die gleichzeitig aber ins eigene Militanzverständnis vereinnahmt werden, wenn es anschließend beim Naziaufmarsch in Barmbek kracht.

 

Wir finden gut, wenn patriarchale Verhaltensweisen hinterfragt und insbesondere bei heterosexistischer Männersolidarität auch deutliche Grenzen gezogen werden. Wir finden aber falsch, wenn der Begriff der Mackermilitanz als Munition verwendet wird, um einer weiteren Diskussion über Verhältnisse zu entgehen, statt diese zu vertiefen.

 

Gewaltlosigkeit wird den Schwachen nicht nur gepredigt, sondern abgezwungen. Sie ist im Sinne einer repressiven Toleranz, die in ihren beschränkten Entscheidungsfreiheiten zum Erhalt des Systems beiträgt, nicht nur dem Kapitalistischen, sondern auch dem Patriarchalen mehr eine Notwendigkeit als eine Tugend und normalerweise gefährdet sie die Interessen der Herrschenden auch nicht. Die Kritik der Gewalt genau dort und in dem Moment anzusetzen, wo sich die Menschen erheben oder die Unzufriedenen artikulieren, heißt, den hegemonialen Gewaltverhältnissen der Sicherheitsgesellschaft dadurch dienen, dass man den Protest gegen sie schwächt.

 

Repressive Toleranz


Vor einigen Jahren hätte es einen Sturm der Entrüstung gegeben, wenn ein Straßenfest in einem von der Polizei umstellten Areal stattfinden müsste. Dass dies mittlerweile scheinbar selbst von „einige Autonome“ als akzeptabler Zustand empfunden wird, ist neben unbeholfenen Löschaktionen von einzelnen Festbesucher_innen vermutlich ein Erfolg der polizeilichen Angriffe der letzten Jahre. Die vermeintliche Toleranz und Freiheit der Entscheidung, ob wir die Pappkartonlagerfeuer selber löschen oder dies eine Hundertschaft für uns erledigt, ist lediglich eine andere Übersetzung des gleichen Unterdrückungsverhältnisses. Diesem sich vervielfältigenden repressiven Diskurses gilt es als Ganzes eine Absage zu erteilen. Dies ist auch ein Grund, weshalb wir es nicht unberechtigt finden, wenn völlig unterschiedliche Menschen mit ebenso unterschiedlicher Motivation ihrer konkreten oder unbestimmten Unzufriedenheit am Abend des Schanzenfestes Ausdruck verleihen. Den Wunsch von „einige Autonome“, in die Gesellschaft zu intervenieren und der Integration als Form des Stillstandes zu entgehen, teilen wir. Für uns gehören die Jugendlichen auf den Straßen allerdings zu dieser Gesellschaft dazu.

 

Wir halten einen politischen Begriff von Repression zu kurz greifend, der diese auf polizeiliche Gewalt reduziert. Staatliche und gesellschaftliche Unterdrückung findet heute in vielen Formen statt und es gibt ein ganzes Arsenal akzeptierter Mittel der Kontrolle. Vom Knüppel zum Pfefferspray, von der Kameraüberwachung zur Sozialarbeit, von Mitwirkungspflichten zur aktivierenden Teilhabe. Am Besten ist diese sicherheitspolitische Durchdringung zu verstehen, wenn nicht vom Polizeieinsatz selbst ausgegangen wird, sondern von dessen moralischer Rechtfertigung.

 

Gerade weil Anwohner_innen, Autonome oder andere Linke nicht direkt dem Senat unterstehen, wird unterstellt, dass sie auf der Basis moralischer Prinzipien handeln. Die Deutung von Jugendkrawallen als unpolitisch dient dabei – selbst wenn dies der Intention der Akteur_innen zuwiderläuft – als erster Akt, um die Bühne einer polizeilichen Intervention vorzubereiten. In dieser Funktion steht die Entpolitisierung der Gewalt für die Sicherheitsgesellschaft und ihrer autoritären Formierung an vorderster Front. Die moralische Intervention zeichnet den Ausnahmezustand des polizeilichen Gefahrengebietes als „Ausnahmezustand von unten“ vor.

