Der Arzt Joachim Bauer gibt als Gutachter im NSU-Prozess ein Bild der Inkompetenz ab. Er selbst ist aber überzeugt: Ihm sei es gelungen, die Angeklagte Zschäpe zu „knacken“ – und sie aus ihren „Absencen“ herauszuholen.
Ob der Freiburger Universitätsprofessor Joachim Bauer damit gerechnet hat, dass seine Intervention im Münchner NSU-Prozess auf so wenig Zustimmung stoßen würde? Er erntete fast einhellig Ablehnung, vehemente Kritik, ja sogar Hohn, Spott und Gelächter für die Thesen seines Gutachtens, das Beate Zschäpe entlasten sollte.
Ob der „Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut“, so seine Signatur, darauf vorbereitet war, dass ihn ausgerechnet die sonst so zurückhaltende Vertreterin der Anklage, Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof Anette Greger, mit erhobener Stimme anfahren würde? „Ich fürchte, so läuft die Gutachtenerstattung in einem Strafprozess nicht ab, Herr Professor!“, sagte Greger. Vermutlich hat ihn das überrascht.
All das war für Bauer wohl höchst befremdlich, hatte er doch – nach seiner Auffassung erfolgreich – den Versuch unternommen, Zschäpe „zu knacken“ und ihr Wissen zu entlocken, das anderen bisher „verborgen geblieben“ sei. Siebenmal hatte er jeweils zwei Stunden mit ihr auf Initiative ihrer Vertrauensanwälte Mathias Grasel und Hermann Borchert gesprochen.
Und dadurch, nach seinen Worten, eine ganze Menge herausbekommen, was dem vom Gericht beauftragten forensischen Psychiater Henning Saß nicht gelungen sei. Denn mit dem zu sprechen, hatte Zschäpe sich geweigert. „Erst jetzt ist die jahrelange lähmende Scham aufgebrochen. Ich habe sie herausgeholt aus den Absencen!“, sagte Bauer vor Gericht.
Fairerweise muss hinzugefügt werden, dass Bauer zwar dreifacher Facharzt ist (Innere Medizin, Psychiatrie, Psychosomatische Medizin), aber kein ausgewiesener forensischer Fachmann, also einer, dessen Aufgabe es ist, Angeklagte auf ihre Schuldfähigkeit hin zu untersuchen und dem Gericht Entscheidungshilfe zu leisten bei der Frage, ob Sicherungsverwahrung nach Verbüßung der Strafe oder die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung anzuraten seien.
Bei der Prüfung der Schuldfähigkeit geht es zunächst um die Einschätzung der Einsichtsfähigkeit des jeweiligen Angeklagten – also darum, ob diesem bei der Begehung der Straftat klar war, dass er sich damit strafbar macht. Anschließend hat der Forensiker die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zu beurteilen: ob dieser bei der Tat vollständig oder vielleicht nur eingeschränkt Herr seiner Sinne war, weil er zum Beispiel unter einer schweren psychischen Erkrankung litt, und ob er sich nicht auch anders, nämlich gesetzeskonform, hätte verhalten können. Das ist also etwas anderes, als seelisch Kranke zu behandeln.
Diese sachlich-nüchterne, genau umschriebene Rolle dem Angeklagten gegenüber, wie sie einem Gerichtsgutachter abverlangt wird, ist Bauer offenbar, möglicherweise mangels Übung, fremd. Er war jedenfalls der falsche Mann auf dem Gutachterstuhl, als er am 3. Mai vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München seine Expertise zum Fall Zschäpe vortrug.
Schon da fiel negativ auf, dass er sich aus der Flut des Beweismaterials, das sich in den vier Jahren Prozessdauer angestaut hat, nur jene wenigen Zeugenaussagen herauspickte, die der Anklage widersprachen. Aussagen von Zeugen, die die Hauptangeklagte, der unter anderem Mittäterschaft bei zehn Morden, zahlreichen Raubüberfällen und Totschlagversuchen vorgeworfen wird, dominant, selbstbewusst und eigenständig erlebt hatten, ignorierte er oder tat sie einfach ab. Sie passten nicht in sein Konzept.
