Ein Job zum Davonlaufen

Erstveröffentlicht: 
29.04.2011

Früher waren die Fronten klar: links die Demonstranten, rechts Staatsgewalt und Bürgertum. Aber seit auch CDU-Wähler gegen Bahnhöfe und Atomkraft protestieren, haben die Polizisten nur noch Gegner. Und in zwei Tagen ist der 1. Mai.

Manchmal wirft sogar jemand Urinbeutel nach ihnen. Sie werden bespuckt. Geschubst. Getreten. Geschlagen. Beschimpft sowieso, als »Schwein« oder mit: »Hopp, hopp, hopp – Schweinchen im Galopp«. Olaf Heinze und Sven Kaiser kennen das alles, es gehört zu ihrem täglichen Geschäft. Sie sind Beamte der Berliner Bereitschaftspolizei.

Ihr Job ist es dazwischenzugehen, wenn sich Hooligans prügeln oder Hells Angels oder arabische Großfamilien. Sie selbst sagen, sie seien so etwas wie die Feuerwehr der Polizei, sie rücken an, wenn es den Streifenbeamten zu heiß wird. Ihre echten Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen, aus Angst um ihre Familien und sich selbst. Bei Demonstrationen stehen sie in der ersten Reihe, mit Schutzhelm und 18 Kilo Brust-, Schienbein- und Ellenbogenpanzer am Körper. Sie sehen dann ziemlich martialisch aus, eher wie Soldaten als wie Wachtmeister. Aber Olaf Heinze und Sven Kaiser sagen, es muss sein, schließlich würden sie reichlich mit »Steinen und Flaschen eingedeckt«.
 
Olaf Heinze hat es vergangenes Jahr im Juni so schwer erwischt, dass er sich in den Innendienst versetzen ließ: Auf einer Demonstration gegen die Sozialpolitik der Bundesregierung hatte es Rangeleien mit dem »relevanten Block« gegeben, wie Polizisten die Autonomen nennen. Sie waren gerade in die Torstraße eingebogen, irgendjemand hatte dort eine schwarz-rot-goldene Fahne an seinen Balkon gehängt. Die Demonstranten riefen: »Nie wieder Deutschland«. Dann explodierte ein Böller, und Olaf Heinze bekam den Auftrag, den relevanten Block nun »eng zu begleiten«. Die Autonomen schubsten und drängten, die Polizisten schubsten und drängten. So, wie es immer ist. Dann landete plötzlich ein rauchender, tennisballgroßer Gegenstand zwischen Olaf Heinzes Beinen. Piff, paff – und zwei Sekunden später machte es: buumm! Die Zeitungen schrieben damals tagelang von einem »Bombenanschlag« und einem »Comeback des linken Terrors«, aber es war wohl ein aufgemotzter Böller, der da explodierte.

Die Wunden an seinen Beinen hat Olaf Heinze mit der Handykamera dokumentiert: Risse, Verbrennungen und Splitter, die ins Fleisch geschossen sind. »Der eine saß acht Zentimeter tief«, sagt er und zeigt auf sein Handy. In dem American-Football-Trikot, das er trägt, wirkt der 48-jährige, drahtige Mann noch etwas fremd in seinem neuen Büro.

Sein Kollege Sven Kaiser, 42 und einen Kopf größer als Heinze, war beim letzten Castor-Einsatz dabei, als 50 000 Menschen im November im Wendland tagelang die Züge mit den Atommüllbehältern aufhielten. Kaisers erste Schicht dauerte 24 Stunden, die meiste Zeit in der Kälte am Gleis. Dann sollten sie schlafen, in einer Turnhalle mit hundert anderen. Vor der Tür landete alle paar Minuten ein Hubschrauber. Dann wieder raus in den Wald, 15 Stunden, ohne Toiletten. »Die Demonstranten haben uns beim Pullern gefilmt«, erzählt er.

