[Türkei] Dersim Diaries I & II

Dersim Diaries 1

[Dersim Diaries - Im Kofferraum durch Kurdistan] Startschuss in Istanbul &  Ankunft in Dersim 

Sibel Yalcin, Berkin Elvan und Kinder mit explodierenden Flaschen – Was man über die Millionenmetropole am Bosporus nicht in Reiseführern findet

 

Mein Weg in die Türkei und nach Kurdistan beginnt wie viele andere Tage auch: verkatert in Wien Ottakring. Er führt gekoppelt mit dem offenbaren Unvermögen der ÖBB grenzüberschreitende Zugreisen halbwegs vernünftig zu ermöglichen über die Stationen Wien-Graz-Spielfeld-Straß-Zidani Most-Ljubljana nach Istanbul.

 

Meine Begleitung aus Österreich sind zwei Genossinnen und ein Genosse aus Graz. In Istanbul und in Dersim werden weitere GenossInnen zu uns stoßen, mit uns linke Viertel in erkunden, mit einem Affenzahn über enge Gebirgsstraßen brausen und mit Raki auf den Lippen mehrsprachig ArbeiterInnenlieder anstimmen.

 

Wenn du das erste Mal in deinem Leben in Istanbul ankommst, keinen Bock auf klassischen Touri-Schmafu hast, von zwei Genossen vom Flughafen abgeholt und in die Wohnung von einem der beiden gefahren wirst, bist du vor allem eines: Baff. Schon allein der Straßenverkehr, wo Verkehrsregeln mehr als Anregung oder gut gemeinter Rat ausgelegt werden, überfordert. Davon abgesehen ist es Mitten im Sommer einfach heiß. Eine schwüle Hitze sorgt dafür, dass dein Shirt beim bloßen Herumstehen völlig durchnässt.

 

Wir sind die ersten Tage in Istanbul bei Ö. untergebracht. Ö. war lange Jahre als Guerilla in den Bergen Kurdistans, wurde angeschossen und verbrachte noch längere Jahre unter Folter, Hungerstreik und Todesfasten in türkischen Gefängnissen. Als er im Rahmen einer kurzzeitigen Amnestie nach Österreich gelangen konnte, lernte er Deutsch und spricht es nachwievor gut. Sein um zehn Jahre älter als sein Geburtsdatum wirkendes Gesicht kommt mir bekannt vor. Vielleicht haben wir uns auf einer Demo in Wien getroffen, so genau können wir es nicht rekonstruieren. Nach zehn Jahren Aufenthalt in Österreich und einer weiteren Amnestie konnte er schließlich wieder in die Türkei zurückkehren, seine Tage im bewaffneten Kampf hat er hinter sich gelassen. Nicht zurückgelassen hat er die Erfahrungen von Kampf, Folter und Haft.

 

Unsere Tage in Istanbul nutzen wir neben Biertrinken am Meer und ausführlichem Verwundern über die vielen Leute, die sich wegen Ramadan bei einer Affenhitze unter Tags keinen Schluck Wasser gönnen, auch für einen kleinen Abstecher in den Gezipark. Von den massiven Protesten im Vorjahr, von den Barrikaden, vom Tränengas und von den vom türkischen Stadt Ermordeten fehlt jede Spur. Eine Genossin zeigt uns, wo die Barrikaden standen, wo die Krankenstation war, wo gekocht wurde und wo die Bibliothek ihren Platz einnahm. Ihr geht es wie vielen Menschen, die sich an den Protesten und insbesondere am Leben im Park jenseits vom kapitalistischen Alltagswahnsinn beteiligten. Ihre Augen leuchten durch die dunkle Sonnenbrille hindurch, als sie davon spricht, wie die Einkäufe und die Verpflegung in diesem Experiment des selbstbestimmten Lebens unter der ständigen Bedrohung durch die Polizei funktioniert haben. Ein Jahr später sitzen Familien in der Wiese und spazieren TouristInnen über den Taksimplatz, der sich gleich neben dem Park befindet.

