Fragment zur Gewalt

Im Nachgang des europäischen Aktionstags gegen den Kapitalismus am 31. März (M31), in dessen Verlauf es zu medial stark aufgebauschten Ausschreitungen kam, entstand eine Gewaltdebatte, die aber bisher kaum über die konkreten Aktionen hinaus weiter geführt wurde. Hier ein kleiner Beitrag, der einen ersten Schritt versucht…

 

Fragment zur Gewalt

I.
Gewalt herrscht – vermittelt zwar, durch die Form des Rechts und die formale Freiheit, wie sie dem Warensubjekt in der Welt des Kapitals gebührt. Doch der Fortschritt, den sie brachte, ist ein Fortschritt innerhalb der Geschichte von Herrschaft und Gewalt. Emanzipation bedeutet – der Idee nach – mit dieser Geschichte, der Vorgeschichte, zu brechen.


II.
Der Frankfurter Frühling wurde geprägt von mal mehr (M31), mal weniger (Blockupy) sozialrevolutionären Krisenprotesten und einer dumpfbackig geführten Gewaltdebatte. Der Gewaltbegriff diente den Stadtoberen dabei primär als ideologisches Kampfmittel und erfüllte so mindestens eine doppelte Funktion: zum einen der Diskreditierung der Proteste, zum anderen der Negation der Gewaltsamkeit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Von wem die Gewalt ausging stand so von vornherein fest: Die polizeiliche Gewalt – ebenso auch die Gewalt des Militärs, der Knäste, der Asylant_innenheime, der Psychiatrien und anderer Ausschlussanstalten – erscheint als Mittel zur Durchsetzung der Freiheit und Gleichheit garantierenden Rechtsordnung derart alternativlos, dass sie nicht mehr als Gewaltapparat thematisiert wird. So scheint’s als ginge die Gewalt immer bloß von politisch motivierten Delinquenten, von gewaltbereiten Demonstranten, aus.
Nun lässt sich mit Recht über die Sinnhaftigkeit der sogenannten ‚militanten Aktionen’ diskutieren, die dem 31. März (und in der Folge den Blockupy-Aktionstagen) ihren Stempel aufdrückten, und bezweifeln, dass hier politisch-strategische Reflexionen das Handeln leiteten. Für die radikale Linke geht die ‚Gewaltfrage’ jedoch weit über diese leicht zu kritisierenden konkreten Aktionen hinaus. Sie machte es sich zu leicht, wenn sie die Gewaltfrage mit dem Verweis auf den ideologischen Kampf für erledigt hielte, mag die in den letzten Monaten öffentlich zur Schau gestellte Bräsigkeit der Stadtoberen auch dazu verleiten. Werden Herrschaftsordnungen stets mit Gewalt gestützt, wird auch ihre Überwindung der Gewalt bedürfen, die jedoch stets droht, die emanzipatorischen Ziele zu korrumpieren und in eine neue Form der Herrschaft umzuschlagen – dies ist die „List der Gewalt“ (Claussen 1982), mit der sich jede revolutionäre Bewegung auseinander zu setzen hat. Sie ist wesentlich für die Aporie der Emanzipation, die sich aus dem Umstand ergibt, „Freiheit auf dem uralten Boden der Herrschaft errichten zu müssen“ (Wallat 2012: 65), „mit vorgeschichtlichen Mitteln den Sprung ins Reich der Freiheit zu versuchen“ (Claussen 1982: 21). Im Folgenden sollen lediglich im Sinne eines Reflexionsanstoßes – zitatwütig – einige Facetten der Gewaltfrage angesprochen werden.


II.

„Das geilste ist / ich bin mit Recht / so gewalttätig / wie ihr es seid / kann ich gar nicht sein“
(...but alive)