 

Auch die Praxis auf der Straße besitzt Codes und die Form einer Sprache. Ein verurteilender Gewaltdiskurs zum Schanzenfest agiert auf derselben Ebene wie die Sozialarbeiter_innen und Soziolog_innen, die nach den Unruhen in England die Fernsehkanäle bevölkerten. Erst wurde den Krawallen ein unpolitischer Charakter und den Akteur_innen eine Sprachlosigkeit zugesprochen, um dann selbst die Stimme zu erheben und deren Handlungen je nach eigener politischer Ausrichtung zu deuten. Herbert Marcuse beschreibt ein solches Sprechen als repressive und systemstabilisierende Praxis. „Der Zugang zur Sprache wird denjenigen Wörtern und Ideen versperrt, die anderen Sinnes sind als der etablierte.“ Andere Wörter und Gedanken können zwar ausgedrückt werden werden, aber sie werden, so sie denn überhaupt Gehör finden, sofort bewertet und quasi-automatisch nach Maßstab einer etablierten Mehrheit verstanden und in herrschende Codes übersetzt. Diese Recodierung definiert die öffentliche Sprache und damit die Richtung, in welche der weitere Denkprozess sich bewegt. Damit endet der Prozess der Reflektion dort, wo er anfing: „In den gegebenen Bedingungen und Verhältnissen.“ (Quelle:http://www.infopartisan.net/archive/1967/2667108.html)

 

Die Frage ums Ganze


Riots entstehen nicht aus einem sozialen Vakuum, sondern dort, wo sich Menschen und damit die Verhältnisse und Widersprüche begegnen. Sie sagen vieles über die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und sich wandelnde Protestmilieus aus. Auch das Schanzenviertel, wie seine Krawalle haben sich im Rahmen der Gentrifizierung verändert. Mensch muss längst nicht alles gut finden, was passiert, um in der gestörten Nachtruhe auf dem Schulterblatt trotzdem einen emanzipatorischen Gehalt zu sehen.

 

Wir sagen den Jugendlichen nicht „Lasst die Steine liegen“, wir sagen ihnen nicht „Keine Gewalt“, wir sagen ihnen nicht „Habt keine Hoffnung auf ein anderes Leben“. Soziale Proteste sind kein Selbstgänger, sondern entwickeln sich aus gemeinsamen Erfahrungen, Gesprächen und Diskussionen auf der Straße und anderswo. Sie entwickeln sich aus der Topografie des Schanzenviertels, aus politischen Situationen, aus sozialen Fragen und Vernetzungen, in denen sich das Lokale und das Globale durchkreuzen.

 

Militanz war und ist ein Bestandtteil linker Geschichte. Die Frage um sinnvolle militante Protestformen wurde und wird immer wieder kriminalisiert. Wir halten dies für falsch! Wir finden gut, richtig und wichtig, dass Leute experimentelle Ideen, eine Praxis für solidarischen Protest entwickeln und dabei Kritik und Grenzen formulieren, wo es z.B. um Leib und Leben geht oder Häuser angezündet werden! Revolten und Krawalle sind dabei nie ein ungebrochenes Ereignis. Wir werden als politische Bewegung immer nur dabei sein unsere nächsten Fehler vorzubereiten. Wichtig ist deshalb eine solidarische Auseinandersetzung, die sich selbst zum Teil macht, herrschende Objektivierungen ablehnt und die Frage nach Gesellschaft und das Ganze in den Vordergrund rückt.