 

Wir besuchen auch das linke Stadtviertel Okmeydanı. Ortskundiger, Übersetzer, ständiger Begleiter und immer engerer Freund ist unser Genosse S., der in Graz wohnt und über den wir den Weg in die Türkei gefunden haben. Okmeydanı ist ein von revolutionären Kräften dominiertes Viertel. An jeder zweiten Wand finden sich Sprays verschiedener politischer Gruppen und Vereine. Antifaschistische Wandmalereien wechseln sich mit Bekundungen der Solidarität mit dem palästinensischen Befreiungskampf ab. Hammer und Sichel, rote Sterne, Aufforderungen zum Widerstand gegen das Bestehende, Stencils von Berkin Elvan und İbrahim Kaypakkaya prägen das Stadtbild in dem 120.000 EinwohnerInnen zählenden Teil Istanbuls.

Unsere erste Station führt uns in ein Vereinslokal der DHF (Föderation für Demokratische Rechte). Dort werden wir – wie noch viele weitere Male – zum nicht-ausschlagbaren Cay eingeladen. Wir werden durch das Lokal geführt: neben einem Sozialraum, in dem einige Tische besetzt sind, wird uns das Büro, das hauseigene Kino, das gleichzeitig für Diskussionsveranstaltungen verwendet wird, ein Kursraum und ein Proberaum gezeigt, in dem unter anderem Grup Munzur musizieren. Ein Genosse der DHF berichtet uns von ihrer Arbeit im Viertel, von den zahlreichen kulturellen Aktivitäten des Vereins, deren Vielzahl und Fülle den Stellenwert von kulturellen Fragen in der türkisch-kurdischen Linken uns hier erstmals im Verlauf unserer Reise vor Augen führt. An einer Wand hängen Gedichte, Zeichnungen und Briefe von Inhaftierten. Nach der nächsten Tasse Tee, weiteren Anekdoten und ein paar Zigaretten im Stiegenhaus brechen wir zur weiteren Erkundung des Viertels auf.

 

Wir kommen zu dem Ort an dem Berkin Elvan vergangenen Sommer als er Brot für seine Familie kaufen wollte von der türkischen Polizei ins Koma geschossen wurde. Das “Kind der Hoffnung” wurde zum Symbol der Geziproteste. Berkin verstarb abgemagert auf 16 Kilo im Alter von 15 Jahren am 11. März dieses Jahres. Landesweite Proteste von Millionen und zahlreichen Zusammenstößen waren die Folge. Erdogan bezeichnete ihn nach seinem Tod als Terrorist. An der Stelle, an der türkische Staat zuschlug, hängt ein großes Transparent mit dem Gesicht von Berkin Elvan. An der Wand steht geschrieben: Berkin Elvan ölümsüzdür. Berkin Elvan ist unsterblich. Bei über 35 Grad im Schatten fröstelt es mich.

 

Weiter über die steilen Gassen und gepflasterten Gehwegen von Okmeydanı führt uns unser Weg in einen Park, wo die GenossInnen, die uns begleiten, von Teetrinkenden vor einem kleinen Kaffeehaus begrüßt werden. Sofort wird Platz gemacht, werden mehr Sessel und Tische herbeigeschafft. Wir schütteln Hände, sagen merhaba und setzen uns. Bei unseren neuen Bekanntschaften handelt es sich um AnhängerInnen der Volksfront (Halk Cephesi). Im Schatten der Bäume und der nächsten Runde Cay erzählen sie uns von diesem grünen Fleck inmitten von Wohnhäusern, an deren Wänden zur Revolution aufgerufen wird. Und so zünden wir uns unsere ersten Zigaretten im Sibel-Yalçın-Park an ohne zu wissen, warum er diesen Namen trägt. Unsere Tee spendierenden, neuen GenossInnen erzählen uns die Geschichte der gefallenen Revolutionärin. Erzählen uns wie sie von der Polizei nach einer Auseinandersetzung ins Viertel verfolgt wurde, deuten ans andere Ende des Parks, wo sie sich verschanzt hatte und berichten von der Schändung ihrer Leiche mit zig Einschüssen, die ihrem Körper nach dem Tod von der türkischen Polizei zugefügt wurden. Das politische Leben im Viertel spielt sich über Veranstaltungen oder Versammlungen oft in dem Park ab, den die revolutionären Kräfte nach Sibel benannt haben. Mittlerweile sagen alle in dem Viertel so dazu.

