Auffällige Geburtenrate im Umfeld des Zwischenlagers - "Signifikant" weniger weibliche Kinder in Gorleben

Erstveröffentlicht: 
23.02.2011

Im Umfeld des Atomzwischenlagers in Gorleben im Landkreis Lüchow-Dannenberg werden deutlich weniger Mädchen geboren als früher: Seit Inbetriebnahme des Lagers 1996 kamen nach einer Untersuchung von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums München "signifikant" weniger weibliche Kinder zur Welt.

"Das Verhältnis der Geschlechter bei der Geburt ist naturgegeben: Die Jungen überwiegen ein wenig. Im Landkreis Lüchow-Dannenberg lag es bis 1995 bei 102 Jungen bei 100 Mädchen, im Bundesdurchschnitt etwas höher. Seit 1996 steigt diese Verhältnis kontinuierlich an.", sagte Ralf Kusmierz, einer der Autoren der Studie, gegenüber NDR 1 Niedersachsen. "Es ist eine bedenkliche Angelegenheit, weil wir ein erhöhtes Verhältnis in der Umgebung von Kernkraftwerken festgestellt haben. Das hängt mit großer Wahrscheinlichkeit mit radioaktiven Emissionen zusammen."

 

Lässt Radioaktivität weibliche Embryonen absterben?

So habe sich das Verhältnis nach der Tschernobyl-Katastrophe auch sprunghaft erhöht - proportional zu der radioaktiven Belastung: Wenn man dichter an der Ukraine dran ist, dann ist der Anstieg größer als weiter weg", sagte Kusmierz weiter. Von daher ist es höchstwahrscheinlich so, dass radioaktive Emissionen mehr weibliche Embryonen absterben lassen und bei den Lebendgeborenen mehr Jungen übrig bleiben. "Es gibt dann also nicht mehr Jungen, sondern weniger Mädchen."

 

Wissenschaftler glaubt nicht an Zufall

Laut Kusmierz liegt die Irrtumswahrscheinlichkeit unter fünf Prozent. Bereits im vergangenen Jahr hatt er festgestellt, dass in der Gemeinde Remlingen rund um das marode Atommülllager Asse der Jungenanteil unter den Geborenen ebenfalls extrem überhöht sei. Da in der Asse radioaktive Emissionen wie Gase bekannt seien, sei hier die Ursache erkennbar, sagte Kusmierz. In Gorleben seinen ihm die Ursachen jedoch nicht klar: "Ja, das ist rätselhaft. Ich habe beim Umweltministerium in Hannover angefragt und die Antwort erhalten. Es gibt keine Emissionen aus diesen Behältern. Das heißt eigentlich kennen wir keine Ursache dafür." Er forderte die Politik auf, das Phänomen weiter zu untersuchen.

 

Opposition fordert Aufklärung

"Die Zahlen sind äußerst besorgniserregend", sagte der umweltpolitische Sprecher der Linksfraktion, Kurt Herzog. Die schwarz-gelbe Landesregierung müsse daher schnell handeln: "Ich erwarte, dass jetzt sofort das kleinräumige Monitoring in Angriff genommen wird, das Sozialministerin Aygül Özkan (CDU) aus Anlass der Krebsfälle in der Asse angekündigt hatte".

Vor Kurzem war bekannt geworden, dass in der Umgebung der Asse doppelt so viele Leukämie- und dreimal so viele Schilddrüsenkrebsfälle wie im statistischen Durchschnitt aufgetreten waren. Eine Arbeitsgruppe versucht seither, der erhöhten Krebsrate auf den Grund zu gehen.

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Die Meldung zu Gorleben stiftet Verwirrung: Die Zahlen 120 Jungen und 111 Mädchen sagen nichts aus, sie sind auch nur wegen einer arg verkürzt darstellenden DPA-Meldung in der Welt. Was also steht in der Original-Studie?

Enttäuschung: Die gibt es gar nicht, sondern nur eine Mitteilung über Auffälligkeiten in der Gorleben-Region, also dem niedersächsischen Wendland, die sich auf die amtlichen Geburtenzahlen nach Gemeinden, die man seit 1971 beim LSKN herunterladen kann, stützen. Also kein reviewtes Paper, sondern nur Zahlen, die aber jedermann selbst leicht überprüfen kann.

Verglichen werden für verschiedene Entfernungsbereiche vom Transportbehälterlagerstandort die Geburtenzahlen bis 1995 und nach 1995. (Den wesentlichen Teil des Beitrags stelle ich hier: http://www.cshare.de/file/f4b29d009f35c76bb97cfe635ce10ba2/Geburten_Gorl... richtig formatiert zum Download bereit (steht nur vier Wochen zur Verfügung).)

