Meinung
Der Protest gegen Stuttgart 21 trägt demagogische Züge
Neues beunruhigt, weil es neu ist. Diesem Problem muss sich auch der geplante Bahnhof in Stuttgart stellen – zu Unrecht.
Von Thomas Schmid
Geschichte ist keine dialogische Veranstaltung, auch nicht in demokratischen Gesellschaften. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Gesetz der ständigen Veränderung, das in der Neuzeit über allem schwebt, längst nicht jedem schmeckt. Und das aus gutem Grund. Neuerungen verdrängen vertrautes Altes und erzwingen eine oft anstrengende Arbeit der Neuorientierung. So sehr der Fortschritt, ist er einmal etabliert, geschätzt wird - so sehr wird er misstrauisch beäugt, wenn er als Traditionsverzehrer im Anmarsch ist.
Der Protest ist reine Demagogie
Man darf sich daher nicht wundern, dass Stuttgart21 auf den letzten Metern vor dem Baubeginn zum Skandal- und Mobilisierungsthema geworden ist. Obgleich die Chuzpe, mit der im Stuttgarter Kessel ein basisdemokratisches Ur-Thing mit anschwellender Lautstärke in Szene gesetzt werden soll, schon erstaunt. Ärgerlich ist vor allem der Versuch, die Entscheidung für Stuttgart21, also für die Verlegung des Stuttgarter Bahnhofs unter die Erde und den Ausbau der Zugtrasse nach Ulm, zu einem staatsstreichartigen Unternehmen zu erklären, das an den Bürgern und ihren Institutionen vorbei geplant und durchgesetzt worden sei. Das ist reine Demagogie.
Steiler Blick auf Stuttgart
Volksaufstand mit undemokratischen Zügen
Fast zwei Jahrzehnte lang ist das Projekt geplant worden, und es hat alle institutionellen Hürden genommen, die Mehrheit dafür war sehr breit. Wer es zu einer Nacht-und-Nebel-Aktion erklärt, der lügt. Und er schadet dem Gemeinwesen: Wer - wider besseres Wissen - ordnungsgemäße Verfahren zu illegalen Kommandounternehmen erklärt, greift das hohe Gut der Verfahrenssicherheit an. Mancher, etwa bei den baden-württembergischen Grünen, scheint das inzwischen auch zu ahnen. Denn das Aufbegehren gegen Stuttgart21 nimmt in der Fantasie einiger Organisatoren den Charakter eines Volksaufstandes an, der durchaus undemokratische Züge trägt.
Fortschritt erzeugt immer Gegendruck
Nachher ist man zwar immer schlauer - aber genau besehen hätten die Planer eigentlich ahnen können, dass ihnen irgendwann öffentlichkeitswirksam Steine in den Weg gelegt würden. Und hier, in dieser ebenfalls wenig verantwortlichen Sorglosigkeit, liegt das zweite und vielleicht größere Problem. Es begann mit der Einführung der ersten Maschinen und der Eisenbahn und endete mit dem Widerstand gegen das damals geplante Kernkraftwerk bei Wyhl nicht - Fortschritt erzeugt den Gegendruck derer, die sich, zu Recht oder nicht, von ihm in ihrer Existenz, ihrer herkömmlichen Lebensweise oder ihrer Gesundheit gefährdet sehen. Fortschritt ist daher, so kann man im Rückblick auf eine lange Konfliktgeschichte sagen, stets rechtfertigungspflichtig.So abstrus im Nachhinein die Haltung derer wirkt, die das von schwerer Handarbeit entlastende und wohlstandsfördernde Potenzial der Maschinen nicht sahen, so abenteuerlich uns heute die Argumente jener vorkommen, welche die Einführung des beschleunigenden Beförderungsmittels Eisenbahn ablehnten - mit solchen Ängsten und Abwehrhaltungen muss immer gerechnet werden. Denn es ist eine Tatsache, dass Neues oft schon deswegen beunruhigt, weil es neu ist. Einmal mehr aber hat sich an Stuttgart21 erwiesen, dass diese schlichte Einsicht noch längst nicht in die DNA derer eingegangen ist, die Großes planen.
Parallele zur Atomenergie
Unvergessen bleibt die beklagens-, ja fast bemitleidenswerte Unfähigkeit, die vor Jahrzehnten die Verfechter der Atomenergie an den Tag legten. Bei allen öffentlichen Auftritten gingen sie sang- und klanglos unter, es gelang ihnen nie, ihre - gut begründeten - Argumente überzeugend vorzutragen. Das lag vor allem daran, dass sie die Tiefe der Ängste, die ihnen entgegenschlugen, und das zivilisationskritische Timbre der Atomkraftgegner schlicht nicht verstanden. Während diese publikumswirksam den hohen Menschheitston der Sorge um Zukunft, Natur und die Hybris des Menschen anschlugen, argumentierten die Befürworter der Atomenergie und die Betreiber von Atommeilern fast ausschließlich technisch und wirtschaftlich. Es war ein Kampf der Theologen gegen die Handwerker. So praktisch die Deutschen sonst auch veranlagt sind, in diesem Streit gewinnen immer die Theologen.
Bei Stuttgart21 fehlt es an Überzeugungsarbeit
Daraus wären Konsequenzen zu ziehen. So zauberhaft Kirchturmspolitik sein kann, und so gut es ist, dass Deutschland ein Tummelplatz von Föderaleigensinnigen ist - es braucht auch weiter die Fähigkeit, größere Projekte in Angriff zu nehmen. Und dafür muss man werben, davon muss man überzeugen, und zwar nicht nur die leicht entflammbaren Planer, sondern auch den zögerlichen Souverän. Man kann ihm den Fortschritt nicht, wie geschehen, unterjubeln. Man muss ihn überzeugen und dabei auch bereit sein, öffentliche Widerstände zu überwinden. Daran hat es bei Stuttgart21 gefehlt.