 

In Okmeydanı haben weder Polizei noch AKP etwas zu suchen. Es wird uns berichtet, dass wenn ein Polizeiauto ins Viertel fährt, eine entsprechende Reaktion darauf erfolgt. Die bloße Anwesenheit gilt als Provokation und wird dementsprechend beantwortet. Und wenn die Provokation mal eine Woche ausbleibt, dann würde eben die nächste Polizeiwache angegriffen werden. Auf unsere Nachfrage, wie wir uns die Reaktion auf Polizeianwesenheit vorstellen können, kommt die Antwort, dass sich das schon mal bis zu scharfen Schüssen hochschaukelt, aber die Menschen zuerst alles, was sie gerade finden können, auf die Polizei werden. Scharf geschossen würde erst später werden, zuerst gibt’s “Kleinigkeiten” wie Mollis.

 

Die Auseinandersetzungen, die hier geführt werden, mögen für Menschen, die ihre politische Tätigkeit woanders entwickeln, fremd wirken. Hier gehören sie genauso zum Alltag wie der laute Knall, der die Erzählung im Park plötzlich unterbricht und uns zusammen zucken lässt. Die GenossInnen aus Okmeydanı lachen laut und herzlich über unsere Reaktion. Der Knall wird uns dadurch erklärt, dass die Kinder im Park üben. Üben heißt hier im Viertel kleine Bomben aus leeren Plastikflaschen und allerlei anderem Zeug zu basteln, um eine türkische Lira sind sie käuflich zu erwerben. Beim zweiten Knall reißt es uns weniger, beim dritten kaum mehr. Ein alter Genosse mit dickem Schnauzer zieht tief an seiner Zigarette und meint lachend, dass wir nach einem Tag das Knallen nicht mehr wahrnehmen würden und am nächsten schon mitkämpfen könnten. Wir scherzen noch viel, bedanken uns für Tee und spannende Geschichten. Danach schauen wir noch ein wenig den Kindern zu, wie sie die Flaschen in die Luft jagen und verlassen das Viertel wieder.

 

 


 

 

Als gelernter Österreicher saugt man nicht nur bedenkliches Trinkverhalten und antipreußischen Reflex mit der Muttermilch auf, sondern auch eine gewisse Portion Granteln. Der Schädel brummt noch ein wenig von der feuchtfröhlichen und tanzfreudigen Erkundung des Istanbuler Nachtlebens vom Vortag, als wir in Kurdistan landen. Und während ich mich im ersten Teil über die Hitze in Istanbul mokiert habe, verschlägt es mir beim Ausstieg aus der Onurair-Maschine am Flughafen in Elazığ ob der Schönheit der kurdischen Berge nicht nur die Sprache, sondern wegen der trockenen, beißenden Hitze gleich noch den Atem dazu.

 

 

Während sich in der Millionenmetropole Istanbul konservative Viertel, wo wir wegen kurzen Hosen und vor allem die mitreisenden Genossinnen wegen Kleidern und Kopftuchmangel schief beäugt werden, mit endlosen Schlangen von TouristInnen, die vor diversen Sehenswürdigkeiten schlecht gelaunt in der Sonne vor sich hin brutzeln, mit linken Stadtteilen, wo militante Herangehensweisen an die Fragen des täglichen Lebens zum guten Ton gehören, abwechseln, sind in Dersim die Verhältnisse klar. Zumindest was die Präsidentschaftswahlen angeht, die bei unserer Ankunft Anfang August noch nicht geschlagen sind: Keine haushohen Erdogan-Werbungen, die von “nationaler Größe” und “nationalem Stolz” sprechen; Keine Banner des gemeinsamen Kandidaten von kemalistisch-sozialdemokratischer CHP und faschistischer MHP, deren bewaffneter Arm in Form der Grauen Wölfe ja zuhause mitunter gemeinsam mit der österreichischen Sozialdemokratie den Ersten Mai begeht. Stattdessen sehen wir ausschließlich Wahlwerbung der HDP (Demokratische Partei der Völker), einem Zusammenschluss aus kurdischer Befreiungsbewegung und Teilen der türkischen Linken. Präsidentschaftskandidat Demirtas propagiert eine mehr oder minder sozialistische Perspektive und ist bei der Wahl der fortschrittlichste Kandidat, der teilweise auch von revolutionären Kräften unterstützt wird.