Die Berichterstattung während und nach den Blockupy-Aktionstagen, sei’s diesseits sei’s jenseits der Aktivisten, war sich einig: in Frankfurt herrschte der Ausnahmezustand. Es findet sich damit eigentlich offen ausgesprochen, worauf die bürgerliche Gesellschaft und ihre scheinbar gewaltfreie Herrschaft des Rechts beruht: Der Ausnahmezustand meint „die souveräne Suspendierung des Rechts auf Basis des Rechts“ (Wallat 2012a: 153). Die Herrschaft des Gesetzes wird ersetzt durch die Herrschaft der (polizeilichen) Maßnahme. Am Ausnahmezustand offenbart sich, dass die scheinbar legitime bürgerliche Herrschaft von Freiheit und Gleichheit im Recht auf einer grundlosen, nicht-begründeten und nicht-begründbaren unmittelbaren Gewalt basiert. Am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft steht kein irgendwie gearteter gemeinschaftlicher Vertragsschluss oder Konsens, wie die bürgerlichen Philosophen von Hobbes bis Habermas es sich wünschen, sondern die Gewalt der Enteignung, der ursprünglichen Akkumulation. Diese unmittelbare Gewalt bleibt der vermittelten bürgerlichen Herrschaft inhärent, verschwindet jedoch im Schein der Zirkulation. Nur noch im Ausnahmezustand, der legalen (totalen oder partiellen) Suspension des Rechts, wird sie offensichtlich. Er verweist darauf, dass das Recht nicht in einem geschlossenen Legitimationskreislauf prozessiert, sondern gesetzt wurde und wird von ihm äußerlichen Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen, in deren Macht es liegt die Geltung des Rechts auszusetzen, um sie wieder herzustellen. „Die Gewalt des Staates ist auch in ihrer demokratisch-rechtlichen Form am Anfang und am Ende notwendig willkürlich und nicht wieder rechtlich einzuhegen oder zu begründen.“ (Wallat 2012a: 140) Aber: „Im Verlauf der Geschichte versuchen die Eroberer vermittels der von ihnen selbst erlassenen Gesetze, ihrem ursprünglich der Gewalt entstammenden Besitzrecht eine gewisse gesellschaftliche Bestätigung zu geben. Zum Schluß kommt der Philosoph und erklärt, diese Gesetze besäßen die allgemeine Zustimmung der Gesellschaft.“ (MEW 18: 59).
Nach altbekannter Einsicht gilt als Souverän, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Schaut man sich den Apparat der Polizei an, bekommt der Staat bzw. die Regierung unversehens Konkurrenz, denn letztlich ist sie es, die zwischen der „Allgemeinheit des Gesetzes und der Singularität der vorgefundenen Situation“ (Loick 2010: 164) vermittelt und sich dadurch von einem bloßen Mittel zur Durchsetzung des Rechts ‚emanzipiert’. Als exekutiver Gewaltapparat übernimmt sie in der Singularität der Situation auch legislative (rechtssetzende) und judikative (rechtinterpretierende) Funktion. „Wenn der Souverän [...] den Ort bezeichnet, an dem kein Unterschied mehr zwischen Gewalt und Recht besteht, dann bewegt sich die Polizei sozusagen immer in einem solchen ‚Ausnahmezustand’. Die Erfordernisse von öffentlicher Ordnung und Sicherheit [mit denen auch die Verbote der Blockupy-Aktionstage begründet wurden; Anm. des Autors], über die sie in jedem Einzelfall neu entscheiden muss, bilden eine Zone der Unterschiedslosigkeit zwischen Gewalt und Recht“ (Agamben; zit. n. ebd.: 165).
Es liegt somit in der Konsequenz der Herrschaftsverhältnisse, dass in Reaktion auf die Krisenproteste ein politisches Klima erzeugt wurde, in dem Gewalt ausschließlich der Seite der Demonstrant_innen zugeschrieben wurde. Die Gewalt der bürgerlichen Ordnung selbst drohte offensichtlich zu werden, doch einzusehen und zuzugestehen, dass auf dem Grund der bürgerlichen Ordnung grundlose Gewalt herrscht, die wiederum Gewalt provoziert, ist nicht die Sache funktionstüchtiger Stadtregenten.


III.

„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt“.
(MEW 1: 385)

