Seit dem 1. Februar 2014 wiederholt sich in Stuttgart monatlich ein beängstigendes Schauspiel mit Teilnehmern aus allen Bereichen der Gesellschaft: Eine Allianz aus christlich-fundamentalistischen Kräften, homophoben, rechtspopulistischen und offen rechten Organisationen sowie etablierten konservativen Parteien und Einzelpersonen führt regelmäßig eine Demonstration durch die Stuttgarter Innenstadt durch.
Offizieller
Anlass ist der Entwurf eines neuen Bildungsplanes der grün-roten
Landesregierung, in dem bis nach der zweiten Demonstration im März
folgender Abschnitt zu lesen war:
„Schülerinnen und
Schüler kennen die verschiedenen Formen des Zusammenlebens von/mit
LSBTTI-Menschen und reflektieren die Begegnungen in einer sich
wandelnden, globalisierten Welt.
klassische Familien, Regenbogenfamilien, Single, Paarbeziehung, Patchworkfamilien, Ein-Eltern-Familien, Großfamilien, Wahlfamilien ohne verwandtschaftliche Bande;
schwule, lesbische, transgender und soweit bekannt intersexueller Kultur (Musik, Bildende Kunst, Literatur, Filmschaffen, Theater und neue Medien) und Begegnungsstätten (soziale Netzwerke, Vereine, politische Gruppen, Parteien).“
Der
Realschullehrer und Prädikant der evangelischen Landeskirche,
Gabriel Stängle, startete eine Online-Petition gegen diesen Entwurf.
Eine erste Fassung der Petition wurde von dem Betreiber der Webseite
wegen Verstoßes gegen die Nutzungsbedingungen nicht zugelassen und
daraufhin überarbeitet. Die Petition wurde recht schnell von der
Evangelischen Allianz in
Deutschland, dem
baden-württembergischen Landesverband der Alternative
für Deutschland (AfD) und
dem rechtpopulistischen Blog Politically
Incorrect (PI News)
unterstützt und beworben. Laut dem Spiegel
soll Initiator Stängle die meisten Stimmen für die Petition über
PI News
und eine Unterstützerseite eines Mitgliedes der christlichen
Prisma-Gemeinschaft
gesammelt haben. Insgesamt wurden über 190.000 Unterschriften
gesammelt, was die Wichtigkeit der Thematik abermals verdeutlicht.
Die NPD
und die Konservative
Aktion Stuttgart
riefen ihre Mitglieder zur Teilnahme auf und unterstützten jede der
bisherigen Demonstrationen. Auf unterschiedlichen gesellschaftlichen
Ebenen (Kirche, Medien, Politik) und mit unterschiedlichen Mitteln
(Petition, Demonstration, Übertreibung, Verbreitung von Vorurteilen,
Hetze, Medienarbeit,
Internet) wurde Stimmung gemacht.
In
der Online-Petition gegen den Bildungsplan ist gleich zu Beginn eine
Distanzierung zu homophoben und rechten Positionen zu lesen, die aber
angesichts der Demonstrationsteilnehmer nur als Feigenblatt zu nehmen
ist: „Wir unterstützen das Anliegen, Homosexuelle, Bisexuelle,
Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle nicht zu diskriminieren.
Bestehende Diskriminierung soll im Unterricht thematisiert werden.“
(Aus der Online-Petition)
Soweit zur Theorie. In der Praxis
war die erste Demonstration am 01. Februar bereits ein Sammelbecken
vieler reaktionärer bis faschistoider Positionen, von der
Nicht-Gleichwertigkeit zwischen Hetero- und Homosexuellen aufgrund
Gottes Schöpfung, der Darstellung von Nicht-Heterosexualität als
Form einer psychischen Krankheit, dem klassisch-wertkonservativen
Rollenbild bis hin zu islamfeindlichen Vorurteilen. Ein Gemisch aus
rund 500 Personen folgte dem Aufruf der Initiative Besorgte
Eltern Baden-Württemberg.
Sie hielten eine Kundgebung auf dem zentralen Schlossplatz ab und
versuchten ihre oben dargelegten Positionen unter dem Mantel des
Schutzes der Kinder unter die Leute zu bringen.