 

London calling: Die Sicherheitsgesellschaft im Aufruhr


Wir waren ebenso fasziniert und erschrocken von den Bildern brennender Straßenzüge in London, wie viele andere auch. Aber die Fragen, die wir uns stellen, sind offenbar völlig andere als die der Medien und etablierten Politik. Wir lehnen es ab, in der moralischen und verlogenen Weise einer Antidrogenkampagnen zu argumentieren, die über ihre Verzichtslyrik eine staatliche IIlegallisierung befördert und die Aufklärung über sinnvolle Verwendung und Gebrauch erschwert. Ebenso lehnen wir eine Diskussion über Gewalt ab, die so tut, als gäbe keine Alltäglichkeit der Gewalt und die gewalttätigen Verhältnisse nicht. Wer oder welche etwa den Widerstand gegen Polizeibeamte oder Plünderungen unterschiedslos auf eine Stufe mit dem anzünden von Wohnhäusern stellt und verurteilt, befördert eine Entgrenzung und Verrohung der Politik, die erst zu solch eruptiven Ereignissen führt.

 

Wenn Kinder und Jugendliche gegen die Stadt der Erwachsenen revoltieren, dann läuft unübersehbar etwas schief in der Gesellschaft. Die Antwort der Politik in England ist, die eigene Jugend zu dämonisieren und Jagd auf sie zu machen, mittels großflächiger LED-Wände mit Aufnahmen von Überwachungskameras. Diese Bilder wecken in uns Erinnerungen an düstere Zukunftsphantasien orwellscher Prägung. Die Jugendlichen werden zum Abschaum gemacht, zu einer Krankheit erklärt und als Feinde außerhalb der Gesellschaft positioniert, rigide Strafen werden mit dem Außerkraftsetzten sozialer Ansprüche und Rechte verbunden.

 

Was sagen die Bilder und Gesichter der Jugendlichen? Wie geht es ihnen und weshalb sind sie abgebildet? Was wird ihnen überhaupt konkret vorgeworfen? Die öffentliche Zurschaustellung von Verdächtigen entspringt einem autoritären Strafbedürfnis. Vorverurteilt und diskriminiert werden nicht Einzelne, sondern sondern eine Generation. „Der Olympische Fackellauf hat begonnen“, unterschrieb das Satieremagazin titanic das Bild eines brennenden Häuserblocks in London. Die 18jährige Olympiabotschafterin der Stadt ist derweil festgenommen worden mit dem Vorwurf, Steine auf Polizisten und ein Ladengeschäft geworfen zu haben. Sie soll gesagt haben „This is the best day ever.“ Die Unruhen waren kein Phänomen einiger weniger Jugendlicher, sie sprechen vielmehr für eine breite Masse von Unzufriedenen, die in den vorgegebenen Lebensläufen keine Perspektive sehen und spüren, dass hier etwas falsch läuft. Nicht allein wir und sie sind entfremdet, sondern die Gesellschaft.

 

Distanz und Nähe, Wut und Hoffnung


Sollten wir uns also von solchen Ereignissen distanzieren? Wir sagen Nein! Denn die Distanzierung besitzt eine beschwörende Richtung von unten nach oben, die dem Oben erst Legitimität verleiht. Eine Distanzierung wäre eine Appell an die Unschuld der politisch Verantwortlichen. Und Verantwortliche gibt es viele. Die Politiker_innen in den Parlamenten, die Lobbys und vor allem uns selbst, weil wir schon viel zu lange zulassen, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Weil wir viel zu oft die Klappe halten, wo wir profitieren, und vor allem dort empört sind, wo es uns betrifft. Das Recht auf Stadt, auf die Straße und den gesellschaftlichen Reichtum sind keine Privilegien für wenige, sondern stehen allen zu!

 

Solidarität darf nicht bedeuten, Verhältnisse aufrechtzuerhalten zugunsten derer, die etwas besitzen, sondern sie muss darauf zielen, den gesellschaftlichen Reichtum umzuverteilen. Und je weniger und länger dies nicht geschieht, desto mehr und öfter werden berechtigterweise die Waren aus eingeworfenen Ladenfronten geschleppt. Machen wir uns nichts vor. Dies wird auch immer begleitet sein von destruktiven Momenten.