Die zunächst logisch klingende Aussage, dass der Sturz einer gewaltgestützten Herrschaftsordnung selbst der Gewalt – und zwar einer sozialrevolutionären – bedarf, muss zunächst eingeschränkt werden, denn „wo [sozialrevolutionäre] Gewalt der [herrschaftssichernden] Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen.“ (Arendt: 1998: 49) Nur wenn die Staatsgewalt sich aufzulösen beginnt – und dies lässt sich nicht durch Gewalt erreichen – und die Waffen die Hände wechseln, um möglichst bald niedergelegt zu werden, wird eine Emanzipation denkbar, die nicht unmittelbar in neue Herrschaft umschlägt. „Entweder die Menschheit verzichtet auf das Gleich um Gleich der Gewalt, oder die vermeintlich radikale politische Praxis erneuert das alte Entsetzen.“ (Adorno1969: 179)
Hiermit scheint bereits die entscheidende Differenz zwischen der herrschaftssichernden, reaktionären Gewalt und der emanzipatorischen, sozialrevolutionären Gewalt auf (vgl. auch Claussen 1982: 15f.): Die legale Gewalt, ist die Gewalt, die sich selber will, weil sie schützt, was sie notwendig macht: die bestehende Herrschaftsordnung. Die emanzipatorische Gewalt ist die Gewalt, die sich selbst negieren muss, weil sie zerstören will, was sie notwendig macht. Weil sie zerstört, um sich zu negieren, darf sie niemals zum bloßen Mittel verniedlicht werden. Das „Um-zu“ verweist auf ihren Zweck, den zu korrumpieren sie stets auf dem Sprung steht. „Mittel und Zweck müssen [...] in der kommunistischen Emanzipation vermittelt sein. [...] Der Sieg über die herrschende Ordnung kann nie militärischer Natur sein, sondern nur Resultat eines Kampfes, der selbst schon die Veränderung der Umstände wie der Menschen bedingt. Die Überlegenheit der kommunistischen Revolution kann in letzter Instanz nur eine moralische sein, wie ihre Gewalt eine sich selbst abschaffende noch im Angriff sein muss.“ (Wallat 2012: 51) Als Mittel dafür, unter Bedingungen der Unfreiheit, die objektiv und subjektiv herrschen, der Freiheit zum Durchbruch zu verhelfen, muss an sie der Maßstab einer emanzipatorischen Moral gelegt werden, auch wenn klar ist, dass sie notwendiges Mittel bleibt angesichts einer Wirklichkeit, die eben nicht moralisch konstituiert ist – dieser Widerspruch zwischen realistischer ‚Einsicht in die Notwendigkeit’ von Gewalt[1] und dem utopisch-emanzipatorischen Bewusstsein ihrer Verabscheuungswürdigkeit und List muss praktisch ausgetragen werden; die Aporie der Emanzipation lässt sich nicht theoretisch lösen. Sie sich bewusst zu halten scheint jedoch unabdingbar für je konkrete Praxisdiskussionen.

IV.
Die Gewaltfrage stellt sich einer sozialrevolutionären Bewegung somit nicht als prinzipielle, sondern als historisch-konkrete. Heutzutage herrscht hierzulande immer noch traute Harmonie. Von einer revolutionären Situation ist nichts zu spüren. Mögen die oben auch nicht mehr können, die unten tun alles andere als zu bekunden, dass sie nicht mehr wollen.  So drängen sich einige Fragen auf: Kann es eine sozialrevolutionäre Gewalt in nicht-revolutionären Zeiten geben? Kann Gewalt ein Mittel zur Herbeiführung einer revolutionären Situation sein? Kann sie einer sozialrevolutionären Bewegung überhaupt – jenseits ihres Verteidigungscharakters[2]  – zuträglich sein? Diese und viele weitere Fragen wären zu diskutieren.


V.
Sozialrevolutionäre Bewegungen, die den Bruch mit der Geschichte von Herrschaft und Gewalt wollen, sollten sich, was immer sie auch tun und wie immer die nicht selbst gewählten Bedingungen von radikaler Veränderung sich entwickeln, dessen gewiss sein – Gewalt herrscht.

campusantifa frankfurt 09/12


[1] Auf Gewaltlosigkeit predigende Sozialdemokraten reagierte entsprechend auch Engels kopfschüttelnd:: „Auf die Gewalt zu schimpfen als etwas Verwerfliches an sich, wo wir doch wissen, dass schließlich ohne Gewalt nichts durchzusetzen ist.“ (MEW 33: 617)

[2] Emanzipatorische Gewalt besitzt nach Isaak Steinberg einen „Verteidigungscharakter“: sie zielt „nicht auf Rache oder Vernichtung, sondern auf die Verteidigung der Freiheit“ (Wallat 2012: 216). Diese Verteidigung der Freiheit könnte auch so interpretiert werden, dass sie etwa die Verteidigung der bürgerlichen Freiheit vor ihrer reaktionär-autoritären bis faschistischen Auflösung oder die Verteidigung eines besetzten Hauses einschließt.


Literatur:

Adorno, Theodor W. (1969): Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Ders.: Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt a.M.

Arendt, Hannah (1998): Macht und Gewalt, München.

Claussen, Detlev (1982): List der Gewalt. Soziale Revolutionen und ihre Theorie, Frankfurt a.M./New York.

Loick, Daniel (2010): But who protects us from you? Zur kritischen Theorie der Polizei, in: jour fixe initiative berlin: Souveränitäten. Von Staatsmenschen & Staatsmaschinen, Münster.

MEW = Marx-Engels-Werke, Berlin.

Wallat, Hendrik (2012): Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik,  Münster.

Wallat, Hendrik (2012a): Die Herrschaft des Gesetzes und ihre Suspension. Ein Beitrag zur politischen Philosophie des Rechts(staats), in: Elbe, Ingo/Ellmers, Sven/Eufinger, Jan (Hg.): Anonyme Herrschaft. Zur Struktur moderner Machtverhältnisse, Münster.