Objektenteilung. Warum die Berliner Staatsverfassung menschenunwürdig ist.

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Die Situation ist zu banal um sie mit literarischen Stilmitteln zu beschönigen. Denn das Problem an der Inkompetenz ist dass sie bei sich selbst beginnt – wer nicht dazu fähig ist seine eigene Inkompetenz wahrzuhaben, wie sollte der etwas daran ändern? Oder mit anderen Worten: Sie wird überall vermutet, nur nicht in der jeweiligen Eigenmacht. Und das sieht im Land der toten Götter dann auf Alltagssituationsniveau heruntergebrochen so aus: Ein Mensch sitzt auf einer Parkbank um eine Mittagspause einzunehmen als ein Hundespaziergänger vorbeikommt. Das (neu-)gierige Tier verharrt, drängt, provoziert schließlich, während mensch eindringlich auf das Herrchen blickt und abwartend das frisch eingeschenkte Heißgetränk zum spontanen Überschwappen bereithält. Endlich begreift Herrchen dass es selbst gefordert ist, und spricht zu seinem Tierchen, dass es wie ein Peitschenhieb klingt: „Pfui!“ Dieses ist jetzt völlig irritiert, denn es bringt die Situation durcheinander, doch es spürt auch die Wut im Anflug, und mensch erteilt ihm das gleich einem Auktionshammer aufschlagende „Ab!“-Kommando wie einen Transportauftrag sobald sich seine Aufmerksamkeit von selbst wieder auf sein Herrchen orientiert. – Fehler erkannt? Richtig: Dieser Hundehalter verwendet für Ekeltabu und Gattungsrespekt denselben Befehl, das so erzogene Haustier wird sich in beiden Situationen immer ein Stück weit so verhalten wie in der jeweils anderen, mit anderen Worten, völlig absurd. Doch wer mag schon in der Mittagspause ungewürdigt Unterricht erteilen?

Die Tiergeschichte drückt gleichnishaft aus an welcherart Dilemma die Berliner Staatsverfassung krankt: Die Halter sind der Souverän, die Hunde die Staatsgewalt, die Verfassung ist die rhetorische Leine womit dieser jene seinen Worten unterordnet. Die Parkbank schließlich kann durch jede beliebige Lebenssituation ersetzt werden, der das Gespann aus Staatsgewalt und Volkssouveränität – oder umgekehrt, wer darin wen spazieren führt ist aus der Verfassung nicht ersichtlich – begegnen mag. So auch eine solche in der der Mensch denkt, Verfassung das ist nicht mein Problem sondern das derjenigen die eine Staatsgewalt ausführen wollen und wenn sie es nicht richtig hinbekommen dann sollten sie es besser lassen. Ein aus dieser Perspektive sehr viel näherliegendes Beispiel um den Kern der Problematik zu veranschaulichen ist eine Kindergruppe die eine Geschichte schreiben soll, der aber nichts einfällt, also behilft sich der Erzieher: Kinder, denkt Euch ein Wort aus das es in der Alltagssprache gar nicht gibt und bastelt Euch Eure Geschichte um dieses Kunst-Wort herum. Je nachdem welcherlei Vorstellungen in der Gruppe damit verbunden werden entwickeln sich unterschiedliche Erzählstränge, was diese letztendlich durchdringt ist vom Assoziationskontext vorgezeichnet.

Eine solche Langeweile-Geschichte ist die Berliner Staatsverfassung, und sie wird von dem Un-Wort welches sich die Einfallslosen zusammengeklebt haben sozusagen eröffnet: „Unantastbar.“ Das kennt die Landessprache nicht, das ist eine total achtlose Formulierung irgendwo zwischen „unberührbar“ und „unverletzlich“, das ist wertfrei und damit wertlos, wenigstens für die Lernfähigkeit der Gewaltenteilung. Mehr noch, es ist noch nicht einmal eine phantasievolle Wortschöpfung, sondern gibt lediglich eine Doppeldeutigkeit der englischen Sprache wieder, die von „enshrined“ – je nach Assoziationskontext wahlweise in einer Vitrine oder einem Sarg aufbewahrten – Grundwerten spricht, auch hier sind die überlebenswichtigen Wertungen sprachlich ausgeblendet. Ein Nachäffen der fremden Werteambivalenz könnte im besten Fall als Geste bewusster Ohnmacht gewertet werden. Das liegt auch dadurch nahe dass der Fachwortschatz für den gesuchten Begriff eine passende Vokabel bereitstellt: Ein Rechtsgut das durch keinerlei unsittliche Berührung zu beeinträchtigen ist darf „unanfechtbar“ genannt werden. Doch die Besatzungsmacht wies den Wortlaut anscheinend mit der Auflage ab sich etwas anderes auszudenken, und das Ergebnis war „unantastbar.“

