Interview: Wenn Rojava nur von Staaten verteidigt wird, wird die Revolution unter gehen

YPG-Kämpfer vor Rojava-Fahne nach der Befreiung Kobanes im Januar 2015 (Bildlizenz: CC BY-NC-SA)

Auszug eines Mail-Interviews, das wir mit einem deutschen Anarchisten geführt haben, der vor einem knappen Jahr als Freiwilliger nach Rojava gegangen ist, um dort beim Aufbau der Revolution zu helfen. Wir veröffentlichen hier die ersten 2 Seiten des Interviews, das vollständige, 4-seitige Interview wurde nun in der November-Ausgabe der Gai Dao abgdruckt, deren Online-Version kostenlos erhältlich ist. Die Gai Dao hat die Debatte um kritische Rojava-Solidarität von Anfang an engagiert vorangetrieben.
Gruppe Louise und andere libertäre Sozialist*innen im Kurdistan Solidaritätskomitee Bremen (gruppe-louise AT riseup.net)

 


 

Differenzierte Berichte über das Geschehen in Rojava sind nach wie vor rar gesät, daran hat auch die inzwischen recht ansehnliche Menge internationaler Delegationsreisen bisher wenig geändert. Selbst die langsam wachsnde Zahl von Internationals, die sich nach Rojava begeben, um sich direkt am Freiheitskampf im Norden Syriens zu beteiligen und den Aufbau selbstverwalteter Strukturen zu unterstützen, hat bisher nicht zu einer spürbaren Verbesserung der Informationslage hier geführt. So bleiben viele Fragen weiterhin unbeantwortet, was eine Einschätzung der tatsächlichen Lage, Akteur*innen und Kräfteverhältnisse und damit auch die Entfaltung einer kritischen Solidarität aus libertärer Perspektive erschwert. Wir hatten im September die Gelegenheit, per E-Mail ein Interview mit einem deutschen Anarchisten führen, der vor einem knappen Jahr nach Rojava gegangen ist und sich dort seitdem vor allem am Aufbau ziviler Projekte beteiligt hat. [Von: Gruppe Louise und andere libertäre Sozialist*innen im Kurdistan-Solidaritätskomitee Bremen]

Du lebst jetzt seit einigen Monaten in Rojava und bist dort an unterschiedlichen Orten aktiv. Was machst du dort und was sind deine allgemeinen Eindrücke?

Ich war einige Zeit in der YPG und arbeite nun als Teil der Demokratischen Bewegung (TEV-DEM) in der Koordination der grenzenlosen Freiwilligen mit. Immer mehr Menschen aus aller Welt kommen nach Rojava, manche mit viel Erfahrung und großen Plänen, andere ohne jegliche Vorkenntnisse, aber viel Tatendrang, um hier eine neue, freie Gesellschaft aufzubauen. Der Staat ist physisch weitestgehend zerstört und die Fragen der Bildung, Gesundheitsversorgung, Wirtschaft, Kunst...alle Felder, in denen sich menschliche Gesellschaft organisiert, erwarten einer visionären Antwort. Der Drang nach neuen Ideen und die Entfesselung eines gewaltigen Schaffensgeistes sind überall spürbar. Die sichtbarsten Veränderungen sind die direkten Folgen des Falls der Staatsmacht: Überall wird gebaut und Bäume werden gepflanzt, das war vorher verboten. Und die Frauenbefreiung ist unglaublich vorangeschritten in nur vier Jahren der äußeren Revolution.

Wir erleben in der linken Debatte über Rojava oft eine recht verallgemeinernde Idealisierung aufder einen und aufder anderen Seite Desinteresse bis hin zu einer Ablehnung, die sich wenig mit dem realen Geschehen auseinander zu setzen scheint. Wie ist dein Erleben der aktuellen Situation? Würdest du sagen, dass in Rojava revolutionäre Verhältnisse herrschen und wenn ja, wo spiegelt sich das wider?