Wer Sven Kaiser und Olaf Heinze eine Weile zuhört, möchte vor allem eins: kein Polizist sein. Und der Job wird immer gefährlicher, sagen Wissenschaftler des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Sie haben vor Kurzem eine Studie veröffentlicht, Ergebnis: 90 Prozent der bundesweit rund 21 000 befragten Polizisten wurden im Laufe eines Jahres mehrmals beleidigt oder bedroht, jeder zweite wurde gestoßen oder geschubst, jeder vierte geschlagen oder getreten. Besonders stark zugenommen haben die schweren Verletzungen, nach denen Polizeibeamte mindestens sieben Tage dienstunfähig waren – im Vergleich von 2005 bis 2009 um gut 60 Prozent. Viele Polizisten fühlen sich als »Prügelknaben der Nation«, so das Fazit der Forscher, und besonders bei Demonstrationen haben Polizeibeamte das Gefühl, ausbaden zu müssen, was die Politik versäumt hat.

Passend dazu hat im April der neue Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich eine Untersuchung zur Entwicklung politisch motivierter Kriminalität vorgelegt. Auch darin wird die Gewalt gegen Polizisten thematisiert: wurden 2009 rund 2200 Straftaten gezählt, bei denen Polizisten verletzt oder deren Autos oder Reviere demoliert worden sind, waren es 2010 fast 2900 – also ein Drittel mehr, was vor allem daran liegt, dass es vergangenes Jahr so viele große Demonstrationen gegeben hat.

Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wollte nach dem Castor-Einsatz sogar einen Bundesligaspieltag absagen, weil seine Kollegen ausgezehrt und überlastet seien. Im Kopf sind noch die Bilder von der Love Parade, als eine Handvoll Beamte Zehntausende Menschen davon abhalten sollten, in den Tunnel zu gehen. 21 Menschen starben, und bis heute wird gestritten, wie viel Schuld die Polizei daran trägt.

Dann war da natürlich noch Stuttgart: monatelang Demonstrationen, Wutbürger, Wasserwerfer, Verletzte. Für Andreas Feß hat sich der Job in einen Albtraum verwandelt. Er ist der Leiter des Stuttgarter Polizeireviers 2, in seinem Gebiet liegt der Bahnhof, über den so erbittert gestritten wird. Feß, 38, sitzt in seinem Büro mit Blick über die Stadt, Uniform, zwei Sterne auf der Schulter, er seufzt. »2010 war das schlimmste Jahr meines Berufslebens. Die Grenze des Erträglichen ist überschritten.«

Das größte Problem war für ihn und seine Leute, dass sie bei den Demonstrationen auf einmal die Menschen vor sich hatten, von denen sie eigentlich immer glaubten, sie seien auf Seiten der Polizei. Da stand kein autonomer Block, keine alternative Welt – da standen Akademiker, Lehrer, Ärzte, CDU-Wähler. »Man hatte plötzlich gut situiertes Bürgertum vor sich, von denen manche leider nicht wussten, wo die Grenzen des Protests verlaufen«, sagt Feß. »Und dann muss man so einen festnehmen, weil er nun mal gegen geltendes Recht verstößt.«

Das ist eine neue Dimension: Was tun, wenn gerade die, für die man die Drecksarbeit zu machen glaubt, konservative Bürger, sich gegen einen wenden? Nichts ist mehr, wie es war. Vergangenes Jahr setzte sich Wolfgang Thierse, immerhin der Vizepräsident des Bundestags, medienwirksam auf die Straße, um eine Nazi-Demo in Berlin zu verhindern. Der Mann hatte in der Sache natürlich völlig recht, aber die Polizisten brachte er in eine Zwickmühle: Die hatten den Auftrag, das verfassungsgemäße Recht zu demonstrieren durchzusetzen, auch wenn die Demonstranten von der NPD sind. Dazu gehörte es, dass die Polizisten einen der höchsten Repräsentanten des Systems, das sie schützen sollen, aus dem Weg schaffen mussten. Thierses Verhalten empört viele Beamte bis heute, denn er ließ die Polizei schlecht aussehen.

Feß sagt, er sei »frustriert, ganz klar«. Und dann schiebt er noch ein Beispiel aus dem Alltag hinterher: »Der Mangel an Respekt macht uns zu schaffen. Ich stehe in Uniform an der Fußgängerampel – und da gibt es Menschen, die bei Rot direkt an mir vorbei über die Straße laufen. Da fällt mir nichts mehr ein. Das wäre doch vor zehn, 15 Jahren undenkbar gewesen! Das kränkt mich.«

Respekt, bei dem Stichwort geht es im Grunde um zweierlei: Das eine ist der schwindende Respekt vor der Amtsperson. Das andere ist der schwindende Respekt vor dem Menschen, der da in der Uniform steckt. Die Frage ist: Wie fühlt sich einer, der in seinem Job von immer mehr Menschen mit nichts als Misstrauen und Arroganz behandelt wird?