 

Am Flughafen werden wir von einem Genossen aus Dersim empfangen und steigen erstmals in unseren Hyundai Starex, in dem wir noch viele Kilometer durch Kurdistan fahren werden. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Elazığ (völlig überraschend gibt’s Cay, Ayran und Gegrilltes) starten wir unseren ersten Roadtrip durch die Berge. Unser Ziel für diese Nacht: Hozat. Der Hyundai bietet viel Platz und so sitzen bei unseren Reisen in der Regel vorne drei, hinten vier und im Kofferraum zwei bis drei. Aus den Boxen scheppern revolutionäre Lieder, deren Inhalt wir aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht nachvollziehen können. Mitgesungen wird natürlich trotzdem. Mit weit aufgerissenen Fenstern und die Landschaft mit einer Begeisterung fotografierend, wie man sie sonst nur von nervigen Tourigruppen kennt, die einer Fahne nach durch die Innenstadt hetzen und einfach jeden Scheißdreck ablichten, kommen wir vorbei an Weinreben, Obstbäumen und staubigen Feldstraßen an einen Stausee. Die Fähre, mit der wir ans andere Ufer kommen wollten, verpassen wir knapp. Das Warten auf die nächste ist hier kein Problem, denn die Kulisse ist mal wieder wunderschön. Knapp an der Grenze zum Kitsch senkt sich beim Warten auf das Boot die Sonne am späten Nachmittag langsam hinter einem Berg, der sich aus dem See erhebt. Möwen kreisen über unseren Köpfen, zwecks Kühlung werden die Füßen ins Wasser getaucht und leere Plastikflaschen schlängeln sich zwischen unseren Füßen am Ufer entlang. Romantisch.

 

Verbunden mit Tee, Zigaretten und Nicht-packen-weil’s-hier-so-schön-ist kommen wir nach der kurzen Überfahrt knapp vor Pertek an. Als Ausnahme-erscheinung in der Region wird Pertek doch tatsächlich von der AKP regiert. Deshalb seien auch die Straßen in dem Ort in einem so guten Zustand, erklärt uns S. Es wirkt wie ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag unter dem neuen Sultan von Ankara, unter dem System-Erdogan: stimm für mich, halt dich von RevolutionärInnen, KurdInnen und AlevitInnen fern, geh in die Moschee und bleib brav. Dann kommen neue Straßen oder staatliche Sozialleistungen, die nämlich nicht gesetzlich verankert sind, sondern deren Vergabe u.a. im Ermessen von regionalen Gouverneuren liegt. Vor welche Herausforderungen das die Menschen, die hier leben, stellt, werden uns in den kommenden Tagen Bürgermeister von kommunistisch regierten Gemeinden anschaulich berichten.

 

Der Weg nach Hozat führt durch Täler, entlang der rotbraunen Berge, die mit einzelnen Baumgruppen grün gepunktet in der Ferne erscheinen, entlang von Klippen, die neben der Straße hunderte Meter in die Tiefe führen. Unter Missachtung sämtlicher zumindest formal geltenden Benimmregeln des Straßenverkehrs wie Geschwindigkeitsbeschränkungen, Überholverboten oder einer maximalen Anzahl an Fahrgästen, brausen wir immer weiter und höher in die Berge hinein. Neben der Straße finden sich Graffiti und Malereien von PKK, HKO (Volksbefreiungsarme / MKP), Partizan (TKP/ML) und TKP. Plötzlich bremst der Genosse hinterm Lenkrad abrupt ab und wir schleifen uns neben der Fahrbahn am Schotter ein. Rauchpause.