Behauptungen, die offenbar seiner Fantasie entsprangen
Stattdessen zeichnete er Zschäpe als eine hilflose Person, die unter einer schweren dependenten Persönlichkeitsstörung gelitten habe (oder noch leide?). In der Befragung durch den Senat und vor allem durch die Vertreter des Generalbundesanwalts zeigte sich Bauers Inkompetenz auf einem Gebiet, für das er nicht ausgewiesen ist, in vollem Umfang. Viele Fragen, die er als Gutachter an Zschäpe hätte stellen müssen, hat er nicht gestellt.
Er verstieg sich zu Behauptungen, die offenbar allein seiner Fantasie entsprungen waren. Etwa, dass Zschäpe ihren Gefährten „sicher“ ins Ausland gefolgt wäre, wenn diese so etwas gewollt hätten. Danach gefragt habe er Zschäpe jedoch nicht, gab er zu. In den vier Jahren Hauptverhandlung hingegen kam heraus, dass sich die Angeklagte vehement geweigert hatte, auf der Flucht vor der Polizei ins Ausland zu gehen – und Böhnhardt und Mundlos ihre bereits konkreten Pläne auf Zschäpes Wunsch hin aufgegeben hatten.
Hat Bauer sich mit dem Verhalten der Angeklagten in der Hauptverhandlung auseinandergesetzt, als diese energisch auf die Entlassung ihrer ersten drei Verteidiger drang und neue Anwälte begehrte in einer Weise, die so gar nicht zum Bild einer abhängigen, unsicheren Person passen? Nein, hat er nicht. Kennt er die Mindeststandards, die für die psychiatrische Begutachtung im Strafprozess gelten? Nach seinen Worten eher nicht.
Es gibt eine lange Liste von Punkten, bei denen Bauer zu Schlussfolgerungen kam, die durch die Beweisaufnahme nicht gedeckt sind. Deren Ergebnisse kennt er nicht oder er ignoriert sie. Stattdessen gab er bereitwillig Auskunft über seine eigenen Gefühle während der „Exploration“.
Gewiss, Zschäpe durchlebte als ungewolltes, ungeliebtes und herumgeschobenes Kind eine unerfreuliche Kindheit und Jugend. Sie geriet in falsche Kreise, klammerte sich an die falschen Männer. Es mag auch sein, dass ihrer Persönlichkeit dependente Züge innewohnen. Ob diese aber von solchem Gewicht sind, dass sie zu einer verminderten Schuldfähigkeit führen, ist mehr als fraglich.
Angesichts des in den Medien geäußerten Kopfschüttelns über seinen Auftritt versucht sich Bauer nun an einer öffentlichen Rechtfertigung. In einer Mail an die WELT – an die er sein Gutachten über Zschäpe anhing – schrieb er am 22. Mai:
„Da ich das Gutachten am 3. Mai in öffentlicher Sitzung vor dem Senat vorgetragen habe, darf ich es Ihnen attachieren, es ist ein Stück Literatur darüber wie man in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung Rechtsextremisten heranwachsen ließ (wenn es Sie nicht interessiert: einfach löschen).
Das Stereotyp, dass Frau Zschäpe das nackte Böse in einem weiblichem Körper ist, darf nicht beschädigt werden. Eine Hexenverbrennung soll ja schließlich Spaß machen. Daher wird jeder, das Stereotyp in Frage stellt, von Süddeutscher Zeitung und Spiegel angegriffen und weggeschossen.“
Eine „Hexenverbrennung“ vor einem deutschen Gericht? Vor dem Senat, den ein penibler Richter wie Manfred Götzl leitet? Die Auftraggeber Grasel und Borchert haben ihrer Mandantin und sich selbst mit einem Gutachter wie Bauer jedenfalls keinen Dienst erwiesen. Und dieser sich auch nicht.