 

Karl-Heinz Dellwo, der sich selbst eher kritisch gegenüber dem „kommenden Aufstand“ geäußert hat, hat dabei eine weit solidarischere Haltung aufgemacht, als andere Linksradikale, die dem Krawall einen Heiligenschein verpassen wollen: „Ich bin kein expliziter Freund dieser Riots, denn ich weiß, dass die, die ganz unten sind, lange brauchen, bis sie ihren wirklichen Feind kennen. Sie handeln in der Regel zuerst immer gegen falsche Feinde. Sie brauchen aber unsere Solidarität, weil sie sich zuerst vielleicht nur im Riot, in der Eruption bewegen und ausdrücken können – Bewusstsein, Identität entsteht in der Konfrontation. Sie haben ein Recht auf einen Lernprozess. Wenn ihnen in der Gesellschaft die Lern-Prozesse verweigert werden, mit denen sie eine selbstgesetzte politische Identität entwickeln können, dann müssen sie eben zugreifen und zuschlagen, wo sich eine Lücke bietet. Ich will sie verteidigen und solidarisch sein. Aber ich kann sie nicht abfeiern. Sie sind genauso Ausdruck der Zerstörung durch das System wie ebenso des noch unbegriffenen Wegs, um daraus zu entkommen. Nicht nur die äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse stehen ihnen – und uns – im Weg, sondern auch die Verinnerlichung dieser Verhältnisse in uns. Es gibt keine radikale Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ohne die Kritik an uns selbst.“


(Quelle: http://www.bellastoria.de/publications/veranstaltung/der-kommende-aufsta...)

London ist nicht nur eine Stadt in England und auch kein isoliertes Ereignis. Zeitgleich haben in Chile Schüler_innen und Student_innen gegen Studiengebühren revoltiert und in China gab es Krawalle gegen eine kapitalistische Entwicklung der Städte, die an den Interessen der Menschen vorbeigeht. Überall in der Welt bewegen sich derzeit die Menschen, gibt es Krawalle und Aufstände. Wir erleben eine Zäsur und gewaltige Umbrüche. Das Schanzenfest mag da nur eine sehr bescheidene Veranstaltung sein, doch es geht um etwas Ähnliches. Leben wir weiter in einer Welt der Ausgrenzung, Krisen, Kriege und der eruptiven Gewalt – oder beginnen wir, im globalen Maßstab eine solidarische Gesellschaft im Lokalen zu entwickeln?

 

Wer will, das sich Bilder mit brennenden Straßenzügen wie in London nicht entwickeln, darf keinen Deckel des Schweigens über die Gewalt, die uns umgibt legen, sondern muss solidarisch darüber diskutieren: Wie wenden wir die Destruktivität dieser Gewalt in positive Formen zur Herstellung von Verhältnissen, die frei von Gewalt sind. Auf der Straße, bei Protesten, Auseinandersetzungen und Demonstrationen, in Stadtteilversammlungen, besetzten Häusern oder wo immer sich die Menschen aufhalten und bewegen. Das Schanzenfest ist ein Beispiel für ein solches Bemühen und wir kennen wenige Veranstaltungen von ähnlicher gesellschaftlicher Breite.

 

Koalitionen der (Un)Zufriedenheit


Seit seiner Entstehung wird das Schanzenfest aus wechselnden Perspektiven kritisiert. Mal gilt es als zu kommerziell, mal als zu wenig szenig, dann wieder als Bauchnabelpolitik oder Viertelromatik. Einige bedauern, dass es nicht genügend organisierte Riots gibt, andere finden überhaupt blöde, wenn ein Pappkarton brennt. Unabhängig von solchen pauschalen Bezugnahmen, an denen aus der ein oder anderen Perspektive immer auch etwas Richtiges ist, muss mensch feststellen, dass es dem Fest immer wieder gelungen ist, einerseits seine politische Sperrigkeit und einen weitgehend unkommerziellen Charakter zu behalten, andererseits eine Veranstaltung über linksradikale Spektren hinaus zu sein, die für einen Tag die Hegemonie durchbricht und eigene Gesetzmäßigkeiten herstellt.