In Rojava herrschen zweifelsohne revolutionäre Verhältnisse, in einem einzigartigen Maße. Eine Gesellschaft ist erwacht, organisiert sich selbst in allen Bereichen und revolutioniert ihr Bewusstsein in einem Maße, dass sie zu einem antifaschistischen und antikapitalistischen Bollwerk macht, welches schon bald kein Herrscher mehr wird niederreißen können. Vielen Menschen ohne Kontakt nach Rojava fehlt immer noch der Zugang zu greifbaren Informationen über die Vorgänge dort. Das verunsichtert, zumal die Antipropaganda insbesondere vonseiten des türkischen und des KRG-Staates stark ist und auch linke bis anarchistische Menschen skeptisch macht. Jede*r macht Rojava zu dem, was ihr*ihm am Besten in den Kram passt. Daher wird es uns von verschiedener Seite als anarchistische Revolution, stalinistische Rebellion oder autoritärer Kurdenstaat verkauft. Linke und selbst selbsternannte Anarchist*innen setzen Revolution auch manchmal leider mit Avantgardismus gleich. Da die PKK nicht die politische Kontrolle übernommen hat (wie ihr oft vorgeworfen wird), sondern sich auf die Bildung und Aufklärung der Bevölkerung konzentriert, gibt es keine zentralisierte Macht und das führt zu oft widersprüchlichen Entwicklungen. Diese sind aber nicht zwangsläufig konterrevolutionär, sondern in sich gerade Kern eines freiheitlichen Neuaufbaus.  Louis Althusser erklärt in „Ideologie und ideologische Staatsapparate“, wie gegen den Staat gerichtete Bewegungen oft seine Stärkung zur Folge haben.  Genauso können augenscheinlich konterrevolutionäre Entwicklungen die freie Gesellschaft stärken, wohingegen es schädlich wäre, sie gewaltsam zu unterdrücken. Viele Menschen, sowohl hier als auch in Europa, haben einfach zu totalitäre Revolutionsvorstellungen.

Wo siehst du Schwierigkeiten, Gefahren oder Widersprüche?

Davon gibt es eine ganze Menge. Der Hauptwiderspruch auf politischer Eben besteht zwischen den basisdemokratischen Rätestrukturen und dem parlamentarischen System, die parallel zueinander existieren. Letzteres wurde geschaffen, um die politischen Parteien zu integrieren, die das Rätesystem ablehnen – direkte Demokratie ist eine klare Absage an Parteimacht und wurde daher von mehreren der in Rojava etablierten Parteien abgelehnt. Die Entscheidungsfähigkeit liegt weitestgehend nach wie vor bei den Räten, das Parlament und seine Ministerien sind gegenüber der dezentralen Organisierung nicht weisungsbefugt. Dennoch nehmen sie legislative Aufgaben wahr und sind Organe eines Staates, genauso wie etwa die neu geschaffene Nationalarmee.Wir kennen solche Beispiele aus vielen historischen Revolutionen und müssen diese analysieren, um nicht dieselben Fehler zu wiederholen und die komplexen Dynamiken unserer Situation zu verstehen. Das Embargo zum Beispiel ist mitverantwortlich für die Stärkung konterrevolutionärer Kräfte, gleichzeitig hat es aber auch durch Importknappheit den Aufbau einer lokalen kooperativen Wirtschaft begünstigt. Mit Dogmen  kommen wir in der Praxis nicht weiter.

Und welche Aspekte begeistern dich?

Ich liebe die dezentrale Organisierung. Es gibt einfach kein Zentralkomitee, das von oben herab den Aufstand dirigiert, vielmehr sind es tausende autonom denkende Individuen und Gruppen, die alle in dieselbe Richtung streben und dabei gemeinsam eine neue Welt schaffen. Dadurch entstehen Vielfalt und Widersprüche, und gerade darin liegt der Reichtum der Revolution. Apo hat die Gesellschaft einmal mit einem Feld verglichen: Eine Monokultur ist schwach und anfällig, Pestizide, Zäune und Maschinen sind notwendig, um sie zu erhalten. In einer Multikultur hingegen besteht ein starkes Ökosystem, welches sich selbst stützt, schützt und am Leben erhält. Genauso kann eine homogenisierte Gesellschaft (wortwörtlich eine Monokultur) nur durch den Staat existieren, wählend eine freie, vielfältige Gesellschaft den Staat überflüssig macht.