Wir stehen am Straßenrand und überblicken ein tiefes Tal. Keine Bäume, kaum Schatten, viel Staub, trockene Gräser und Disteln. Der Fahrbahn entlang ziehen sich schroffe Steinklippen. Am anderen Ende des Tals sehen wir die türkische Fahne und gewaltige Letter in den Berg gezeichnet. Auch von unserem weit entfernten Standort sind die Buchstaben gut zu lesen. Ein Genosse deutet auf die steilen Klippen. Er erzählt vom Völkermord an den ArmenierInnen, davon als die Menschen in Dersim versuchten, zu helfen. 1937/38, gut zwanzig Jahre später, kam es hier zur Niederschlagung des Dersim-Aufstands. Die kurdisch und alevitisch dominierte Bevölkerung leistete Widerstand gegen die Türkisierungspolitik unter Atatürk. Die Antwort auf ihre Forderungen nach selbstbestimmtem Leben, dem Recht, die eigene Sprache zu sprechen, Kultur zu leben und Religion auszuüben war hart: Umsiedlungen von ganzen Dörfern, wo Dörfer nicht freiwillig verlassen wurden, gingen sie in Flammen auf, der gesamte Landstrich wurde großflächig verheert, Zehntausende deportiert. Folter, Vertreibung, Deportation und Mord kosteten weit über zehntausend Menschen das Leben, viele von ihnen ZivilistInnen und Kinder. Sie wurden im Rahmen der Türkisierung über die Klippen, an deren Rändern wir gerade geparkt haben, getrieben, gestoßen und geworfen. Wie schon 1915ff. beim Genozid an den ArmenierInnen. Die Fahne und die Buchstaben am anderen Ende des Tals hat die türkische Armee angebracht. Wir bekommen die Übersetzung: “Ich bin stolz, Türke zu sein.”

 

Beim letzten Tageslicht erreichen wir Hozat. Erschöpft lassen wir uns im Teehaus nieder und werden gemustert wie bunte Hunde. Äußerlich erkennbare MitteleuropäerInnen fallen in der kleinen, kurdischen Bergstadt auf. Wir spazieren noch herum, gewinnen erste Eindrücke von Hozat. Entlang der Straße hängen großformatige Bilder an den Hauswänden: sie erinnern an den Dersim-Aufstand, bilden Gefallene und Märtyrer ab, sie zitieren Gedichte von Nâzım Hikmet, Ché Guevara findet sich neben Seyit Rıza, dem in der ganzen Region präsenten Anführer des Dersim-Aufstands. Angebracht wurden sie, als die DHF bis vor kurzem noch stärkste Kraft im Ort war. Um wenige Stimmen mussten sie den ersten Platz bei der letzten Wahl an die CHP abtreten, was daran liegt, dass die Soldaten der umliegenden Militärbasen eine Wahlberechtigung haben. Zum permanenten Belagerungszustand werden wir später mehr erfahren. An Hauseingängen sitzen alte Frauen und plaudern miteinander. Sie unterbrechen ihre Gespräche kurz, als sie uns vorbei flanieren sehen. An den Wänden neben ihnen schwört die Volksbefreiungsarmee Rache für Berkin Elvan und die Toten von Soma. Unser Mitreisender Genosse Ö. ist aus Hozat, wuchs hier auf, ging hier zur Schule und als Guerilla in die Berge. Er scheint alle zu kennen: Eine Umarmung folgt der nächsten und es wirkt, als wäre er mit einem Drittel verwandt, dem anderen befreundet und dem nächsten verschwägert. In einem der vielen kleinen Läden organisieren wir noch Abendessen, Wasser, Raki und steigen wieder ins Auto. Von der Sonne ist schon lange nichts mehr zu sehen und im Vergleich zu Istanbul sind die Nächte in den Bergen angenehm kühl.

 

Auch wenn wir davon ausgingen in Hozat zu schlafen, ist es in dieser Region üblich, dass sich um die eigentliche Stadt in einem weiten Radius winzige Bergdörfer scharren, die aber wiederum der Stadt zugeordnet werden. Wieder was dazu gelernt. In eines dieser Dörfer geht die letzte Fahrt des heutigen Tages. Bei einer Sichtweite von geschätzten fünf Metern quält sich unser Auto im ersten Gang eine schmale, von Schlaglöchern durchzogene Schotterstraße weiter in die Berge hinauf. Die letzten Meter keucht der Hyundai ordentlich, allerdings fühlen wir uns beim Genossen S., hauptberuflicher LKW-Fahrer in der Steiermark und Maoist unserer Wahl, in sicheren Händen. Schließlich kommen wir in dem kleinen Bergdorf an und nehmen vorm größten der Handvoll Häuser im Dorf auf der Betonterrasse Platz. Ein paar sitzen um den Holzofen herum, legen nach und kochen Cay auf. Andere schieben noch Sessel und Tische herbei, damit wir alle sitzen können. Wir werden umarmt und geküsst, fühlen uns auf Anhieb wie zuhause. Nach der ersten Tasse Cay und der Vergewisserung, dass es das für den heutigen Tag mit dem Autofahren endlich war, wird uns erklärt, wo wir hier denn überhaupt sind. S. ist wieder so nett und macht stundenlang den Übersetzer. Der Mann, der neben mir sitzt, viel lacht, um sich kurz darauf wieder in ernste Gespräche zu vertiefen und uns den Tee serviert hat, ist ein alevitischer Dede. Ein Dede (=Großvater) kann am ehesten mit dem, was wir als Priester kennen, verglichen werden, wobei es doch ganz anders ist. Die naheliegende Frage ist jetzt natürlich, was zur Hölle eine Hyundailadung österreichischer, türkischer und kurdischer GenossInnen da jetzt mitten in der Nacht beim Dede im Bergdorf macht? Die Antwort darauf folgt demnächst.