Freilich ist im Fall Deutschland wohl eher von vorauseilendem Gehorsam auszugehen und der richtige Ausdruck wurde erst gar nicht versucht. Die Gelegenheit die Menschenwürde mit einem selbstbestimmten Werturteil zu stärken wurde völlig verfehlt, und wer die Wendung so auffassen wollte dass den Menschen kein Haar gekrümmt werden darf sieht sich arglistig getäuscht. So pflanzt sich denn auch diese Wertlosigkeit der Realitätsauffassung in die darum herum angeordneten Konzepte fort: Wenn dort etwa von „Schutz“ die Rede ist, so ist dieses im Sinne der faschistischen „Schutzhaft“ zu verstehen, wo der Staat die Gefangenen buchstäblich vor sich selber schützte: In dem Zeitfenster zwischen der faschistischen Ermächtigung und dem Aufbau des Konzentrationslagersystems, als politisch Verfolgte die von der gewöhnlichen Polizei inhaftiert wurden dadurch davor „geschützt“ waren den neu ermächtigten Spezialeinheiten in die Hände zu fallen – ein tatsächlicher „Schutz“ allerdings nur wenn die Betroffenen, so sie sich nicht selbst vor der „Schutzhaft“ schützten konnten, freigelassen wurden und entkommen konnten bevor das faschistische System alle vorhanden Institutionen vollständig verschlungen hatte. Deswegen definiert sich auch solch ein sinnentfremdetes Wortungetüm wie „Verfassungsschutz“ bis heute als angeblich „kleineres Übel,“ anstatt als Fähigkeit der Verfassung sich gegen Deutungskurzschlüsse wie oben geschildert zu schützen.

Unantastbar im Sinne eines von seinem Gebrauchswert abstrahierten Museumsstücks ist dabei jedoch nicht einmal die Menschenwürde selbst sondern stattdessen der hier sichtlich mafiös eingefärbte Begriff des „Schutzes.“ Zur Auslassung von Werturteilen gibt es immerhin ein Verfassungsgerichtsurteil, das angesichts von gesellschaftlichem Wertewandel und wertlosen Verfassungsdefinitionen behauptet, sittlich im gesetzlichen Sinn sei was dem Konsens der beiden größten Kirchen entspräche. Mit dieser Argumentation wurde der von den Nazis geerbte „Paragraph 175“ behalten bis sich die kirchlichen Auffassungen geändert hatten. Die faschistische Kontinuität ist kein Blümchenmalen im Vakuum sondern eine reale Eigenschaft der Verfassungspflege, ja selbst von einer Kontinuität der Repressalien nach der Abschaffung im Kontext anderweitiger Verfolgung ist nach derzeitigem Stand der Forschung auszugehen. Die „Unantastbarkeit der Menschenwürde“ (wenn schon nicht von ihrer Unanfechtbarkeit die Rede ist, also davon dass sie für jedwede gesetzliche Gewalt unverletzlich ist) hat sich von der Veränderung der Auffassung nicht berührt gesehen, und den besagten Paragraphen nicht eher als falsch ausgesondert als dies in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung errungen wurde. Von einem funktionierenden „Schutz der Verfassung“ gegen menschenunwürdige Instrumentalisierungen kann daher nicht die Rede sein, jahrzehntelang war es unter diesem Wortlaut ganz offen möglich der Menschenwürde zu nahe zu treten, ohne dass dagegen ein Schutz wirksam geworden wäre, nicht einmal nach der förmlichen Abschaffung.

Das Beispiel zeigt woran das System der zusammenhangslosen Sprachbasteleien krankt: Indem eine Staatsverfassung ihren Inhalt der Sprache der Menschen entzieht und sich eigenen Ausdruck verschafft, entfremdet sie sich in einem Maße von der gesellschaftlichen Realität dass bei naiveren Gemütern der paradoxe Anschein einer Objektenteilung entsteht – der Gegenstand der Bezeichnung entgeht buchstäblich der Auffassung des darauf angelegten Begriffs und bleibt daher in entscheidender Hinsicht unbestimmt. Manchmal hilft es einfach ein Stückchen weiter zu lesen um Unklarheiten auszuräumen. So könnte es auch für die Berliner Staatsverfassung sein, was mit „Unantastbarkeit“ in allen Wertungsimplikationen gemeint sein könnte ließe sich aus der Formulierung von der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ ableiten. Wer das formuliert hat scheint nicht ein lebloses Museumsstück vor Augen gehabt zu haben, sondern lebende Botanik: Welche Folgen es hat eine sich entfaltende Blüte anzutasten, womöglich gar in der grotesk-autoritären Absicht damit den Vorgang voranzubringen, weiß jedes Kind: Das zerpflückte Gebilde wird sich gar nicht mehr entfalten weil seine Selbstorganisationsfähigkeit nicht respektiert wurde. Kein natürliches Tier käme auf die Idee, mit derart ungeeigneten Mitteln einen solchen Zweck erreichen zu wollen. Die Knospe ist nicht deswegen nicht anzufassen wie sie minderwertig wäre sondern weil sie höherwertig ist, das Mittel der Manipulation ist zum Zweck „blühender Landschaften“ vollkommen ungeeignet.