Das kann einem Rafael Behr erklären. Behr war selbst Polizist, 15 Jahre lang, studierte dann Soziologie und promovierte über Männlichkeit und Handlungsmuster in der Polizeikultur. Heute lehrt er an der Polizeiakademie Niedersachsen und bildet Führungskräfte aus. Behr, 53, ein kräftiger Mann mit dröhnendem Bariton, sagt: »Gerade jüngere Polizisten sehen sich inzwischen immer mehr in der Defensive. Nur unter ihresgleichen fühlen sie sich wirklich sicher.« In Verbindung mit Wutbürgern eine ungute Mischung, da schaukelt sich was hoch: Die Beamten werden misstrauischer, die Bürger auch, beide Seiten stehen sich von Tag zu Tag abweisender gegenüber. Eine Spannung, die in manchen Großstadtvierteln schon Normalität ist. Da sehen Polizisten in jedem türkischen oder arabischen Jugendlichen einen potenziellen Drogendealer, und jeder Polizist wird nur noch als »Scheißbulle« beschimpft. »Besonders in sozialen Brennpunkten fühlen sich viele Beamte wie Underdogs«, sagt Behr. »Es ist kein Wunder, dass von jungen Polizisten oft Figuren wie Rambo als Vorbild genannt werden, einsame Kämpfer. Diese Sicht erleichtert das Selbstverständnis. Viele denken: Wir sind die Grenzhüter der Nation, wir bewachen die Grenze zwischen Arm und Reich. Das muss man erst mal aushalten.«

 

Seite 2: Polizisten sind eigentlich ständig überfordert


Polizisten sind eigentlich ständig überfordert. In der Ausbildung lernen sie, wie man zum Beispiel einen Armhebel richtig ansetzt. Wenn der Druck zu stark wird, sagt der Kollege stopp. Aber bei Fußballspielen oder auf der Reeperbahn nachts um halb eins werden sie mit einer völlig anderen Wirklichkeit konfrontiert. Da sind die meisten, die Ärger machen, so betrunken und hochgeputscht vom Adrenalin, dass sie nicht mehr spüren, wenn ihr Arm schon halb gebrochen ist. »Der junge Polizist erlebt dann zum ersten Mal, dass das, was er gelernt hat, leider nicht immer was bringt«, sagt Behr, »und das macht den Beruf riskant.«

Überfordert war die Stuttgarter Polizei auch am 30. September. Was damals passiert ist, wird den Revierleiter Feß bis an sein Lebensende verfolgen: Tausende von Demonstranten gegen Tausende von Polizisten, die Situation geriet außer Kontrolle, dann zielte ein Beamter mit dem Wasserwerfer zu hoch und verletzte einen älteren Demonstranten schwer an den Augen. So etwas darf nicht passieren. Aber im Eifer des Gefechts – wer würde an der Stelle des Einsatzleiters die nötigen Entscheidungen treffen wollen? Andreas Feß sagt: »Als ich von den Verletzungen gehört habe, hat mich das sehr getroffen. Andererseits fragt man sich: Was hättest du denn sonst machen sollen? Hinterher sind immer alle schlauer …«

Das Bild des blutenden Demonstranten ging durch Deutschland – keiner aus dem Schwarzen Block, kein Kämpfer, sondern ein pensionierter Ingenieur. Seitdem hat Feß keine ruhige Minute mehr. »Das geht bis hin zu persönlichen Angriffen im Internet, bei Twitter«, erzählt er. Die S21-Gegner kennen ihn. Seit beinah jeder eine Kamera in seinem Handy hat, werden Polizisten ständig gefilmt, auch Feß.

Aber auch Polizisten, die Straftaten begehen. Nach dem letzten 1. Mai in Berlin-Kreuzberg wurde zum Beispiel ein Video ins Internet gestellt, in dem ein junger Mann zu sehen ist, der auf dem Boden kniet. Im nächsten Moment rennt ein Polizist an ihm vorbei und tritt mit voller Wucht gegen seinen Kopf.