 

 


 

von Hermin Šnops / fotsetzung folgt / lowerclassmagazine

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Ein weiterer Artikel, der die türkischen K Gruppen und ihre politische Praxis in den Stadtteilen Istanbuls völlig unreflektiert abfeiert. Das geht nun schon seit Monaten so, und ist beileibe nicht nur auf plumpe Propagandaseiten wie z.B. die der ARAB beschränkt, die auf facebook immer wieder vom Auftauchen der bewaffneten Milizen schwärmt.

Leider auch die sonst so geschätzten GenossInnen von urban resistance konnten der Versuchung nicht widerstehen.

 

Erstens wäre es mal an der Zeit, sich mit den ideologischen und philosophischen Sichtweise der "Genossen" auseinanderzusetzen, statt hier erneut oberflächliche Revolutionsromantik aus Metropolensicht abzuliefern.

(Einige Linke scheinen aber auch garnichts aus der unkritischen Unterstützung in den 60, 70, 80igern der diversen "Befreiungsbewegungen", von Pol Pot bis Mugabe gelernt zu haben).

(Oder fragt doch mal nach, wieviel GenossInnen sich trauen, sich zu ihrer Homosexualitär zu bekennen)

 

Und zweitens sich auch mit der blutigen Geschichte der innerlinken Kämpfe der türksichen K Gruppen auseinanderzusetzen. Das jüngste Beispiel ist der Tod von Mustafa Ceylan, einem Militanten der ESP. Der wurde von Miltanten der DHKP C erschossen, als es zu Auseinandersetzungen darüber kam, wer denn das Recht habe,  in einem weitgehend von der DHKP C kontrollierten Stadteil Propaganda zu machen. Ein Bericht dazu (zugegeben etwas wirr geschrieben) erschien auch auf linksunten, wurde aber zensiert. Die Volksfront, also DHKP C, ist auch in Okmeydanı sehr präsent und die wichtigste bewaffnete Kraft und taucht dann auch in den diversen riotporn Videos auf, die sich die Leute von Hamburg bis Salzburg so gerne reinziehen.

 

Wie gesagt, zum Tod von Mustafa Ceylan gibt es auf deutsch praktisch garnichts, von einer verschwörungstheoretischen Stellungnahme der Volksfront mal abgesehen. Wer mehr dazu wissen will, spreche einfach mal Leute aus der türkischen Linken an, die weder zur ESP noch zur DHKP C gehören. Ansonsten ist es schon bezeichnend, dass dieser Vorfall außerhalb der Türkei völlig unter den Teppich gekehrt wird.

 

Verwundern kann die Auseinandersetzung und das Vorgehen der DHKP C aber nicht wirklich. Die ist ein Spaltungsprodukt des Dev Sol. Als es innerhalb der Gruppierung Mitte der 90iger zu Flügelkämpfen kam, knallte es über Wochen in praktisch allen grösseren deutschen Städten, dabei wurden auch Messer und Schusswaffen eingesetzt, bei einer Auseinandersetzung in Berlin am Halkevi am Kottbusser Damm wurde dabei ein Mitglied von Dev Sol erschossen. Dagegen waren die Maoisten von der RIM, mit der sich ja zeitgleich die Autonomen auf den 1. Mai Demos in Berlin geprügelt haben, wirklich der reinste Kindergarten.