Das Fest ist dabei keine heile Welt und einem ständigen Wandel unterworfen. Natürlich begegnen wir dort zwangsläufig allen Widersprüchen, die uns auch woanders begegnen. Aber wir finden gut, dass diese auf die Straße getragen und sichtbar werden. Der Krawall, welcher nicht vom Fest gesucht, aber von der Polizei geliefert wurde und nun wohl dazugehört, ist dabei kein Teil „regressiver Tendenzen innerhalb der Linken“, sondern ein sperriges Moment, dass die völlige Einbindung des Festes als Standortfaktor in die Marke Hamburg durchaus erschwert.


Apropos Marke Hamburg: wir Teilen das Anliegen, den Vereinnahmungen durch die Kreative Stadt etwas entgegenzusetzen. Dies kann allerdings nicht bedeuten, bei den ersten Anzeichen die Flucht zu ergreifen und das Glück auf einem anderen Terrain politischer Betätigung zu suchen. Vielmehr gilt es, die Widersprüche zu thematisieren, sich innerhalb ihrer als Störfaktor aufzustellen und die Dinge in Bewegung zu halten.

 

Während das Fest allgemein anerkannt ist und ständigen Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt ist, bildet sich immer öfter eine Koalition der Zufriedenen, die meint, den Unzufriedenen die Zugehörigkeit absprechen zu können. In der Figur auswärtiger oder jugendlicher Randalierer vs. feiernder Anwohner_innen und Florist_innen bilden sich jedoch nicht die Ereignisse auf der Straße, sondern vor allem sicherheitsgesellschaftliche Denk- und Herrschaftsmuster ab. Die das Schanzenfest organisierenden Gruppen sind daher notwendig konsequent, wenn eine solche Spaltung und die Übernahme einer eigenen repressiven Rolle im Arsenal der inneren Sicherheit abgelehnt wird.

 

Perspektiven des Schanzenfestes


Der Schlüssel der weiteren politischen Entwicklung des Festes liegt unserer Meinung nach nicht in einer Planung entlang der Frage von nächtlichen Krawallen oder einem höheren Militanzniveau. Dass es einen recht offensichtlichen Zusammenhang zwischen polizeilichem Einschreiten und der Intensität von Auseinandersetzungen gibt, haben die letzten Jahre gezeigt. Je agressiver und früher der abendliche Angriff der Polizei, desto heftiger und entschlossener die anschließenden Riots. Die eher lauen Sommerabendkrawalle in diesem Jahr waren grade gut genug fürs Fernsehen. Alle anderen haben es mehr oder weniger entspannt verfolgt. Weshalb sich nun gerade skandalisierend auf diesen Punkt bezogen „wichtige Fragen aufwerfen“ sollen, können wir nicht nachvollziehen.

 

Es ist ein politischer Erfolg, dass der unangemeldete und selbstorganisierte Charakter des Schanzenfestes trotz verschiedener Angriffe und angedrohter Verbote in den letzten Jahren immer wieder verteidigt werden konnte. In diesem Jahr haben sich ca. 400 Stände und vermutlich mehrere 10 000 Menschen beteiligt. Die Straße war neben einigen kommerziellen Ständen, die als Begleiterscheinung wohl kaum zu vermeiden sind, vor allem geprägt von einem Anwohner_innenflohmarkt und politischen Ständen. Der Praxis der polizeilichen Überfälle konnte begegnet werden und das defensivere, wenngleich immer noch eskalierende, Polizeikonzept vom Wochenende ist eine Folge hiervon. Selbst die Einrichtung eines Gefahrengebietes wurde im Gegensatz zu den letzten Malen zu einem eher symbolischen Akt. Tatsächlich sind wir mit der Veranstaltung und ihrem Verlauf ganz zufrieden und können auch deshalb die Unzufriedenheit „einiger Autonomer“ nicht nachvollziehen.