Manchmal haben wir hier das Gefühl, dass innerhalb der Linken wenig Vorstellungen darüber existieren, wie widersprüchlich revolutionäre Veränderungen in Gesellschaften in der Realität ablaufen. Wird Rojava deiner Meinung nach teilweise an Maßstäben gemessen, die sich zu sehr auf abstrakte Theorien beziehen und keinen Raum für Prozesse lassen? Wie ist es, in einer Gesellschaft zu leben, in der grundlegende Umwälzungen stattfinden?

Das Problem der europäischen Linken ist, dass sie jegliches Verhältnis zu ernsthafter revolutionärer Praxis verloren hat. Selbsterklärte Militante vergessen hier in beängstigem Maße, dass Revolution ein Prozess ist und kein Zustand. In Europa ist mensch links bzw. revolutionär, in dem mensch sich selbst dazu erklärt – dass Revolutionär*in sein ein Entwicklungsprozess ist, der niemals aufhört, wird dabei außer Acht gelassen. Deshalb kann oft auch keine konstruktive Außernandersetzung mit eigenen individuellen und kollektiven Schwächen und Unzulänglichkeiten stattfinden – fehlende Organisation, Sexismus, Profilierungssucht sind da nur Beispiele. Einst starke Massenorganisationen haben jeden Kontakt zur Bevölkerung verloren und bedienen nur  noch den Bedarf eines widerlichen Überlegenheitsgefühls, welches sie allenfalls zu Klassenfeinden, mitnichten aber zu Revolutionär*innen macht. In der Tat hat das Proletariat weitestgehend das Bewusstsein verloren, um kollektiv über die Ursachen der Krise zu reflektieren – aber viel schlimmer ist es, die Problematik verstanden zu haben und dennoch aufgrund der Unfähigkeit zur Selbstkritik tatenlos zu bleiben.

In Rojava wird ja versucht, das 2003 von Öcalan entwickelte Konzept des demokratischen Konförderalismus bzw. der demokratischen Autonomie umzusetzen. Eine der Grundlagen dieses Modells ist die Selbstorganisierung der Bevölkerung in Räten. Hast du die Arbeit der Räte mitbekommen? Wie sind die Räte zusammen gesetzt? Beteiligt sich die Bevölkerung als Ganzes oder nur einzelne Gruppierungen?

Die Räte sind an den meisten Orten auf vier Ebenen organisiert. Die kleinste ist die Kommune eines Dorfes oder Straßenzuges. Ich kenne eine Kommune in Qamishlo näher, in der ich an Treffen und gemeinsamen Aufräumarbeiten teilgenommen habe. An den kommunalen Aktivitäten haben sich viele beteiligt, bei den Treffen hat es variiert, manchmal waren nur wenige Familien da, allerdings immer sowohl Kurd*innen als auch Araber*innen. Es gab aber auch einige Leute, die sich gar nicht beteiligthaben, weil sie die Selbstorganisierung für sinnlos hielten. Einige nationalisische Kurd*innen und Araber*innen sowie regimetreue Christ*innen boykottieren die Räte durch ihr Fernbleiben. Ein KDP-Anhänger ist anfangs bei jedem Treffen gewesen und hat gegen die
Revolution gewettert, doch nachdem die Leute ihm nicht mehr zugehört haben, ist er nicht mehr gekommen. In der erwähnten Kommune gibt es mehrere Kommissionen, zum Beispiel den autonomen Frauenrat, dessen Vorsitzende eine junge Mutter ist, das Selbstverteidigungskomitee (HPC), und die Streitschlichter*innen. Jede Kommune kann so viele Kommissionen bilden, wie sie, will, aber viele Sachen werden auch auf die Stadtteil-/Gemeindeebene verlagert. [...]

 



Das vollständige Interview befindet sich in der November-Ausgabe der Gai Dao (S. 15-18)

Gruppe Louise, Bremen (gruppe-louise AT riseup.net)