Der Antiislamismus der Proteste in der Türkei?

Es gibt mehrere, gut recherchierte und informative Texte über den Krieg in Kobani und was gerade in der Türkei passiert. Der informative Teil der Texte ist gut, wenn aber Interprationen hinzugefügt werden, merke ich, dass viele Vorurteile und ein erhebliche Mangel an Wissen existieren. So werde ich überrascht, wenn ich lese, dass die Proteste in Solidarität mit Kobani in der Türkei antiislamistisch sind. Vielleicht ist es nötig, einige Hintergrundinformationen offen zu legen, da es verständlich ist, dass Menschen, die gar nicht oder kurz in der Türkei gelebt haben, nicht wissen können, was da so abläuft und warum, und besonders, wie die Menschen dort so darauf sind.

 

Nie gab es in der Türkei, in der Vergangenheit nicht und jetzt auch nicht, einen antiislamistischen Protest oder eine antiislamistische Bewegung, ausser die Gründungsväter der türkischen Republik, die Gesetzte erliessen und Massnahmen trafen, um zu verhindern, dass islamistische Kräfte innerhalb der Staatsstruktur und in der Gesellschaft mehr an der Macht gewinnen. Es gab keinen einzigen Text oder Aktion von der linken Bewegungen in der Türkei, was man als antiislamistisch bezeichnen kann. Viele Menschen, die in der linken Bewegungen aktiv sind, z.B. kämpfende Arbeiter*innen oder Kurd*innen in der kurdischen Bewegung, sind Muslime.

 

Was um AKP und Armeen wie IS im Namen Allahs geht, glaubt kein Mensch in der Türkei ernsthaft, dass sie als Muslime handeln. Wenn die Aussagen und Praktiken der oben Genannten auch nur oberflächlich betrachtet werden, kommt es raus, dass wir hier mit dem erfolgreichsten Bündnis der gefährlichsten Ideologien der Welt zu tun haben: Patriarchat und Kapitalismus. Es geht nicht um die Herrschaft des Islams, sondern um die erfolgreiche Durchsetzung eines Systems, der Kapitalismus in seiner totalitären Form ist und dadurch zwangsläufig Patriarchat als alleinige Gesellschaftsform anerkennt. Denn der Kapitalismus kann ohne Patriarchat nicht existieren.

 

Ein kurdischer Kämpfer, der in Kobani verletzt wurde und deshalb zur Grenze kam, erzählt, dass er selbst Muslim ist und nicht daran glaubt, dass die IS-Söldner irgendwie Muslime seien oder überhaupt gläubig sind. Alle IS-Söldner, die er traf, waren unter Einfluss der Drogen, sie merkten es nicht mal, wenn sie von Kugeln getroffen wurden. (für diejenige, die auf türkisch lesen können: www.diken.com.tr/diken-ozel-ypgli-kobani-direniscisi-isidciler-arasinda-turkler-hatta-kurtler-var/).

 

Wir haben in der Türkei nicht mit religiösen Fanatikern zu tun. Wir erleben dort das grosse kapitalistische Experiment: Wie kann es mit dem Kapitalismus weiter gehen – wie kann die Ausbeutung weiter gehen und wie kann weiterhin Gewinn erzielt werden, da, wo der Kapitalismus weltweit auf mehreren Ebenen an seiner Grenzen gestossen ist?

 

Die IS-Söldner sind vermutlich auch keine religiöse Fanatiker. Es sind hauptsächlich Jungs, die auf Geld, Drogen, Knarren und Action stehen und daran glauben, dass die Männlichkeit die Welt dominieren, definieren und bestimmen soll. Kommt es nicht bekannt vor?

