Interview zum kommenden Sarrazin Auftritt in Aachen

Sarrazin Halt's Maul!

Am kommenden Mittwoch, dem 25. Mai, will Thilo Sarrazin in der Mayerschen Buchhandlung in Aachen auftreten. Anlass ist eine erneute Vorstellung seines Buches „Deutschland schafft sich ab“, was mittlerweile vielen ein Begriff sein sollte. Es wird mit hunderten Besucher*innen gerechnet.
Verschiedene lokale Gruppen rufen ab 19 Uhr direkt am Veranstaltungsort zu einer Kundgebung gegen Rassismus und Sozialchauvinismus auf. Auch der Antifa AK Köln mobilisiert zur Kundgebung.


Wir vom Alternativen Pressekollektiv (APK) haben mit Anna Müller, der Presseprecherin der linksradikalen Gruppe, gesprochen, um mehr über die geplanten Gegenaktivitäten und den aktuell grassierenden Rassismus und Sozialchauvinismus zu erfahren.

 

AKP: Hallo Anna. Erklär uns doch zunächst mal, warum ihr zu einer Buchvorstellung nach Aachen mobilisiert? Warum beteiligt ihr euch an den Protesten gegen Sarrazins Auftritt?


Anna: Letztendlich besteht die Haupttriebkraft der Motivation innerhalb einer simplen Tatsache – die gesellschaftliche Relevanz. Denn daran lässt sich nicht rütteln – Thilo Sarrazins genetisches-biologistisches Rassenwirrwarr und sein sozialchauvinistisches Elitenblabla machen die Runde. Ob Nachrichten, Feulleiton oder Stammtsich – sein Buch, welches sich angeblich auf „wissenschaftlichen Forschungen“ bezieht, löst in der ganzen BRD moralische und politische Diskussionen aus. Die Reaktionen lassen an Vielfalt nichts vermissen – von „Das kann man so doch nicht sagen“ bis „Sarrazin for president!“ ist quasi alles dabei. Nur selten hören wir aber eine vernünftige Reaktion auf Sarrazins sorgfältig ausgewählten Titel: „Deutschland schafft sich ab“. Diese muss nämlich lauten „Schön wärs!“ Aber dafür werden wir ja da sein. Und dieses ganze Spektakel bei uns um die Ecke – das werden wir uns doch nicht entgehen lassen!

 

AKP: Bei allem Respekt und aller Notwendigkeit an einer antirassistischen Intervention gegen Sarrazin; aber wird das Ganze um den „Tabubrecher No. 1“ nicht langsam ein alter Hut? Habt ihr auch eine Idee, einen innovativen Ansatz für Kritik auszupacken?


Anna: Da triffst du einen wunden Punkt. Dieser Einwand ist uns bewusst, weswegen wir uns noch einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt setzen: Die ganze Geschichte um das gescheiterte bzw. zeitlich weit hinausgeschobene Ausschlussverfahren Sarrazins aus der SPD – oder: Eine demonstrierte Unfähigkeit der Sozialdemokraten? Erweitern wir das Feld der Kritik. An dieser Tatsache des sog. „Kompromisspapiers“ der SPD – die nach Aussagen von Cheffe Gabriel Sarrazins Ausschluss um „mindestens ein Jahr“ verlängert, wenn nicht sogar erst mal auf Eis legt - wird klar, worin die Charakteristika der SPD liegen und wo der Integrationsdiskurs der BRD tatsächlich verweilt.