 

Es geht vor diesem Hintergrund nicht darum, als Veranstaltung größer oder erfolgreicher zu werden, sondern darum, dass mehr Menschen aus der radikalen Linken den Tag des Festes als Aufklärungs-, Mobilisierungs- und Interventionsort begreifen und nutzen. Denn vor allem am Tage entscheidet sich, wie politisch und wie wirkungsvoll das Fest als politischer Ort in den nächsten Jahren sein wird. Dazu bedarf es allerdings, den Standort einer beobachtenden Passivität zu verlassen. Der erwartungsvolle Blick in die Nacht, wie das Kaninchen auf die Schlange, verstellt eher die sich bietenden Möglichkeiten für Aktionen und Interventionsformen. Hausbesetzungen, Umzüge oder Markierungen von Leerstand sind einige Beispiele.


Darüber lohnt dann auch eine Diskussion, beispielsweise auf der nächsten Autonomen Vollversammlung am 15.9. in der Roten Flora. Die Empörung über einige brennende Pappkartons und fliegende Flaschen auf Wasserwerfer, Mitleid mit der Haspa Filiale im Schulterblatt oder die aus Distanz formulierte Trauer, dass zu wenig Marke bei Adidas, Carhart und Apple geplündert worden sei, können wir hingegen nicht teilen.

 

„titanic blubb II “, ein Zusammenhang aus dem Umfeld der Roten Flora


( * Die Multitude ist ein Netzwerk, ein offenes Beziehungsgeflecht, das nicht homogen oder mit sich identisch ist. Es handelt sich um eine Vielheit von Singularitäten, die gemeinsam handeln. Die Multitude ist in diesem Sinne zu unterscheiden vom „Volk“ oder der Arbeiter_innenklasse, denen jeweils ein einheitlicher Willen unterstellt wird, und von der formlosen, formbaren Masse. Sie ist kein „neues revolutionäres Subjekt“, das der Herrschaft des „Empire“, der neuen globalisierten Weltordnung entgegensteht. Zugleich ist sie im marxschen Sinne gespensterhaft: das Empire kann nicht ohne sie, bringt sie hervor, wie es von ihr hervorgebracht wird – und zugleich besitzt sie das Potenzial, in ihrem kooperativen Vermögen über die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse hinauszugehen.)

 

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von Indymedia

Einige Revisionen zu den Bemerkungen
einige hamburger autonome 25.08.2011 04:31
Reaktion auf "Splitter in der Nacht"
Hallo „titanic blubb II“!

Wir sind erstmal erfreut darüber das ihr Brieffreunde mit uns werden wollt. Auch ansonsten fanden wir eure Antwort ( http://de.indymedia.org/2011/08/314614.shtml) äußerst positiv, da sie auch eine willkommene Grundlage für Selbstkritik bietet, und in letzter Konsequenz aufzeigt das doch nicht alles so schlimm war wie wir zuerst dachten.

Worauf es uns ankam wollen wir nichtmal als Militanzdebatte bezeichnen, aber es geht in eine ähnliche Richtung. Der schroffe Ton des Textes war durchaus bewusst gewählt, auch wenn seine Rezeption uns selbst erschüttert. Wir wollten unserem Unmut über die gefühlte Zwangshaftigkeit der Krawalle kundtun. Im Gegensatz zu dem Unterton eures Textes nahmen wir diese nämlich nicht als spontane Entladung der „Unzufriedenen“ war, sondern als inspirationslos vollzogene Traditionsriten.
Entgegen der Annahme einiger Kommentare werden wir weder vom VS, noch von irgend einem anderen Staatsorgan bezahlt. Den Vorwurf unser Schreibwerk habe „denunziatorischen“ Charakter müssen wir uns aber wohl oder übel gefallen lassen, obwohl dies, wie gesagt, nicht unsere Absicht war. Mitnichten wollten wir „die Bullen verbal in Schutz [nehmen]“. Ebensowenig ging es uns darum den Krawallen einen politischen Charakter abzusprechen, sondern vielmehr darum, zu einem reflektierteren Vorgehen im nächsten Jahr anzuregen. Wir entschuldigen uns ausdrücklich dafür repressionslegitimierende Diskurse bedient zu haben und distanzieren uns von den gewählten Formulierungen.