Nur was versteht das einzelne Macht-Tier der Staatsgewalt deren viele sich der numerisch-abstrakte „Volkssouverän“ an der Leine der Staatsverfassung hält, von Botanik? Nichts, oder genauer: Weniger als nichts, denn während das Haustier die Pflanze ignoriert die es nicht berührt, unterliegt der in diese Metapher gefasste Staat einer Ideologisierung welche verzweifelt versucht aus Motiven parasitärer Sinnabschöpfung etwa den Begriff des Schutzes als etwas anderes als eine Reihe eigener Unterlassungshandlungen zu definieren. Hier gleicht eine sprachlich unausgereifte Verfassung einer Leine die nicht dafür geschaffen ist dass das Tier versuchen könnte sich loszureißen – in diesem Fall ist die des Souveräns entbundene Staatsgewalt sogar schlimmer als irgendeine beliebige Gewalt, so wie das der Souveränität entrissene Macht-Tier problematischer ist als ein lediglich wildes Tier welches diese Prägungen nicht hat. Bemerkenswert – im Sinne der Einsteinschen Zwillinge – ist darin allenfalls dass die Konfiguration – die pädagogisch unsaubere Vermengung von Verachtung und Achtung im selben Begriff – einem unbeeinträchtigten Aufblühen des Gegenstands dieses Begriffs schon aus Gründen logischer Stringenz gar nicht dienlich sein kann.

Doch so weit in den Text ist der Sinn des „verfassungsmäßigen Alphatiers“ gar nicht vorgedrungen, was schert es die Botanik und der Sinngehalt, was soll der Hundeführer denn sonst rufen? Das ist natürlich keine in die geschilderte Situation passende Frage, aber dennoch gibt es darauf eine Antwort: Er muss sein Tier auf sich aufmerksam machen können ohne seinen persönlichen Wiedererkennungseffekt daraus zu schöpfen einander wesensfremde Situationen miteinander zu assoziieren. Denn schon die bloße Möglichkeit derartiger „verfassungsmäßiger“ Kurzschlüsse, selbst wenn sie an späterer Stelle wieder ausgeräumt werden, bietet die Voraussetzung zu organisierten Wortverdrehungen bis hin zum Wortbruch wie sie die bisherige Laufbahn der Berliner Staatsverfassung pflastern.

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Zusatzbemerkung: Für den Fall der Nachfrage nach einem prägnanten Fallbeispiel wie sich der Geburtsfehler der Berliner Staatsverfassung in einer verschlechterten Lebensqualität bemerkbar macht. Beispielsweise postuliert dieses Dokument einen „besonderen Schutz“ der Familie. Das wird jedoch nicht als Immunität gegen Repressalien aufgefasst obwohl es Gesetze gibt die das nahelegen, sondern als Vorwand deren Interesse als Vehikel für die Staatsideologie zu instrumentalisieren. Diese Absurdität erreicht, etwa in Form der sozialkonservativen Rentengesetzgebung, das Stadium dass der nominelle Zweck von der ideologischen Erwartung in den Schatten gestellt wird, also in diesem Fall die Rentenordnung umgestellt wird ohne damit einen tatsächlich erleichterten Zugang zu erreichen, im Gegenteil er wird noch unübersichtlicher, und was den Leuten sowieso zusteht muss immer öfter aus anderen Töpfen, welche auch immer gerade irgendwie offenstehen, querfinanziert werden. Früher hätte man dazu gesagt, der Berg kreißte und gebar eine Maus, um das Missverhältnis von Aufwand und Nutzen zu karikieren.

Vielleicht gibt es dabei ein paar Lotteriegewinner für die sich die Ausschüttung ein bisschen erhöht, und die sich demzufolge mit der unwürdigen Erwartung konfrontiert sehen sich dafür vor der Ideologisierung niederzuwerfen. Doch auch für die gilt: Die vom hohlen Spektakel abgefallenen Privilegien sind durch allgemein höhere Belastungen schnell wieder aufgefressen: Was nützt eine scheinbare Senkung des Rentenalters wenn ein eskalierte Arbeitsbelastung ohnehin dafür sorgt dass auch der Schlaganfall früher kommt? Realistisch betrachtet ist das erbärmliche demokratische Rentengefeilsche nichts weiter als ein Ausdruck gehäuft auftretender Zivilisationskrankheiten. Das macht die „familienpolitische“ Ideologisierung um so schlimmer denn die Umgestaltung verschleiert die Symptome ohne die Ursachen zu beseitigen. Im Endeffekt trägt die politisch misslungene Rentenumstellung also so wenig zum „Schutz der Familie“ bei wie Jodsalz zum Strahlenschutz, und erzeugt lediglich intensive Komplikationen im Belastungsfall – ganz ohne Zweifel wäre es hirnverbrannt und herzlos der parasitären Sinnabschöpfung derart Raum zu geben. Die menschenunwürdige Berliner Staatsverfassung jedoch ermöglicht und ermächtigt dies durch verfehlte Begrifflichkeiten denen der Gegenstand ihrer Darstellung enteilt.

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