Auf dem
nahegelegenen Karlsplatz versammelten sich ca. 600 – 1.000
Gegendemonstranten, die sich auf den Schlossplatz bewegten um die
homophobe Kundgebung durch (gleichgeschlechtliches) Küssen, Rufen
und die beginnende Demonstration durch handfestes Blockieren zu
stören. Als sich der Zug in Bewegung setzte wurden immer wieder die
ersten Reihen blockiert oder übernommen, mit Transparenten auf die
Gefährlichkeit der Inhalte hingewiesen und schließlich alles nach
50 Metern von der Polizei gestoppt, da sie nicht in der Lage war die
vor der Demo entstandene Blockade zu räumen. Dennoch wurden etwa 18
Personen eingekesselt und festgenommen. Durch die mangelhafte
Vorbereitung der Polizei war es an diesem Tag noch möglich die
Demonstration zu stoppen und durch die Sichtbarkeit der Proteste
mitten in der Innenstadt das Thema ein wenig bekannt zu
machen.
Orientiert wird sich am französischen „Demo für
alle – manif pour tous“ - Konzept und an deren Symbolik. Dort
gibt es große rechte Bündnisdemonstrationen mit fünfstelliger
Teilnehmerzahl mit homophoben und rassistischen Inhalten, entstanden
sind sie als Protest gegen die geplante Einführung der Homo-Ehe.
Letztendlich führte diese Dynamik zu großen Demonstrationen,
Angriffen gegen Homosexuelle, migrantische und jüdische Menschen.
Als tatsächliche Profiteure gingen über die Zeit die rechten
Organisationen aus der Sache hervor. An diesem Vorbild orientiert
sich auch der Stuttgarter Organisationskreis, was spätestens bei der
dritten Demonstration u.a. durch die verwendeten zentral
hergestellten Schilder mit der Aufschrift „Demo für alle“
überdeutlich wurde.
Bei der zweiten Auflage am 1. März
waren Kundgebung und Demonstration deutlich professionalisiert
worden. Auch die Teilnehmerzahl war auf ca. 800 Personen gestiegen.
Der eigene Demonstrationsschutz aus martialisch wirkenden Männern
bildete mit gelben Warnwesten eine Kette sowohl um Kundgebung als
auch später um die Demonstration. Nachdem mehrere organisierte
Neonazis aus dem Stuttgarter Umland, die trotz Hinweisen auf der
Kundgebung geduldet wurden, aus der Innenstadt vertrieben wurden, zog
die Polizei ihrerseits ein weiteres Spalier um die Veranstaltung.
Die
geplante Route für die Demonstration war voll mit Menschen, die sich
dem Zug in den Weg stellen wollten. Die Polizei setzte in
Koordination mit den Ordnern die Demonstration durch, indem sie die
Protestierenden einmal durch die halbe Innenstadt vor sich her
drückte. Es kam zu über 60 Festnahmen und relativ vielen
Verletzungen bei den Gegendemonstranten. Unter monoton vorgebrachten
Parolen wie „Kinder brauchen Liebe und keinen Sex“ und „Schützt
unsere Kinder“ prozessierten die Homophoben relativ abgeschirmt
nach außen durch die Stadt. Auf ihren Schildern waren Parolen wie
“Kinder haben ein Grundrecht auf Natur, Mama und Papa”, “Stoppt
Pornografie an Schulen”, „Nicht gleichwertig“ oder „Familientod
= Volkstod” zu lesen.
Insgesamt stellte der zweite Auflauf
eine Niederlage für die Gegendemonstranten dar. Nicht nur dass die
Teilnehmerzahl auf der homophoben Demonstration zunahm, die Polizei
mit 4 Hundertschaften, u.a. einer Reiterstaffel, eine effektive
Blockade unmöglich machte und die Teilnehmerzahl der Protestierenden
ein wenig abgenommen hatte, konnten die Homophoben einen Erfolg
erzielen. Durch das Zurückrudern des baden-württembergischen
Ministerpräsidenten Kretschmann bezüglich des Bildungsplans wurden
sie zum Teil als politischer Akteur „Bildungsplangegner“ in der
bürgerlichen Presse anerkannt. Ebenfalls zu beobachten war die
inhaltliche Radikalisierung bei den Homophoben, die Parolen auf den
Schildern bekamen einen immer eindeutig rechteren und teilweise
völkischen Charakter.