Es ist doch – das muss auch der zeitungslesende, staatstreue Bürger zugeben – auf dem ersten Blick tatsächlich verwunderlich, dass die „Genoss*innen“ es nicht auf die Reihe bekommen, Sarrazin aus dem Verein zu kicken. Selbst wenn die deutschen Sozialdemokrat*innen für Abspaltung, Verrat und Ermordung radikaler Revolutionäre sowie Kommunist*innen in die Annalen der historischen Widerlichkeiten ihren festen Platz haben und ihnen seitdem alles zuzutrauen ist – dass dieser Rassenhygiene-Freak („zunächst“) bleiben darf, ist schon allein im Hinblick auf die geliebte, selbstgesetzte Tradition der eigenen Wählerschaft nicht selbstverständlich. Doch befasst man sich genauer mit dem Zustand der SPD in den Jahren 2010/2011, wird einiges klar. Das wählerorientierte Auge der großen „Volkspartei“ musste feststellen, dass Sarrazins Einschlag nicht nur Stimmen kostet, sondern auch welche zieht.
Hier kommt wieder der gequirlte Trash in „Deutschland schafft sich ab“ ins Spiel. Inhaltlich beschränkt sich Sarrazin eben nicht auf einen starren, braun durchzogenden „Blut-und-Boden-Kult“ – sowas ist doch mittlerweile out. Der ehemalige Finanzsenator – das war in meiner ersten Antwort bereits angedeutet – mischt seine rassenhygienischen, pseudo-wissenschaftlichen Thesen um krude Interpretationen der Genbiologie mit einem für so manchen „kleinen Mann“ wohltuenden Rechtspopulismus und Kulturalismus. So seien es nicht etwa „die Türken“ oder „die Araber“ an sich, die etwas aufgrund ihrer Nationalität an Beschränkungen auf allen Ebenen leiden; es handle sich vielmehr um die „geistige und kulturelle Prägung“ dieser islamischen oder Islam-geprägten Länder, die ihren Einwohnern „ganz objektiv“ eine bescheidene Intelligenz einflößt. Die Konsequenz: Die viel zitierte „Integrationsunfähigkeit“.

Feuer – und Wähler*innen für die SPD? – bekommt das Ganze, wenn Sarrazin durch Berlin-Neukölln läuft und plötzlich merkt, dass er die Sprache gewisser Menschen nicht versteht! „Parallelgesellschaft“, schreit der Thilo und formuliert in „wissenschaftlicher Manier“ (das ist heute halt in) einige Sätze über die Selbstständigkeit von minority cultures in seiner geliebten BRD. Die nächste und finale Konsequenz: „Integrationsunwilligkeit“. Was für eine Frechheit dieser „Parasiten“!

 

AKP: Aber was ist denn mit der von Sarrazin losgetretenen Debatte um den Sozialchauvinsimus? Dieses Wort taucht bei euch im Bündnis-Aufruf auf. Was hat es denn damit auf sich?


Dazu wollte ich gerade kommen. Die Mischung aus Scheisse, die uns Sarrazin mit „Deutschland schafft sich ab“ vor die Füße schmeißt, beschränkt sich nicht auf Rassismus und Kulturalismus. Dazu kommt eben – wie du schon angedeutet hast – ein ordentlicher Schwung Sozialchauvinismus. Damit ist grob gesagt gemeint, dass Sarrazin bei seinem gesellschaftlichen Tritt nach unten nicht ausschließlich nach deutsch und nicht-deutsch sortiert. Denn laut ihm ist klar: Im Dienste der Nation gilt es die effizientere Selektion der Menschen voranzutreiben. Die BRD muss schließlich auf dem Weltmarkt die Stellung halten, so nach dem Motto „get rich or die tryin“. Diese effiziente Selektion betrifft im negativen Sinne eben auch die „faulen, dummen Deutschen“. In diesem Zuge werden so manche polnischen Fussballspieler in der der deutschen (!) Männernationalmannschaft bei der nationalen „WM-Sause“ von allen Seiten gefeiert und gehypet, während Hartz-IVler*innen – sogar die mit nachweisbar deutscher Herkunft! – systematisch und tagtäglich traktiert werden. Wir sehen also, worauf die „effiziente“ Selektion hinausläuft. Im Hauen und Stechen des kapitalistischen Normalvollzugs – einem traurigen Mix aus Konkurrenz, Verwertungszwang und Futterneid – gilt es, „Vater Staat“ etwas zu bieten. Der zeitgenössische Sprech um Integration – für uns das word of the year im ersten Halbjahr 2011 – impliziert einen gewissen Beitrag zum Arbeitsmarkt des Standortes. Andernfalls geht’s runter bzw. raus. Zugegeben: Heute droht in diesem Sinne der „Integrationsunwilligkeit“ kein Hungertod, dafür aber existentielle Probleme gepaart mit systematischen Abfucks in den altbekannten deutschen Behörden – oder auf der Straße. Mit dieser Brille scheint der Sozialstaat als staatliches Degradierungsbollwerk für die personellen und strukturellen „Randerscheinungen“ der Gesellschaft doch gar nicht so cool, wie ihn einige tradierte Positionen hypen.