Es ist richtig, dass ihr unsere „Fixierung auf den abendlichen Riot“ kritisiert. Deswegen wollen wir kurz eine Bewertung des diesjährigen Schanzenfestes vornehmen, und im nachhinein unsere eigene Fragestellung kritisieren.
Das Fest war gut besucht, und hatte einen wahrnembaren politischen Charakter. Auch wir „finden gut, dass türkische und kurdische linke Gruppen mit zahlreichen Ständen auf dem Fest vertreten waren und beispielsweise über den 129a Prozess in Stuttgart informiert haben“, bei aller Kritik an der PKK. Positiv fanden wir auch das sich sowohl „Antideutsche“ als auch „Antiimperialistische“ Genoss_innen die Straße und das Fest teilten.. Ebenso freute uns die starke Thematisierung des Gefahrengebiets im vorraus des Festes und auf dem Fest selber, die sicherlich auch Einfluss auf die polizeiliche Zurückhaltung hatte.
Natürlich ist es immernoch eine starke Zumutung und eindeutige Ansage an das Fest und dessen Organisator_innen und Besucher_innen, dass überhaupt ein polizeiliches Großaufgebot samt Gefahrengebiet bereitsteht. Ob die eher deeskalative Polizeistrategie dieses Jahr auf die Politisierung im Vorfeld, die letzten Schanzenfeste, oder einfach nur den Wunsch der SPD sich von der Vorgängerpolitik abzugrenzen, zurückzuführen ist, können wir nicht mit Sicherheit sagen, vermutlich ist es eine Verkettung aus allem.
Es wäre vor dem historischen Hintergrund des Schanzenfestes falsch die Krawalle als grundlos zu bezeichnen. Wie ihr richtig bemerkt habt drück sich darin eine Unzufriedenheit, und auch eine Reaktion aus. Denn was mittlerweile als Tradition daher kommt, war jahrelang eine Reaktion auf Bullenschikanen während und im Vorfeld des Festes, also keine aus dem nichts kommende Gewalt, sondern Gegengewalt wider dem Staatlichen Repressionsapparat und dem gewalttätigen gesellschaftlichen Normalzustand. Das finden wir gut. Wie wir bereits in unserem ersten Text erwähnten, ist ja auch gegen ein bisschen Krawall in der Schanze überhaupt nichts einzuwenden, und dass Schanzenfest fungiert nunmal auch als Kristallationspunkt und Umwelt für ebendiesen. Dass sich daran auch nicht-organisierte Leute beteiligen ist durchaus positiv, obwohl es unserer Meinung nacht sinnvollere Ansätze für Massenaktionen gibt als Angriffe auf die HASPA. Unsere Darstellung der Randale als reiner Versuch die Bullen heraufzubeschwören um sich mit ebendiesen zu messen stellt sich als einseitig heraus. Wir fänden es aber genau so einseitig zu behaupten, dass der Konflikt mit der Polizei nicht von zumindest einigen der dort agierenden bewusst gesucht wurde. Wir halten auch daran fest, dass sich in der Suche dieses Konfliktes Mackertum ausdrückt (und wir wundern uns warum ihr anscheinend meint selbiges könne nur von „biologischen Männern“ ausgehen). Allerdings ist die Konfrotation mit dem Gewaltmonopol des Staates, welches sich in Bullen manifestiert, per Definition eine politische.
Was darüber hinaus beachtlich war und als politischer Erfolg zu werten ist, ist das allgemeine Dableiben, zu dem ja auch im Vorfeld aufgerufen wurde. Menschenleere Straßen wie beim 1.Mai gab es diesmal nicht, und selbst als das Gefahrengebiet schon begonnen hatte wurde noch getanzt und gefeiert.