Die bis heute letzte Auseinandersetzung
fand am 5. April statt. Im Vorfeld der Demonstration veröffentlichte
unter anderem das Portal queer.de, dass die „Demo für alle“ vom
national und wertkonservativen Flügel der AfD um Beatrix von Storch
und deren Mann über deren Netzwerke initiiert ist. Das Hauptmotiv
scheint der Stimmenfang im christlich-fundamentalistischen Bereich
für die Europawahl zu sein. Wie erwähnt war das Auftreten und die
öffentliche Wirkung in Form von gleichen Schildern und dem Konzept
der rosa und blauen Farben des französischen Demo für alle –
Konzepts seitens der Homophoben weiter verbessert worden. Auch die
Polizei hatte aus den vorangegangenen zwei Konfrontationen gelernt
und hatte mehr als 500 Polizisten zur Sicherung der Homophoben
aufgefahren.
Die Auftaktkundgebung der gefährlichen
Allianzen auf dem Marktplatz wurde zu allen Seiten mit Hamburger
Gittern und Polizei abgeriegelt, Menschen wurden zeitweilig nicht
durchgelassen. Nachdem herausgefunden wurde, dass diesmal eine
größere Runde durch die Innenstadt gedreht werden sollte, kam es zu
mehreren Sitzblockaden, weswegen die Demonstration auf großen
menschenleeren Hauptstraßen laufen musste und nicht durch die
direkte Innenstadt mit einem Straßenfest.
Durch die
vorangegangenen Proteste war es auch in Teilen gelungen über die
gefährlichen Allianzen aufzuklären. So wurde beim begleitenden
Flyer verteilen vor und am Rand der Homophobendemo erstaunlich viel
Zuspruch erhalten und zum Teil wussten die Passanten bereits grob
Bescheid. Auch die Stuttgarter Zeitung sowie der SWR waren durch die
große öffentliche Sichtbarkeit der Auseinandersetzungen gezwungen,
sich zu dem Thema zu verhalten und auf die reaktionären Positionen
der Demonstrierenden einzugehen.
Der bisher letzte
Schlagabtausch kann durchaus als Erfolg gewertet werden, da die
Demonstration ihrer Außenwirkung großteils beraubt wurde und die
danach folgende (mediale) Diskussion sich größtenteils mit den
„Inhalten“ und Merkwürdigkeiten der Homophoben
auseinandersetzte. Dem maßgeblichen Initiator der Gegenproteste, dem
örtlichen Antifaschistischen Aktionsbündnis Stuttgart & Region
(AABS), ist es gelungen die Schlagworte der gefährlichen Allianzen
und die damit verknüpfte tiefere Auseinandersetzung mit der
Problematik der Demonstrationen teilweise in den Mittelpunkt zu
rücken. Damit wurde verhindert, dass entweder gar nicht berichtet
wird oder nur zu flach auf Homophobie eingegangen wird und die
Dimension der Gefährlichkeit eines solchen reaktionären Bündnisses
auf Straßenebene vernachlässigt wird. So waren die bürgerlichen
Medien unter Druck gesetzt auch deutlich mitzuteilen welche
Organisationen und welche Inhalte dort vertreten waren.
Andererseits haben sich die Fraktionsvorsitzenden von CDU und
FDP im Landtag mit Grußwörtern mit der dritten Demonstration
solidarisiert und ihnen damit den Rücken gestärkt. Dies ist die
erste offizielle Beteiligung dieser Parteien an diesen
Demonstrationen und macht es umso dringlicher, diese möglichst
schnell unmöglich zu machen.
Die Initiatoren der Demos wollen
weitermachen, also werden die Auseinandersetzungen weitergehen. Am
Samstag, den 03. Mai soll es zur nächsten Auflage kommen. Um
Informationen auszutauschen (Wer steckt dahinter? Was ist deren
Motiv? Weshalb sind diese Allianzen gefährlich?) und um Konzepte für
die Gegenaktivitäten zu entwickeln lädt das AABS am Sonntag, den
27. April zu einer „Info- und Aktionskonferenz“ um 19 Uhr ins
Linke Zentrum Lilo Herrmann.
Diese regelmäßigen Mobilisierungen bedeuten eine zunehmende Politisierung der christlich-fundamentalistischen und rechtspopulistischen Szene in Stuttgart. Die organisationsübergreifenden Aktivitäten treffen auf Zustimmung in konservativen und klerikalen Kreisen und schaffen Eigendynamiken und Synergieeffekte. Zudem entstehen persönliche Verbindungen und Möglichkeiten für zukünftige Aktionen. Alles in allem genug Gründe, sich dieser beunruhigenden Anfänge zu erwehren und für eine Gesellschaft einzustehen, die keinen Menschen aufgrund von Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft, Religion oder Hautfarbe diskriminiert.