Back to Thilo. Da kann man jetzt – nachdem erörtert wurde, was er scheisse findet – zusammenfassend fragen: Was will der Thilo denn überhaupt? Mit Migrant*innen kann er prinzipiell nicht gut, mit solchen ohne Studienabschluss schon mal gar nicht. Und den Pöbel findet er pauschal auch nicht wirklich notwendig für sein persönliches Phantasialand: Dem Clan der abendländischen Elite, die die Nation vorantreibt und auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig hält. Weil das Staat und Politik anders sehen, hebt er – so auch am 25. Mai 2011 – warnend den Finger und postuliert im Stile des Propheten: „Deutschland schafft sich ab“! Ganz ungestört wollen wir ihn dabei nicht lassen.

 

AKP: Das ist doch ein wunderbarer Übergang. Dann erzähl doch mal für alle, die jetzt heiß sind und sich den 25. Mai rot im Kalender eingetragen haben: Was ist denn bis jetzt konkret an Protest geplant?


Für den Tag sind mehrere Kundgebungen am und um den Schauplatz angemeldet. Unter dem Motto „Sarrazin halt’s Maul!“ mobilisert das Antifa-Bündnis aus der Region Köln/Aachen – zu welchem auch wir gehören – zu einer Protestkundgebung direkt am Ort des Geschehens. Um 19 Uhr beginnt unser kleiner Überraschungsbesuch. Eine angemeldete Kundgebung befindet sich direkt gegenüber der Mayerschen Buchhandlung in der Aachener Innenstadt dort gibt's Redebeiträge usw.
Wir wollen nicht nur symbolisch Bilder produzieren, sondern tatsächlich so gut es geht das Event stören. Dazu der Aufruf an alle: Seid kreativ und lasst euch was einfallen! Ein Promi dieses Kalibers wird man nicht oft begegnen. By the way: Thilos Veranstaltung wird nicht vor geschlossener Gesellschaft gehalten – es gibt also natürlich auch die Möglichkeit (allerdings gegen ein kleines Entgelt), als Besucher*in die Show hautnah mitzuerleben. Klingt eigentlich ganz praktisch…

 

Wir wollen diesen Event allerdings nicht nur im Rahmen des Köln/Aachener Bündnisses für eine Intervention nutzen. Zusätzlich betrachten wir Sarrazins Auftritt auch als einen unserer letzten Termine in unserer lokalen Frühjahrskampagne „Die Deutsche Normalität – Ein Potpourri aus Scheisse!“. Weiter wollen wir auch einen Link zum Jahresthema des kommunistischen …umsGanze!-Bündnisses – zu welchem wir auch zählen – schaffen. Unter dem Motto „Vielen Dank für die Blumen – Gegen Integration und Ausgrenzung“ ruft das Bündnis für 2011 zu Veranstaltungen und Aktionen gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und der Normalität der „Integrationsdebatte“ auf. Mit dem Auftakt der Proteste gegen die Innenministerkonferenz 2011 in Frankfurt startet die neue Kampagne. Denn diese Widerlichkeiten sind nicht bloß das Sprungbrett für Sarrazins Populariät, sondern die neuen Leitideologien dieser ganzen Crash-Gesellschaft und damit im größeren Zusammenhang zu betrachten. Sie fordern Anpassung und Ausgrenzung gleichermaßen, erhöhen den Druck auf alle und jedes Einzelnen auf sich selbst. Darauf können wir verzichten. Denn – um mit etwas Pathos zu schließen – uns geht es um nichts Geringeres als den Fall des Bestehenden und seine Ersetzung durch den Kommunismus.1

 

Vielen Dank für die Blumen!

 

 

1: Kommunismus
Aus Ermangelung einer Alternativer zur Benennung einer befreiten Gesellschaft, benutzen wir den Begriff Kommunismus. Die notwendige Orientierung auf die Utopie, als ein, in den kapitalistischen Verhältnissen nicht positiv bestimmbarer und nicht realisierbarer gesellschaftlicher Zustand, drückt sich in der Forderung "Für den Kommunismus" aus. Eine Forderung, die die Abschaffung der Verhältnisse in denen "der Mensch ein geknechtetes, verächtliches und entfremdetstes Wesen" (Karl M.) als minimalste inhaltliche Definition enthält. Dies umfasst eine Abgrenzung vom historischen, sowie aktuell noch bestehenden realexistierenden Sozialismus (aka "Kommunismus"). Materialimsus heißt in diesem Zusammenhang die Kritik und Negation der kapitalistischen Vergesellschaftung aus ihr selbst und ihren Widersprüchen heraus zu entwickeln. In diesem Sinne: Für den Kommunismus - Alles andere gabs schon!