Es wurde ein Untersuchungsgebiet gem. folgender Kartendarstellung http://img26.imageshack.us/img26/3259/umgebunggorleben.png  definiert und in drei Entfernungszonen eingeteilt:

Zone A (Innere Zone - rot)
Gemeinden: Gorleben, Höhbeck und Trebel

Zone B (Mittlere Zone - orange)
Gemeinden: Damnatz, Gartow, Gusborn, Langendorf, Lemgow, Lübbow, Lüchow, Prezelle, Schnackenburg und Woltersdorf

Zone C (Äußere Zone - blau)
Gemeinden: Bergen, Clenze, Dannenberg, Göhrde, Hitzacker, Jameln, Karwitz, Küsten, Luckau, Nahrendorf, Neu Darchau, Rosche, Schnega, Stoetze, Suhlendorf, Tosterglope, Waddeweitz, Wustrow und Zernien

(Die gemeindefreien Gebiete Göhrde und Gartow wurden grau eingefärbt. Amt Neuhaus ist erst seit 1993 bei Niedersachsen und wurde deswegen nicht berücksichtigt.)

In den drei Zonen wurden folgende Zahlen Lebendgeborener registriert:

_______________________1971-1995
_______________________________95-%-Konfidenz-
_______________m____w____m/w__intervall_von_m/w
_____Zone_A:__266__294_0,9048___0,7636_1,0716
_____Zone_B:_2190_2138_1,0243___0,9646_1,0877
_____Zone_C:_4501_4411_1,0204___0,9787_1,0639
Zonen_A+B+C:_6957_6843_1,0167___0,9832_1,0513

_______________________1996-2009
_______________________________95-%-Konfidenz-
_______________m____w____m/w__intervall_von_m/w
_____Zone_A:__120__111_1,0811___0,8281_1,4123
_____Zone_B:_1091__967_1,1282___1,0337_1,2315
_____Zone_C:_2260_2104_1,0741___1,0118_1,1404
Zonen_A+B+C:_3471_3182_1,0908___1,0393_1,1449

Daraus ergeben sich folgende Geschlechtschancenverhältnisse der Geburten im Vergleich nach 1995 und bis 1995:

_____Zone_A:_1,1949;_p-Wert=0,2554
_____Zone_B:_1,1014;_p-Wert=0,0716
_____Zone_C:_1,0527;_p-Wert=0,1650
----------------------------------
__Zonen_A+B:_1,1124;_p-Wert=0,0357
Zonen_A+B+C:_1,0729;_p-Wert=0,0184

Alle drei Zonen weisen damit entgegen dem allgemeinen fallenden Trend einen Anstieg der Sexodds nach 1995 auf, der mit zunehmendem Abstand vom Transportbehälterlager abnimmt. Die Anstiege in den einzelnen Zonen sind wegen der geringen Fallzahlen nicht signifikant (p-Werte 0,2554; 0,0716 und 0,1650 - die Zone B ist dabei borderline-signifikant).

Wohl aber ist der Anstieg von 11,24 % in den Zonen A und B zusammengenommen auf dem 95-%-Niveau signifikant mit einem p-Wert von 0,0357, und alle drei Zonen A, B und C zusammen weisen einen sehr signifikanten Anstieg von 7,29 % bei einem p-Wert von 0,0184 aus.

Im Ergebnis kann man als gesichert betrachten, daß seit der Inbetriebnahme des Transportbehälterlagers in Gorleben in der Region signifikant weniger Mädchen geboren werden als zuvor, und zwar umso mehr, je näher sich die Wohnung der Mutter am Lagerbehälterhaus befindet.

Man kann - das hat Dr. Scherb vom HMGU gemacht (unveröffentlicht) - an die jährlichen Geburtenzahlen der Gemeinden in der Region in einer Entfernung bis zu 35 km vom TBL mit einem Changepointmodell eine Rampenfunktion anfitten, also einen linearen Verlauf bis zu einem Changepoint, und von diesem an einen neuen linearen Verlauf. Wenn man als Changepoint den Zeitpunkt 1995/96 nimmt, dann erhält man zunächt bis dahin einen dem allgemeinen Trend entsprechenden Abfall der Sexodds von ca. 1,05 im Jahr 1971 auf ca. 0,995 1995/96, und von da an steigen die Sexodds bis 2009 dann auf ca. 1,19 an. Dieses Modell hat einen p-Wert von 0,0188 - das ist sehr signifikant, der Anstieg ist ganz drastisch.

Problem dabei: Aus den Behältern tritt aber gar keine Radioaktivität aus. Zumindest gibt es keine plausiblen Hinweise darauf. (Und das ist auch der Grund, warum diese Informationen von uns nicht als Studie oder Factsheet veröffentlicht werden, sondern nur als Mitteilung weitergegeben - in die Öffentlichkeit kam sie über die Empfänger.)

Diese Feststellung über "fehlende" Emissionen habe ich auch nicht verheimlicht, sondern sowohl der DPA als auch dem NDR mitgeteilt, der das auch in dem Interview wiedergegeben hat.

Es wäre natürlich sinnvoll, auch noch die Zahlen aus den Nachbargemeinden in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt anzusehen - leider liegen die mir (noch) nicht vor.

Weitere Informationen siehe http://www.helmholtz-muenchen.de/ibb/homepage/hagen.scherb/proceedings.html


Mit freundlichen Grüßen
Ralf Kusmierz