Statt uns an Stück für Stück an eurem Text abzuarbeiten, wollen wir vor diesem Hintergrund nocheinmal die Abschließenden Bewertungen des unseren betrachten, auch wenn wir damit dem Umfang eurer Kritik nicht gerecht werden.

„Denn das Ziel bei den „Krawallen“ war ja nicht so sehr (falls überhaupt) Aneignung oder politischer Ausdruck, sondern vielmehr Mackertum, Rumgepose und Militanzfetisch.
Darin offenbart sich aber keine Unverträglichkeit mit den bestehenden Verhältnissen, sondern vielmehr deren Reproduktion auf der Straße. In Mackertum und sinnloser Militanz (falls hierbei überhaupt von Militanz gesprochen werden kann!) lässt sich beim besten Willen nichts Emanzipatorisches feststellen. Sie sind vielmehr regressive Tendenzen innerhalb der Linken.“

Wir müssen uns hierbei selbst widersprechen und rechtgeben, und damit eingestehen, dass wir uns zum Schwarz-Weiß Denken in den Kategorien „gute Militanz / Mackermilitanz“ verleiten haben lassen. Obwohl wir daran festhalten, dass sich in den abendlichen Aktionen Mackertum und Militanzfetisch finden lässt, hatten sie dennoch auch politischen Charakter, was sich nicht zuletzt darin zeigt was sie gerade nicht waren: Sinnlose Gewalt. Denn so sehr wir Angriffe auf die HASPA traditionsverhaftet und inspirationslos finden, sie ist ebendarum kein sinnloses Ziel, sondern eines mit symbolischem Gehalt (ob oder nicht der Hass auf Banken antisemitische Ressentiments vom „raffenden Finanzkapital“ bedient sei mal dahingestellt). Es lässt sich also, entgegen unserer Einschätzung, ein emanzipatorisches, oder zumindest widerständiges, Moment darin finden.

„Sie werfen demnach eine wichtige Frage auf, die zu diskutieren sein wird: Wie kann das Schanzefest seinen emanzipatorischen Anspruch bewahren, in die Gesellschaft intervenieren und der Integration in die „Kreative Stadt“ entgehen ohne sich im stumpfen Gewaltgestus zu verlieren?
Hat sich das Schanzenfest überlebt?“

Hier wurde uns zurecht angekreidet den Tag und das Vorfeld des Schanzenfestes ausgeblendet zu haben, weswegen auch die Fragen ihre Substanz verlieren. Es scheint vielmehr als hätte unsere Kritik sich selbst überlebt.

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ps: Im Bezug auf „Empire“ und die „Multitude“ können wir allerdings die Lektüre von Kettners Kritik an diesen Konzepten nur wärmstens empfehlen:  http://www.ca-ira.net/isf/beitraege/kettner-empire.html

pps: Wir wolle auch ausdrücklich nochmal auf diesen Auszug aus den Kommentaren zu unserem ersten Text hinweisen:

„Aber dann doch nochmal was positives, was nur leider zu spät, zumindest mir als (eine) Möglichkeit aufgefallen war:
spät abends wurden mitten auf dem Schulterblatt 2 Zelte aufgebaut. Ein Bild, das viele Assoziationen schaffen kann. Nächstes Mal vielleicht 2000 Zelte - als Ausdruck von "Protestcamp", ...die Leute schon im Zelt auf der Straße wegen unbezahlbarer Mieten...
Wir hätten jedenfalls sofort mitgemacht und ein altes Zelt aus dem Keller geholt und aufgebaut, dann ringsrum alles mit Transparenten vollgehängt...naja...und dann mal die Bühne ggf. über Nacht und am darauf folgenden Sonntag stehen lassen und über den Sonntag eine echte Stadtteilversammlung mit Camp, Diskussionen, lockerer Musik usw. ansetzen...“