 

Dies hier ist kein Versuch, AKP und/oder IS zu relativieren. Faschismus muss überall bekämpft werden, auf allen Wege und mit allen Methoden. Wir dürfen aber nicht in der Falle des Kapitalismus durch seine Berichterstattungen tappen und daran glauben, dass die Welt und Menschen so einfach funktionieren, in dem Fall, dass eine islamistische Gefahr die Welt bedroht. Es sind keine Muslime, sondern kapitalistische und patriarchale -hauptsächlich- Männer, so wie überall auf der Welt, die durch Unterdrückung, Ausbeutung Repression und Kriege ihre Machtfantasien durchsetzen, eigenen Interessen nachgehen und ihre Taschen füllen wollen. In manchen Regionen der Welt definieren sie sich als Muslime, um mehr Anhänger zu gewinnen. Das funktionert nur, weil sie von vielen anderen nicht als Menschen, sondern als Muslime gesehen, identifiziert und kategorisiert, und somit diskriminiert werden.

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Die Behauptung, dass es in der Türkei keine antiislamistische Bewegung gegeben habe und auch derzeit nicht gebe, ist schlichtweg falsch. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur auf die Massenproteste aus dem Jahr 2007 hinweisen. Diese waren gegen die AKP bzw. gegen eine Islamisierung des Staates gerichtet und damit antiislamistisch.

Gerade vor dem Hintergrund, dass in der Türkei zahlreiche Intellektuelle - wie etwa Ugur Mumcu - Islamisten zum Opfer gefallen (siehe auch "Brandanschlag von Sivas") bzw. - sofern sie vor den Gefahren des Islamismus warnen - Repressalien der Regierungspartei ausgesetzt sind (Inhafierung von Journalisten), kommt mir die Behauptung, dass es in der Türkei keine antiislamistische Bewegung gebe, doch wie blanker Hohn vor.

Tatsächlich gibt es in der Türkei (noch) eine breite, linke und antiislamistische Bewegung. Nur leider ist die islamistische Bewegung breiter. Das Grundproblem liegt wohl darin, dass der Laizismus den Leuten doch in gewisser Weise "von oben herab" diktiert wurde und eine breite Masse diesen Laizismus nicht angenommen und wahrscheinlich auch gar nicht verstanden hat, um was es dabei geht. Hinzu kommt, dass mit der zunehmenden Demokratisierung (Einführung des Mehrparteiensystems / Regierung Menderes) und spätestens mit dem Putsch im Jahr 1980 die Islamisten (leider) an Macht gewonnen haben und in Zukunft auch gewinnen werden, etwa indem eine Jugend herangezogen wird, die in den (Imam Hatip) Schulen einer Gehirnwäsche unterzogen wurde.

Ich finde gut das auch auf die ganz weltlichen Aspekte mal Augenmerk gebracht wurde. Häufig ist es so das in den verschiedensten Gruppen die als radikale Islamisten gelten, Menschen integriert sind, die in ihrem vorherigen Leben poor people waren und in der Organisation eine Möglichkeit gefunden haben, für materielles Auskommen zu sorgen. Es ist nicht so, das mehr oder weniger plötzlich tausende zu religiösen fanatikern werden und auch aus allen möglichen ländern "für den Islam" kämpfen. Für die lokalen Menschen bedeutet es ein materielles Auskommen in einer ansonsten weitgehend aufgeteilten und zerbombten Region, für die "auswärtigen" geht es oft um so banale Sachen wie im Text bereits beschrieben. Die professionelle Medienarbeit und Videocliperzeugung des IS sowie die effizienz mit der sie ihre gemachte Beute jeglicher Art verschachern und die taktischen Winkelzüge die sie bei Stadt und Gebietsübernahmen zeigen sind kein Zufall. Das es in den westlichen Massenmedien immer wieder heißt es handelt sich um radikale Islamisten ist nur ein (kleiner?!) Teil der Wahrheit, der den (größerern?!) Teil verstecken kann:

Welche Aspekte des IS und anderer Gruppen sind kapitalistischen Unternehmen im Wesenszug nicht unähnlich und welche Gründe gibt es sich zb. dem IS anzuschließen. Breit wird von "dem Bösen" gesprochen, mit "dem Bösen" braucht man sich nicht zu befassen. "Das Böse" ist mythisch so überlagert das eine Faktenbasierende Analyse daran zerschellen muß und damit natürlich auch die Verantwortlichkeit heutiger und vergangener westlicher Regierungen und die der kapitalistischen Dynamik.

für diesen guten Artikel!