Marco Wüllner * hat diesen Film gesehen. Er ist Hundertschaftsführer bei der Bereitschaftspolizei Berlin und damit verantwortlich für die Gesundheit, aber auch die Verfehlungen seiner Truppe. In seinem Büro im Berliner Norden hängen Plakate vom G-8-Gipfel in Heiligendamm und den »Revolutionären 1. Mai Demos« an der Wand. Wüllner ist seit 1978 bei der BePo, der Bereitschaftspolizei. Wenn er heute nach einem Einsatz auf YouTube geht und die Videos anschaut, fühlt er sich als Polizist oft ungerecht behandelt: »In den Videos ist immer nur der Moment der Festnahme zu sehen, wenn der Kollege zulangt, aber nicht, was davor passiert ist«, sagt er. »Vielleicht müsste man da mit der Zeit gehen und selbst entsprechende Bilder einstellen.«

 

Marco Wüllner formuliert diesen Vorschlag vorsichtig, er kann das ohnehin nicht entscheiden, er ist ein Mann für draußen, kein Schreibtischtyp. Auch zum Gespräch hat er die petrolfarbene Schutzhose der BePo an. Nur: Festnahmen sind das eine – aber gezielte Tritte? »Die dürfen nicht passieren, sind aber Realität«, beginnt Marco Wüllner und klopft dabei mit den Fingern auf den Tisch. »Aber wenn Sie schon mal im Steinhagel stehen, dann bekommen Sie so ein merkwürdiges Gefühl. Ich vergleiche das manchmal mit der Bundesliga: Wenn ein Spieler dauernd gefoult wird, foult er irgendwann zurück.«

Zurückfoulen, Aggression als Reaktion, der Zwang zu handeln. Da argumentieren der Berliner Wüllner und der Stuttgarter Feß ganz ähnlich. Aber was beiden Polizisten nur schwer über die Lippen kommt: So ein Tritt ist eine Straftat. Punkt. Entschuldigungen gibt es nicht. Und auch Polizisten schlagen grundlos zu, jemand wie Michael Dandl ist sich da sicher. Dandl gehört zum Bundesvorstand der Roten Hilfe, einer linken Organisation, die Opfer von Polizeigewalt betreut und ihnen Anwälte besorgt. Er sagt, es gebe extrem viel Gewaltbereitschaft bei der Polizei. »Wir beobachten immer wieder, wie sich Polizisten am Rande von Demos gegenseitig abklatschen und untereinander angeben, was sie gerade für einen Treffer gelandet haben. Wie Sportler.«

In einem Bericht von Amnesty International aus dem vergangenen Jahr werden zahlreiche Fälle beschrieben, in denen Polizisten auf Demos friedliche Demonstranten verletzten. Eine junge Frau erlitt beispielsweise einen Rippenbruch, als ein Beamter mit dem Schlagstock auf sie einprügelte. Später, vor Gericht, wollten seine zwölf Kollegen nichts davon gesehen haben. »Klima der Straflosigkeit« nennen das die Autoren der Studie. Sie beklagen vor allem, dass es kaum statistisches Material zur Gewalt gibt, die von Polizisten ausgeht – im Unterschied zur Gewalt gegen Polizisten, die zum Beispiel in der Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen dokumentiert wird.

Amnesty International fordert auch, dass Bereitschaftspolizisten individuell gekennzeichnet werden. Bisher tragen sie auf ihrer Uniform nur eine vierstellige Nummer, die sie als Mitglied einer sogenannten Gruppe kenntlich macht. Doch Gruppen können bis zu zwölf Mann stark sein. Wie sollen ein Opfer oder ein Zeuge da einen möglichen Gewalttäter finden? In Berlin wurde die individuelle Kennzeichnung, eine fünfstellige Nummer, im Januar eingeführt, in den anderen Bundesländern noch nicht. Die Polizisten wehren sich dagegen. »Für viele Beamte ist das eine Bankrotterklärung«, sagt der Polizeiexperte Rafael Behr, »sie glauben, sie gehören zu den Guten. Aber gekennzeichnet zu werden, das bedeutet ja: kontrolliert zu werden.« Auf einmal sind sie die Bösen.