Behaupten, dass dieser Bericht die "politische Praxis in den Stadtteilen Istanbuls völlig unreflektiert abfeiert" und dann selber völlig platte Kritik bringen?
Du forderst ideologische Auseinandersetzung ein, was ohne türk. Sprachkenntnisse denkbar schwierig ist, polemisierst selber aber nur indem du behauptest es hätte eine unkritische Unterstützung von PolPot bis Mugabe gegeben. Lass mal mehr von dieser angeblichen Unterstützung hören, das interessiert sicher nicht nur mich.

Weiter streust du hauptsächlich Gerüchte, die sich nicht prüfen lassen um den Eindruck zu erwecken bei der DHKP-C handle es sich um eine völlig durchgeknallte blutrünstige Mörderbande.
Deine Kritik zielt nicht auf die Verbesserung revolutionärer Politik sondern ist typisch für eine angebliche Linke die jeden Versuch einer Revolution aufgegeben hat und jetzt nur noch Revolten und Diskurse kennt.

Das mit der RK/RIM ist auch ein interessanter Fall, da sich außer einiger sehr dünner einseitig RIM-kritischer Berichte nichts finden lässt. Erzählungen von ehemaligen RKlern klingen völlig anders und wie so oft findet sich die Wahrheit wohl nicht in der Mitte sondern irgendwo zwischen den beiden Erzählextremen.

die ESP mit der DHKP-C zu vergleichen haut aber auch nicht ganz hin, wa?

Ich wollte erst was inhaltliches schreiben aber dann merkte ich das ihr das ja alles selber (leider) erforschen müßt. Einer kritik seid ihr nicht zugänglich.

Ihr die freunde des stalinismus habt nichts verstanden aus der geschichte. Ich weiss das überall auf der welt menschen gibt die versuchen zu den vorstellungen von rätedemokratie und eventuell anarchismus zukommen.

Nie wieder stalinismus

Der Stalinismus ist ein einfacher Prügelknabe, da es nach jahrzehntelanger Kampagne des Revisionismus und Imperialismus kaum noch jemanden gibt der den Diffamierungen etwas entgegen hält.
Bei genauerer Betrachtung der historischen Ereignisse und der Umstände fällt auf, dass niemand eine historische Kritik mit Substanz liefern kann. Vielmehr scheint es um eine moralische Reinwaschung des liberalen Kapitalismus zu gehen in dem angeblich ach so viel Freiheit herrscht im Gegensatz zur blanken Diktatur (des Proletariats) die notwendig ist um zum Kommunismus zu kommen (und leider immer wieder von der neuen roten Bourgeoise begraben wurde).

Die Versuche des Anarchismus Revolution zu machen sind noch nichtmal in die Phase gekommen, in der man sie kritisieren könnte. Wenn man immer wieder besiegt wurde, sollte man sich nicht jedes mal fragen was man schon wieder falsch gemacht hat, sondern ob überhaupt etwas richtiges dabei war.

Einige der Kommentare hier sind unterirdisch dumm. Zunächst ist es nicht Aufgabe einer Reportage Ideologiegeschichte zu betreiben, sondern schlichtweg mit einigen Hintergründen davon zu erzählen, was man beobachtet hat. Dann kommt aber noch hinzu: Es sind meistens Leute, die die türkische Linke nur aus der Entfernung kennen, kein türkisch können, und überall gewohnt sind, die verschobenen Maßstäbe ihrer "emanzipatorischen" Weltsicht anzulegen. Die Arroganz und Engstirnigkeit solcher Kommentare ist äußerst ärgerlich. Eine hiesige Linke, die keine Toten, wenige Gefangene (um die man sich dann noch dazu höchstens solange kümmert, wie sichs grade als Soliparty vermarkten lässt) und kaum eine politische Praxis hat, die diesen Namen verdient, meint, sich über alle Bewegungen von Indien bis Südafrika, von Venezuela bis Anatolien stellen zu können und den ganzen dummen, dummen Leuten da ihre tollen, in deutschen Lesekreisen gewonnenen moralinsauren "Erkenntnisse" aufdrücken zu müssen. Ich will es ganz deutlich sagen: Ihr seid selbstgefällige Idioten, die mit Revolution und Befreiung rein gar nichts zu tun haben.