Marco Wüllner, der Hundertschaftsführer aus Berlin, sieht das anders. Er hat Angst um seine Kollegen. Als vor Kurzem einer seiner Männer einen Rocker der Hells Angels verhaften wollte, blaffte der ihn an: »Packst du mir in die Eier, schlag ich dich tot.« Der Rocker hatte auf seiner Kutte den gestickten Schriftzug »Filthy Few«, das heißt, er hat schon einmal einen Menschen getötet. »Ich kann verstehen, wenn ein Familienvater Angst bekommt, dass so einer rausfindet, wer er ist«, sagt Wüllner.

Es gibt Gründe, über die deutsche Polizei zu schimpfen: über Polizisten, die sich auf Demonstrationen aufführen wie schlechte Kopien aus Actionfilmen, die zuschlagen und Kollegen decken. Aber wenn es um Mord und Totschlag geht, um organisierte Kriminalität, um Hells Angels oder Russenmafia, dann ruft niemand mehr: »Haut ab!«. Dann ist der Bürger froh, dass es die Polizei gibt. Der CDU-Wähler genauso wie der Linke, der Arzt genauso wie der Punk. Es ist eine schizophrene Situation. Auch für die Beamten selbst.

Olaf Heinzes Frau ist froh, dass ihr Mann seit dem Bölleranschlag im Innendienst arbeitet. Und er? Na ja. Der Kollege, mit dem er jetzt das Zimmer teilt, hat sich einen Plüsch-Polizisten an die Schreibtischlampe gehängt – auf Heinzes Computer läuft als Bildschirmschoner eine Diashow aus seiner Vergangenheit: Pressefotos von brennenden Mülltonnen, glatzköpfigen Hooligans, dann ein Polizist, der einen Autonomen im Schwitzkasten hält. Auf einem Bild hat sich Heinze mit seiner Gruppe wie eine Fußballmannschaft aufgestellt. Es ist vom 1. Mai 2010, ein Kollege hat es gemacht. Die Polizisten lachen auf dem Foto. Eine schöne Erinnerung, ein Gemeinschaftserlebnis. Der Polizeiexperte Rafael Behr meint, für viele Beamte seien solche Einsätze wie ein Räuber-und-Gendarm-Spiel, ein Kräftemessen. Die Polizisten brauchen die Autonomen genauso wie die Autonomen die Polizisten: zur Selbstvergewisserung.

Olaf Heinze sagt, er werde dieses Jahr zum ersten Mal nicht in Kreuzberg dabei sein. Nächstes Jahr vielleicht wieder. »Und wie ich mich kenne, bin ich so verrückt und stehe in der ersten Reihe wie früher.«

Sein Kollege Sven Kaiser zeigt zum Ende des Gesprächs ein paar bedruckte DIN-A4-Seiten, er hat sie aus dem Internet, sie gehören zum sogenannten Polizeibericht Berlin, den autonome Gruppen zusammengestellt haben. Darauf sind Bilder von umgestürzten Polizeiautos zu sehen. Daneben steht: »Ein Mannschaftswagen ist dank der Möglichkeit des Aufschaukelns (...) nicht wesentlich schwerer umzukippen als ein leichterer Pkw.« An anderer Stelle wird beschrieben, welche Körperteile eines Polizeibeamten trotz Brustpanzer und Schienbeinschoner nicht geschützt sind. »Das gibt es doch gar nicht«, sagt Kaiser, »die bereiten sich darauf vor, wie sie uns am besten verletzen können!« In dem Bericht wird von der Organisationsstruktur der Polizei bis zur Reichweite des neuen Wasserwerfers WaWe 10 (65 Meter) kein Detail ausgelassen, auf 109 Seiten. Olaf Heinze kann es nicht fassen: »Dieser Bericht ist besser als das Material, das unsere Dienstanfänger bekommen!«

Nein, man möchte kein Polizist sein. Selbst jemand wie Michael Dandl von der Roten Hilfe, ein Mann, der die Polizei nicht mal ruft, wenn bei ihm eingebrochen wird, findet am Ende Worte, die so etwas wie Mitgefühl ausdrücken: »Polizisten sind oft überfordert, sie sind frustriert, sie werden nicht sonderlich gut bezahlt. Sie müssen an Tagen, an denen alle anderen ihre Freizeit genießen, Schicht schieben, sie sind oft kaserniert, sie unterliegen einem komischen Korpsgeist, es gibt krasse Hierarchisierung, es werden Befehle erteilt. Das ist ein ganz erheblicher Psychodruck.«

In zwei Tagen ist der 1. Mai.

 

* Name von der Redaktion geändert